Schluss mit dem Monopolsozialismus!

TRIBÜNE sprach mit Prof. Dr. Jürgen Kuczynski, Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftshistoriker

Genosse Kuczynski, beginnen mit einer spekulativen Frage: Was meinen Sie, werden Historiker in 40 Jahren über dieses Jahr 1989 in der DDR sagen?

Die Historiker werden, wenn sie ehrlich sind, eine ganz großartige Beschreibung unseres Volkes und der Masse der Parteimitglieder geben, die eine völlig erstarrte und veraltete Führung der SED gezwungen haben, endlich abzutreten endlich zu erkennen, dass das Volk mündig ist und dass die Masse der Parteimitglieder nicht im Kindergarten-Niveau behandelt werden kann.

Es ist ein ganz bedeutender Abschnitt unserer Geschichte, denn es kommt ja letztlich, wir wir von Marx, Engels und Lenin gelernt haben, auf die Massen an und nicht auf irgendeine Führung.

Wie werden die Historiker in 40 Jahren die vergangenen 40 Jahre, also die Jahre `49 bis `89 einschätzen?

Ich meine, dass sie einschätzen werden, dass wir unter schweren Bedingungen, auch unter den schweren Bedingungen des Stalinismus, der in unserer Partei bis vor wenigen Wochen geherrscht hat, oder den Bedingungen des Bürokratismus und der Administration, Hervorragendes geleistet haben.

Zum Stalinismus. Das Wort ist bis jetzt in keinem Geschichtsbuch verwendet worden.

Nein, in Geschichtsbüchern wohl nicht, aber in meinen Sachen kann man es finden.

Was wäre an der Geschichtsschreibung, die bis jetzt ein sehr glattes Bild vermittelt hat, zu verändern?

Seit Jahren sage ich auf vielen Versammlungen: "Wenn man in 100 Jahren etwas über unser Leben erfahren will, dann wird man unsere Schriftsteller lesen und nicht unsere Gesellschaftswissenschaftler." Und es ist ganz gleich, ob es sich dabei um Schriften der Ökonomen, der Historiker oder von wem auch immer handelt.

Das kann doch aber nicht so bleiben?

Selbstverständlich muss sich das grundlegend ändern. Ich meine, eines der großen Dinge der Zentralkomitee-Tagung in der vorigen Woche war die Rede des Genossen Kurt Hager. Vor 50 Jahren waren wir gute Freunde. Da war er mutig und kühn in der Analyse und kritisch. Vor 50 Jahren hab' ich ihm gesagt: "Du wirst mal Mitglied unseres Politbüros werden." Und leider ist er es geworden. Da war er aber schon sehr verändert.

Doch seine Rede war wirklich gut. Kein anderes Politbüro-Mitglied hat sich entschlossen zu solch einer Rede. Unter anderem hat er von der völligen Entfernung vom täglichen Leben des Volkes gesprochen. Das trifft 100prozentig zu. Und das gilt zum größten Teil auch für unsere Historiker, jedoch nicht für die Volkskundler. Aber die Volkskundler beschäftigen sich mit dem vergangenen Leben des Volkes und nicht mit dem gegenwärtigen. Wir haben eine ausgezeichnete Studie über die Kneipen um 1900, aber keine über die Kneipen heute.

Noch einmal zu den Historikern. Wie müssen sie herangehen an die Geschichte?

Na, sie müssen das Leben des Volkes untersuchen. In Westdeutschland ist man uns darin weit überlegen. Auch wir haben es irgendwann begriffen, und wir begannen schließlich, darüber zu reden, dass wir es machen müssten. Aber es ist viel zu wenig herausgekommen dabei. Das hat mich auch veranlasst, die fünfbändige "Geschichte des Alltags des deutschen Volkes" zu schreiben. Und glaubst du, die ist irgendwo vernünftig besprochen worden bei uns?

Sicher, weil sie zu einer Zeit auf den Büchermarkt kam, als unsere Historiker noch die Geschichte von Beschlüssen und nicht die des Volkes aufgeschrieben haben.

Ja, aber die Tatsache, dass die "Geschichte des Alltags des deutschen Volkes" ausverkauft ist, zeigt doch, wie das Volk auf vernünftige Geschichtsschreibung reagiert.

Oder nehmen wir meinen "Dialog mit dem Urenkel". Kaum war er erschienen, eilte Konrad Neumann, damals Politbüromitglied und 1. Sekretär der Berliner SED Bezirksleitung, an die Humboldt-Universität und sagte vor den Studenten: "Das ist das republikfeindlichste Buch, das bei uns je erschienen ist." Aber Ende Honecker hat`s gerettet, obgleich er in diesem Buch in einer spezifischen Arbeit im Politbüro angegriffen wird, indem ich nämlich sage, wie kümmerlich das "Neue Deutschland" ist.

Man mag denken über den Genossen Honecker, wie man will - es gibt sehr viel Negatives, aber es gibt auch großartige positive Seiten, die er gehabt hat. Ich habe in meinem Leben viele Parteiführer kennengelernt, bürgerliche, sozialdemokratische, kommunistische. Aber keinen, der so souverän war, dass er ein Buch, in dem er in seiner persönlichen Arbeit angegriffen wird, immer wieder gefördert hat. Jetzt haben wir 260 000 Exemplare restlos verkauft.

Noch bis zum vorigen Jahr sprachen wir davon, dass es in unserer Geschichtsschreibung keine weißen Flecken gibt . . .

Das ist einfach grotesk, wirklich grotesk. Nimm zum Beispiel diesen unglaublichen Artikel von Hanna Wolf im "Neuen Deutschland" vom 6./7. Mai 1989. Sie sagt darin, bei allen Fehlern, die wir gemacht haben, war die Partei immer auf der richtigen Seite der Barrikade. Das trifft meiner Ansicht nach zu, aber nicht für die Parteiführung. Im Oktober 1939 hat der Walter Ulbricht einen Artikel geschrieben, dass Hitler einen Verteidigungskrieg gegen den Angriffskrieg von Frankreich und England führt. Das heißt, er hat erklärt, dass Hitler einen gerechten Krieg führt. Dieser Artikel ist veröffentlicht worden.

Kein Genosse in Deutschland hat auch nur ein Tausendstel dieser Linie überlegt, geschweige denn angenommen. In England habe ich dafür gesorgt, dass wir der Linie der englischen Kommunisten, das war die Linie der Komintern: Auf beiden Seiten ein ungerechte, imperialistischer Krieg. Hanne Wolf hat diese Wendung in Moskau selbst erlebt, doch heute kein Wort davon.

Das ist ein weißer Fleck . . .

Ach, wie viele weiße Flecken gibt es Der Stalinismus ist schon genannt worden. Wie ist unsere Partei stalinistisch geblieben. Es gab zwar nicht die schlimmen Verbrechen wie in anderen Ländern, aber der ganze Parteiaufbau. Von oben wurde die Linie bestimmt, ohne Diskussion mit unten wurde zugestimmt. Das Zentralkomitee war eine lächerliche Institution.

Der Genosse Aurich hat erklärt, er ist vorn Politbüro betrogen worden und hat auf Grund der Autorität den Berichten des Politbüro zugestimmt. Er hat überhaupt nicht begriffen, dass das Politbüro dem Zentralkomitee untergeordnet ist. Was für ihn als eine Entschuldigung erscheint, ist in der Tat das Bekenntnis, zu einer Pflichtverletzung. Das ist Denken aus der Zeit des Stalinismus.

Lenin hätte jede Organisation, die operative Beschlüsse einstimmig fasst, auseinandergejagt, weil sie entweder aus Dummköpfen bestünde oder aus Feiglingen. Denn wenn intelligente Menschen darüber beraten, wie man etwas besser macht, muss es doch Meinungsverschiedenheiten geben. Darum die Leninsche Linie: Mehrheitsbeschlüsse, die von allen diszipliniert durchgeführt werden.

Für den Nichteingeweihten taucht nun erstmals seit langen Jahren der Name Walter Janka auf. Das war ja auch so wein Fleck.

Ja, gleichzeitig soll man an die Behauptung der Parteiführung denken, alle seien rehabilitiert worden. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Ich brauche nur an meinen alten Freund Lex Ende zu denken, der in die Wismut-Bergwerke geschickt wurde und da zugrunde ging.

Wer war Lex Ende?

Lex Ende war vor 1933 Herausgeber der "Roten Post". Von den Nazis wurde er ins KZ geworfen, konnte fliehen und arbeitete in der französischen Widerstandsbewegung mit. Nach der Befreiung war er mit mir zusammen in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft. Er gab den "Freien Bauern" heraus und war ab 1946 Chefredakteur des "Neuen Deutschlands". Ein hervorragender Redakteur. Im Zusammenhang mit den Anschuldigungen, die Anfang der 50er Jahre gegen ehemalige Emigranten, die in kapitalistischen Ländern im Exil waren, erhoben wurden, verschwand er in der Wismut.

Um solche weißen Flecken mit Konturen und Farben au versehen, haben DDR-Historiker in der Zukunft eine große Aufgabe . . .

Gewiss. Noch ein anderes Beispiel: Auf Grund eines Tipps von mir hat die "Weltbühne" eine wundervolle Formulierung von Lenin auf dem III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale gebracht. Lenin sagt dort: "Wer sich scheut, die eigenen Fehler zu kritisieren, weil das dem Feinde nutzen könnte, der ist kein Revolutionär."

Aber was die Zeitschrift ausgelassen hat, ist, dass vorher der Genosse Thälmann über den Märzaufstand gesprochen und sich empört hat über Clara Zetkin und andere in der Partei, die öffentlich die möglichen Fehler, die dabei gemacht wurden, diskutiert haben. Das heißt, die Leninsche Äußerung richtet sich gegen den Genossen Thälmann. Ich hab' mir jetzt noch einmal unsere große Thälmann-Biographie angesehen. Da ist ein ausführlicher Bericht, auch über Schwächen Thälmanns auf dem III. Komintern-Kongress - aber kein Wort über diese Äußerung Lenins.

Ich denke, die große Zahl von Ausreisenden in den letzten Monaten ist auch ein Ausdruck von Geschichtslosigkeit, ein Ausdruck dessen, dass Geschichte nicht bewusstseinsentwickelnd gewirkt hat.

Nein, das ist einfach der Grund, weil die Menschen als unmündig betrachtet wurden, bürokratisiert wurden. Die Bürokratie ist sehr schlimm.

Im 10. Band der Briefe von Lenin sind seine letzten abgedruckt. Lenin ist schwer krank. Er ist unbeherrscht. Sein letzter Kampf gilt der Bürokratie, die sich im Sowjetrussland herauszubilden scheint. Da verlangt Lenin, dass Bürokraten erschossen werden. Das ist das wundervoll-tragische Ende Lenins: Auf der einen Seite der letzte Kampf gegen die entscheidende Schwäche des Sozialismus, die Bürokratie, und auf der anderen Seite die Krankheit, die sogar so weit geht, dass er die Erschießung von Bürokraten verlangt. Eine der großartigsten Geschichten der Menschheit.

Wie also müsste Geschichte heute vermittelt werden?

Na, realistisch! So wie die Geschichte war, mit allen Mängeln und Schwächen. Und nicht feige. Kurt Hager hat sich der Feigheit angeklagt. Die Feigheit ist ganz fürchterlich.

Die Flucht beispielsweise hat das Politbüro dem bösen Handeln des Feindes zugeschrieben. Wir haben überhaupt immer eine rein defensive Haltung dem Feind gegenüber. Da gibt e keine Fehlerdiskussion - sie könnte dem Feind nützen. Aber wir haben keine Ahnung, was diese Fehlerdiskussion uns nützen könnte.

Das heißt, die Geschichte müsste lebensnaher, widersprüchlicher, differenzierter geschrieben werden?

Selbstverständlich. Und dabei sollten wir ruhig von den linken bürgerlichen Historikern eine ganze Menge lernen. Man sollte überhaupt die linke Bourgeoisie nicht unterschätzen. Bereits elf Tage nachdem die erste Atombombe abgeworfen wurde, erschien in der linksbürgerlichen liberalen Zeitschrift "The Nation" ein Leitartikel unter der Überschrift "Eine Welt oder keine Welt". Und 1950 hat Bertrand Russel, der große englische Naturwissenschaftler und Philosoph, geschrieben: Co-Existence or No Exstence, Koexistenz oder keine Existenz. Und wir haben in den Jahrzehnten in unseren Schulen, genau wie im Westen, gelehrt, wir könnten den Nuklearkrieg gewinnen.

Apropos Schulen. Auch hier bedarf es eines ganz neuen Geschichtsunterrichts?

Auf jeden Fall. Ich bin froh, dass wir jetzt den Staatsbürgerkunde-Unterricht einfach vom Lehrbuch getrennt haben.

Es bleibt also zu hoffen, dass die Historiker jetzt anfangen, Geschichte neu zu schreiben. Ich bedanke mich für das Gespräch.

Dieter Fuchs

Jürgen Kuczynski wurde am 17. September 1904 in Elberfeld geboren. Der Wirtschaftswissenschaftler und Historiker beschäftigt sich besonders mit Forschungen zur Entwicklung des Imperialismus. Seine umfangreichste Publikation ist die 40bändige "Geschichte der Lage der Arbeiter im Kapitalismus". Aber auch zu vielen anderen Fragen des gesellschaftlichen Lebens hat sich Jürgen Kuczynski In zahllosen Veröffentlichungen geäußert.

Tribüne, Organ des Bundesvorstandes des FDGB, Nr. 227, Fr. 17.11.1989


Verehrter Genosse
Jürgen Kuczynski!

Deine Interviews für die BZ und die Tribüne habe ich gelesen. Was ich absolut nicht verstehe, ist, warum Du in einem Artikel auf Bitten von Erich Honecker einen Satz gestrichen hast. Was hat Dich geschreckt? Die Autorität des Generalsekretärs? War es Eitelkeit, weil er Deine Artikel - wenn sie den Kapitalismus betrafen - immer sofort ins ND lancierte? Oder war es auch die eigene Angst vor dem Volk, das eigentlich immer froh war, dass die Lebensmittelmarken 1958 abgeschafft wurden?

Bist Du Deiner Parteipflicht nicht nachgekommen? Warum nicht? Worum erst jetzt in dieser Frage Glasnost? Warst Du bislang in Bezug auf Honecker harmlos oder brav? Da Du mich (ich bekenne mich, der Autor Deiner Zitate zu sein!) so charakterisierst, mir Verletzung der Parteipflicht vorwirfst und gleich folgerst, dass ich nicht ins Zentralkomitee gehöre, schreibe ich Dir.

Hast Du mir früher schon einmal Deine freundliche Aufmerksamkeit geschenkt? Oder siehst Du auch so herablassend auf diejenigen herab, die mit ihren Mitteln um die Erneuerung gerungen haben? Ich gestehe, Erich Honecker, der die FDJ mitgegründet hat, war für mich eine "Autorität". Ich war sehr "gläubig" und "diszipliniert".

Du kennst selbst die Berichte des Politbüros seit Jahren. Ich habe von Dir im ND außer wenigen glorifizierenden Beiträgen über die Klugheit der Entscheidungen der Partei unter Genossen Honecker nie eine direkte kritische Meinung gelesen. Wahrscheinlich ist sie ebenso in Panzerschränken verschwunden wie die Materialien der FDJ, die ich nicht selten im quälenden Zwiespalt zwischen Linie und Lage ausarbeitete und vertrat, sicher nicht konsequent genug.

Ich frage mich aber heute, was es sollte, dass Du - eine historische und wissenschaftliche "Autorität" unseres Landes - Deine Artikel oft mit Honecker-Zitaten spicktest. Trotz dieser jetzigen Wendigkeit unterstelle ich Dir auch nicht "stalinistisches Denken" oder "altes Denken", zu dem Du Dich doch vor einiger Zeit im ND bekanntest.

Ich würde für Dich stimmen, wenn Du für das ZK kandidieren würdest, auch trotz oder wegen Deines Alters.

Ich hoffe, der bevorstehende Parteitag hält nicht nur die Kommunisten für fähig, Verantwortung zu tragen, die nach dem 18. Oktober dieses Jahres geboren sind.

Freundschaft
Ein Urenkel, noch in der FDJ
Eberhard Aurich
Mitglied des ZK der SED

Junge Welt, Do. 23.11.1989

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