Die Shoa muss als Teil der Geschichte jedem bewusst sein
Das Verhältnis der sich erneuernden Gesellschaft zu den Juden/Interview mit Siegmund Rotstein
Deutsche Mitverantwortung für das Verhältnis zu Juden in Vergangenheit und Gegenwart diplomatische Beziehungen zu Israel, intensive Auseinandersetzung mit Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sind im Prozess der Demokratisierung der DDR keine Randfragen. Zu diesen aktuellen Themen bat ADN den Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Siegmund Rotstein, um seine Meinung, die wir Ihnen nachstehend leicht gekürzt zur Kenntnis geben.
Frage: Ministerpräsident Hans Modrow hat in einem Brief an den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Miles Bronfman, auch die Verantwortung der Deutschen in der DDR für die Judenverfolgung während des Hitlerfaschismus deutlich gemacht. Die Republik werde ihre daraus resultierende Pflicht wahrnehmen. Wie werten Sie das?
Antwort: Ich begrüße dies und sehe dann vor allem den Beginn eines tiefer greifenden Prozesses der Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und ihrer Aufarbeitung überhaupt, besonders im Hinblick auf die Shoa, die gnadenlose Vernichtung des größten Teils der europäischen Juden. Dieser Prozess, der sich mit dem Schicksal der Juden befasst, muss sich im Leben, im Bewusstsein jedes unserer Bürger widerspiegeln. Es geht eigentlich darum, zu begreifen, dass jüdische Geschichte auch ein Teil deutscher Geschichte ist.
Frage: Israels Außenministerium nannte die Inhalte des Modrow-Briefes einen positiven Schritt in die richtige Richtung. Wie sehen Sie die Entwicklung zu diplomatischen Beziehungen zwischen der DDR und Israel?
Antwort: In der klaren Wortwahl des Ministerpräsidenten zur Mitverantwortung sehe ich vor allem die Voraussetzung dafür, dass die schon lange durch die Juden in der DDR ersehnte und angestrebte Normalisierung der Beziehungen beider Staaten in Gang kommt. Weitere Schritte könnten Verhandlungen zu Fragen der Wiedergutmachung sein - wobei den Tod von sechs Millionen Menschen natürlich niemand wiedergutmachen kann. Aber die DDR könnte auf verschiedene Weise einen Beitrag leisten, sei es auf kulturellem oder sozialem Gebiet. Wir, als Verband der Jüdischen Gemeinden, wollen zum Beispiel Kinder aus Israel ab 1991 in unser Sommerferienlager einladen. Wir pflegen auch Beziehungen zum Yad Vashem-Memorial in Jerusalem. Es geht mir einfach darum, dass die ins Auge gefassten staatlichen Beziehungen von vornherein vielseitig mit Leben erfüllt werden. Jeder sollte begreifen, dass ein normales Verhältnis zum Staat Israel im hohen Maße auch eine Frage des moralischen Verhaltens gegenüber dem jüdischen Volke ist.
Frage: Nun gab es zuweilen schlimme Vorkommnisse in unserem Lande. Antisemitismus in der DDR, einem von Antifaschisten gegründeten und geprägten Staat - wie ist das Ihrer Meinung nach möglich?
Antwort: Die in letzter Zeit bei uns sichtbar gewordenen antisemitischen Erscheinungen sind meines Erachtens darauf zurückzuführen, dass die gründliche geistige Auseinandersetzung mit einem unterschwelligen Antisemitismus, der bis heute existiert, einfach fehlte. Hinzu kommt, dass die Leiden und der antifaschistische Kampf der Juden undifferenziert in den Komplex Antifaschismus vereinnahmt oder dabei verflacht wurden. Antisemitische Vorfälle wie Friedhofs- oder Denkmalschändungen wurden in der Vergangenheit kaum der Öffentlichkeit bekanntgemacht. Zwar sind solche Verbrechen auf der Grundlage der Verfassung strengstens bestraft worden, aber ich glaube, allein dabei kann man es nicht bewenden lassen.
Frage: Sehen Sie hier Verpflichtungen für die Parteien und Bewegungen, die sich bei den Wahlen am 18. März um Regierungsverantwortung bemühen?
Antwort: Durchaus. Ich begrüße es, dass sich alle demokratischen Parteien und Vereinigungen zu Antifaschismus und Humanismus bekannt haben, dass sie sich entschieden gegen Antisemitismus und Rassismus wenden. Ich möchte aber betonen, dass Bekenntnis zugleich Handeln verlangt. Verantwortung ist auch künftig nicht nur innenpolitisch wahrzunehmen, sondern zum Beispiel in der Gestaltung der Beziehungen zu Israel oder in der Verpflichtung von internationalem Rang, die Neue Synagoge in Berlin als ein "Centrum Judaicum" zu errichten. Ich gehe davon aus, dass auch die zukünftige Regierung des Landes dazu steht. Im Zusammenhang allen großen europäischen Fragen und mit der darin eingebetteten deutschen Frage kann man diese Aufgabe nicht ausklammern.
Das Interview führte
Klaus Müller
Berliner Allgemeine, Nr. 17, Di. 20.02.1990