Im Gespräch mit Wjatscheslaw Kotschemassow, UdSSR-Botschafter in der DDR

"Wir haben das als Wahl des Volkes akzeptiert"

Am heutigen 8. Mai jährt sich zum 45. Mai der Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus. Dessen wollen wir uns achtungsvoll erinnern. Herr Botschafter, am vorletzten Wochenende weilte der neue DDR-Regierungschef in Moskau. Nach den Gesprächen mit Gorbatschow erklärte de Maizière, der Prozess der deutschen Vereinigung sei nun eher leichter als schwieriger geworden. Wie betrachten Sie den Weg der DDR in ein vereinigtes Deutschland?

Wir schätzen das Treffen zwischen Ihrem Ministerpräsidenten und der sowjetischen Führung sehr hoch ein. Es wurde eine breite Palette von Problemen besprochen, die - wie die Diplomaten sagen - von beiderseitigen Interesse waren. Manchmal steckt hinter dieses Floskel der Unwille, das Wesen der Gespräche aufzudecken. In diesem Falle haben wir nichts zu verschleiern Eine Schlüsselrolle spielte die bevorstehende Vereinigung, angesprochen wurden die künftigen Beziehungen zwischen UdSSR und DDR, ihre Aussichten und Perspektiven.

Im Gespräch mit Ministerpräsident Ryshkow wurden vor allem Fragen der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit erörtert. Beide Politiker sind davon ausgegangen, den gegenwärtig hohen Umfang der Zusammenarbeit zu erhalten und gar zu erweitern, keinesfalls zu reduzieren.

Wie kommt die DDR derzeit ihren Verpflichtungen zum Export in die UdSSR nach?

Ausfälle gibt es auf beiden Seiten. Im Maschinenbau, der chemischen Industrie und der verarbeitenden Industrie, wo seitens der DDR bestimmte Positionen nicht eingehalten wurden. Was das Jahr 1990 betrifft, sieht es nicht so schlecht aus, wie man denken könnte. Wir müssen nach vorn sehen. Wir stehen vor einer neuen Etappe, die gründlich vorbereitet sein will.

Die Sowjetunion ist seit langem für die DDR der Hauptlieferant von wichtigen Rohstoffen. Ohne sie könnte die Wirtschaft der DDR nicht normal funktionieren, und nach wie vor erfüllen wir, trotz vieler eigener Probleme, alle Rohstoffverpflichtungen.

Wir haben Verständnis für die komplizierte Lage, in der die DDR-Wirtschaft momentan steckt. Wir glauben, dass sie aus diesem Prozess effektiver und leistungsstärker hervorgehen wird.

Am Wochenende begannen die 2 + 4-Gespräche. Deren Bedeutung leuchtet auch dem "normal" interessierten Bürger ein. Es ist allerdings ziemlich schwierig, hinter die verschiedenen Vorschläge und Varianten zu steigen. Wie kompromissbereit kann die Sowjetunion in den Verhandlungen operieren, ohne ihre berechtigten Interessen und die anderer Staaten aufzugeben?

Man muss hier berücksichtigen, dass die Sowjetunion den Deutschen niemals das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen hat. So schlugen wir in den 50er Jahren zweimal die Schaffung einer Konföderation beider deutscher Staaten vor. Diese Vorschläge fanden auf westlicher Seite kein Gehör.

Die weitere Entwicklung hat vieles geändert zwischen beiden deutschen Staaten und im gesamteuropäischen Rahmen. Die prinzipielle Frage besteht heute darin, wie das vereinigte Deutschland aussehen soll.

Sie haben die Frage gestellt, ob wir kompromissbereit sind. Warum haben Sie nicht die Frage gestellt, ob der Westen kompromissbereit ist?

Wir sind ja beim sowjetischen Botschafter und nicht beim britischen oder US-amerikanischen . . .

Ich verstehe. Dennoch begegnet man dieser Fragestellung sehr selten. Das ist ein prinzipielles Problem. Ist nicht eine besondere Sensibilität der Sowjetunion, die im Krieg fest 26 Millionen Menschenleben verloren hat, zu verstehen? Wir stellen uns ein vereintes Deutschland als einen friedliebenden Staat vor, der in vollem Maße den Erfordernissen der Sicherheit der Völker in Europa und in der ganzen Welt entspricht.

Wir möchten ein vereinigtes Deutschland sehen, das im gemeinsamen europäischen Prozess eingebunden ist. Die Zerstörung des militär-politischen Gleichgewichts kommt nicht in Frage. Ebenso wenig die Aufzwingung inakzeptabler Lösungen. Dazu gehört zum Beispiel die Einbindung des vereinigten Deutschlands in die NATO. Wir könnten doch die Frage anders stellen: Warum könnte dieses Deutschland nicht Mitglied des Warschauer Vertrages sein?

Eine weitere Frage besteht darin, womit dieser Prozess abgeschlossen werden soll. Unsere Position ist, dass - entsprechend dem Potsdamer Abkommen - die beste Lösung der Abschluss eines Friedensvertrages oder eine adäquate Lösung werden kann.

Wann könnten die offensichtlich sehr komplizierten Verhandlungen beendet werden. Im Herbat, im Winter . . .?

Es ist schwer, eine richtige Prognose zu treffen. Wir haben einen hohen Grad der Verständigung darüber gefunden, dass diese deutsche Regelung im Rahmen des KSZE-Prozesses abgeschlossen werden sollte, mit einer Konferenz von Staats- und Regierungschefs, die das endgültig bestätigen soll. Es kann passieren, dass mehrere solcher Treffen erforderlich sind.

Aber: Das sind Treffen im Rahmen 2 + 4 und keinesfalls 1 + 4. Mit anderen Worten: Wir gehen von der Realität des deutschen Einigungsprozesses aus und wollen mit die beste Lösung für diese Frage finden, und zwar im Interesse aller europäischen Staaten. Wir wollen einen Integrationsprozess in den ökonomischen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Beziehungen. Das ist möglich. Doch nur unter einer Bedingung - die militärisch-strategischen Bündnisse sollen umgewandelt werden zu politischen Vereinigungen. Anders gesagt, all das soll einhergehen mit der Reduzierung der konventionellen Streitkräfte. Und hier sind wir dem Erfolg nahe.

Sie haben die vielen Opfer der Völker der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg erwähnt, und wir wollen das Unsere dazu beitragen, dass diese Tatsachen im Gedächtnis der Deutschen wach bleiben . . .

. . . Wir haben natürlich auch die Opfer des deutschen Volkes erwähnt infolge des von den Faschisten entfesselten Krieges. Das deutsche Volk hatte große Opfer, und das soll nicht vergessen werden. Diese Opfer, die unser Volk, das deutsche Volk und andere Völker gebracht haben, sollen uns ständig erinnern, damit das nie wieder passieren kann.

Eine andere Pflicht ist es, die weißen Flecken unserer gemeinsamen Geschichte differenziert und konsequent zu tilgen. Beispielsweise die Schicksale von deutschen Antifaschisten in der Sowjetunion oder Geschehnisse in Internierungslagern nach 1945. Die Veröffentlichungen über letztere haben in der Sowjetunion sensible Reaktionen ausgelöst. Inwieweit gibt es Verständnis und konkrete Unterstützung bei der Aufarbeitung solcher wichtigen Themen?

Die Frage muss man differenziert betrachten. Was das Schicksal der Antifaschisten anbelangt, so haben wir sehr viel gemeinsam getan, um das aufzuklären, was unklar oder völlig unbekannt war.

Aber auch auf dieser Strecke ist noch etliches zu tun. Die Öffnung des Kominternarchivs für ausländische Historiker liegt noch nicht so lange zurück . . .

Ich möchte wiederholen, das viel getan wurde, diese Antifaschisten gebührend zu würdigen.

Die zweite Frage ist die nach den Massengräbern, die in den Medien besonders stark betrachtet wurde. Selbstverständlich, Krieg ist Krieg. Die erwähnten Lager wurden für Naziverbrecher und SS-Verbrecher geschaffen. Dorthin kamen auch andere. Dabei konnte es zu einigen Fehlern kommen. Aber dort gab es keine Verbrechen. Niemand wurde in den Lagern erschossen oder ermordet. Sie starben infolge von Hunger, Krankheiten, Unterernährung.

Wir haben die Veröffentlichungen verfolgt und sind selbst an der Klärung dieser Fragen interessiert.

Doch es fällt auf: Als Presse und Fernsehen, auch westliche, die Bilder von den Massengräbern zeigten, fiel kein einziges Wort zu ähnlichen Massengräbern im Westen. Dabei war die Anzahl der Lager dort um ein mehrfaches höher als in der sowjetischen Zone, dort sind mehr Menschen umgekommen als hier.

Wir haben gehört, dass Sie in Kürze in ihre Heimat zurückkehren werden.

Früher oder später muss man schließlich nach Hause gehen. Die DDR kenne ich sehr lange, bin seit sieben Jahren Botschafter. Ich habe mich an Präsident Gorbatschow mit der Bitte gewandt, meine Tätigkeit als Botschafter hier abzuschließen. Diesem Gesuch wurde entsprochen.

Ich möchte jetzt keine Gefühle zum Ausdruck bringen, vielleicht mit einer Ausnahme: In all diesen Jahren habe ich nach dem Prinzip gelebt: den Interessen der gutnachbarlichen, beiderseits nützlichen Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR zu dienen. Vielleicht ist es mir gelungen, etwas in dieser Hinsicht zu leisten. Dieses Gefühl wird bleiben.

Die jüngste DDR-Geschichte verlief mitunter dramatisch. Es gab von verschiedenen Seiten Spekulationen darüber, dass die Sowjetunion bzw. die Führung ihrer Streitkräfte in der DDR eine chinesische Lösung der Niederschlagung von Massendemonstrationen, speziell in Leipzig, verhindert hat. Können Sie das bestätigen?

Wir haben die Anweisung gegeben, dass alle Streitkräfte in ihren Kasernen verbleiben und sich unter keinen Umständen in die Geschehnisse, komme, was wolle, einmischen. Militärmanöver und das Schießen haben wir untersagt.

Die Geschichte zeigte, dass das richtig war. Diese Linie werden wir auch weiterhin verfolgen. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR. Das Volk muss selbst entscheiden, in welchen Formen und auf welchen Wegen es seine demokratischen Strukturen gestalten will.

Seit einiger Zeit hält sich Erich Honecker in einem sowjetischen Hospital auf. Viele Leser interessiert, ob es für ihn besondere Bedingungen gibt?

Er befindet sich in einem gewöhnlichen Militärhospital, und das ist kein Kurort. Mehr noch: Von vornherein haben wir erklärt, dass die rechtlichen Stellen der DDR - unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes von Erich Honecker - jederzeit mit ihn sprechen können. Wir haben damit einer Bitte sowohl der Regierung der DDR als auch der Familie Honecker entsprochen und uns von humanistischen Überlegungen leiten lassen. Diese humane Einstellung sollte bewahrt bleiben. Das einzige, was mir bekannt ist, er hat medizinische Eingriffe überstanden. Der weitere Verlauf der Genesung ist schwer vorauszusehen. Das ist Sache der Ärzte.

. . . sowjetischer Ärzte?

Ja, ordentliche sowjetische Fachleute. Er besitzt keine Privilegien. Zumindest hat man es mir so berichtet, ich war nicht dort.

Es ist vorstellbar, dass es für Sie besonders kompliziert ist, immerhin kennen Sie Honecker seit mehreren Jahrzehnten . . .

Was heißt persönlich schwierig? Wenn wir die Probleme unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Gefühle betrachten, dann können wir sehr schnell in verschiedene Fehler verfallen. Die entscheidende Rolle spielt letzten Endes das Prinzip, die Position.

Was werden Sie in Moskau machen. Auf der Datsche Memoiren schreiben?

Zunächst: Ich habe nie eine Datsche gehabt und werde keine haben. Ich habe eine große Familie, die sehr wartet.

Also wird aus den Memoiren, die zweifellos großes Interesse finden würden, nichts?

Es gibt mehrere Angebote, aber ich habe mich noch nicht entschieden. Selbstverständlich konnte ich viele interessante Leute kennenlernen habe etwas zum Erinnern. Dafür brauche ich nur Zeit. Zeit und Kraft. Vor allem werde ich zu Hause erst mal Urlaub machen.

Abschließend mochte ich der Bevölkerung und Ihren Lesern beste Grüße übermitteln, ihnen Wohlstand und viel Erfolg wünschen. Wir wissen, dass Ihnen komplizierte Prozesse bevorstehen. Wir möchten, dass die Menschen hier Zuversicht haben und ein hohes Maß an sozialer Geborgenheit besitzen. Unsere Einstellung zu den Prozessen in der DDR ist Ihnen bekannt. Wir haben das als Wahl des Volkes akzeptiert. Und heute gehe ich davon aus: Sie haben ein legitimiertes Parlament, ein Mehrparteiensystem, demokratische Institutionen, die aufgerufen sind, im Interesse des Volkes zu handeln. Die Hauptsache ist, dass die Interessen des Volkes nicht verdrängt werden.

Das Gespräch führten
Thomas Böhm und
Stefan Richter

Biographisches
WjatschesIaw Kotschemassow wurde am 18. September 1918 in der Nähe von Gorki geboren. Von 1942 bis 1955 übte er verschiedene Funktion im Komsomol und in der internationalen antifaschistischen Jugendbewegung aus, absolvierte in Gorki das Institut für Wasserkraft. 1955 trat Wjatscheslaw Kotschemassow in den diplomatischen Dienst ein.

Anfangs im Rang eines Gesandten, versah er diesen Dienst teilweise im Ausland, teilweise in der III. Europäischen Abteilung in Moskau. Von 1962 bis Anfang der 80er Jahre wirkte er als einer der stellvertretenden Ministerpräsidenten der RSFSR. 1983 löste er Botschafter Abrassimow in der DDR ab. In Kürze wird er seine Tätigkeit in der DDR beenden.

Tribüne, Di. 08.05.1990

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