Lüg VATERLAND
Als vor zwei Jahren durch die Medien ging, dass Freya Klier das Land gen Westen verlassen hat, wurde das von vielen, die ihre Hoffnungen auf die unabhängige Friedensbewegung in der DDR gesetzt hatten, als Verrat gedeutet. Wo sehen Sie heute die Ursachen dafür?
Ich verstehe diese Reaktion gut, weil ich Ähnliches selbst erlebte. Ich hörte aus Protest vier Jahre lang keine Lieder von Wolf Biermann, weil es hieß, er habe sich in Hamburg ein tolles Haus gekauft. Aus der Enttäuschung heraus wird man leicht ungerecht, kniet sich gern in Gerüchte.
Noch unserer Ausbürgerung kam die Rufmordkampagne, wieder wurden Gerüchte gestreut, alle stellten sich auf Schnurs Seite, niemand zweifelte an seiner Darstellung der Ereignisse, weil er obendrein als unser Freund galt. Schmerzlich für uns, dass sich die eigenen Leute vor diesen Karren spannen ließen und wir uns nicht mehr wehren konnten, weil wir draußen standen. Erstaunlicherweise wurde auch von der Kirche kolportiert, dass wir alles versucht hätten, um aus dem Land zu kommen. Dabei hätten wir zu jeder Zeit ausreisen können, so groß war das Bedürfnis, uns loszuwerden. Das Angebot der Kirche, für zwei Jahre das Land zu verlassen - sie bekam unsretwegen immer mehr Probleme mit der Stasi - hatten wir vorher bereits abgelehnt, weil unsere Art Kunst nur in der DDR möglich war.
Die Methoden der Stasi waren Ihnen ja nicht unbekannt, wie kam es zu einer solchen Zwangssituation, die Sie diesen Schritt schließlich doch gehen ließ?
Als ich in der Zelle saß und nur das "Neue Deutschland" (ich musste mich hinsetzen, als ich las, dass ich eine Landesverräterin bin), Schnur und die Stasi-Vernehmer hatte, war es für mich glaubhaft, dass draußen der Ausnahmezustand herrscht, es keine Solidarität mehr gibt. Schnur, zu dem wir uneingeschränktes Vertrauen hatten, hielt alle Fäden in den Händen. Er hat an mein Nachgeben schließlich die Freilassung der anderen geknüpft. Stefan wurde von Schnur damit unter Druck gesetzt, dass ich faktisch vor dem Selbstmord stünde. Ich habe Stefan sozusagen als Mittelstück im gordischen Knoten gesehen. Wie Schnur uns in den Westen gewippt hat, begriffen wir erst in Westberlin, als es zu spät war. Wie das im einzelnen ablief, habe ich in meinem Buch "Abreißkalender" beschrieben.
Kürzlich versicherte Rechtsanwalt Schnur im Zweiten Deutschen Fernsehen, dass ihm keiner seiner ehemaligen Mandanten bekannt sei, der sich von ihm betrogen sehe.
Ich habe die Sendung nicht gesehen, wurde danach aber von vielen Leuten angerufen. Schnur war bei unserer Ausbürgerung eine Schlüsselfigur. Ich denke, dass er die Realität auf eine psychopathische Weise verdrängt und einer therapeutischen Unterstützung bedarf. Jemand, der ein solches Vertrauen hatte und es fertigbringt, es derart zu missbrauchen, ist seelisch nicht in Ordnung.
Wann haften Sie zum ersten Mal Verdacht geschöpft, dass Schnur für die Stasi arbeitet?
Wir ahnten es ein halbes Jahr nach unserer Ausbürgerung durch Besuch aus Ostberlin. Folgendes war passiert: Nach einem Konzert bat uns ein Biologe, den das Gewissen plagte, um die Veröffentlichung des Strahlungsmaterials für das Gebiet der DDR nach dem Unglück in Tschernobyl, das im Safe des Forschungsinstituts für Strahlenschutz lag. Ganz konspirativ erfolgte der Austausch, niemand wusste davon. Als Stefan dann verhaftet wurde, hatte er gleich beim ersten Kontakt mit Rechtsanwalt Schnur diesem einen Kassiber, zugesteckt: "Freya soll . . . warnen". Ich habe diese Nachricht nie erhalten. Dafür war am nächsten Tag eine Hausdurchsuchung bei dem Biologen, die mit den Worten eingeleitet wurde: "Herr Krawczyk hat Sie verraten."
Derzeit gibt es in der DDR einige Kassationsverfahren. Ich denke dabei zum Beispiel an die von Vera Wollenberger und Rudolf Bahro. Werden Sie auch Ihren berechtigten Anspruch auf Rehabilitation und Entschädigung geltend machen?
Das ist mir juristisch unwichtig. Von den Leuten, die mich verurteilt haben, möchte ich nicht rehabilitiert werden, weil das für mich keine moralischen Instanzen sind. Ich bin für mich und andere Leute, die mir wichtig sind, rehabilitiert. Wesentlich wichtiger ist mir, weil da auch die Enttäuschung größer war, die Aufarbeitung der Rolle der Kirche, die in unserem Fall keine gute Figur gemacht hat. Zu Staatsorganen hatte ich kein Vertrauen, zur Kirche ja. Deshalb ist mir wichtig, dass die Kirche heute zu Ihrem Vertrauensbruch Stellung nimmt.
Ich finde außerdem, dass es viele Leute gibt, die unrechtmäßig zu schweren Strafen verurteilt wurden, teilweise jahrelang im Knast gesessen haben und über die heute niemand mehr redet. Die sollten rehabilitiert werden, nicht nur ein paar Alibi-Prominente. Allerdings möchte ich meine persönlichen Dinge, die beschlagnahmt wurden, Briefe und Tondokumente, zurück.
In Ihrem Buch "Abreißkalender" beschreiben Sie in Tagebuchform die Jahre vor Ihrer Abschiebung in die BRD. Jetzt ist auch "Lüg Vaterland. Erziehung in der DDR" erschienen. Welche Akzente wollen Sie mit diesem zweiten Buch setzen?
Es ist ein 200-Seiten-Essay um das Thema Sozialismus im historischen Rückblick bis zur Oktoberrevolution. Gab es Sozialismus oder gab es ihn nicht? Eng verbunden damit ist die Frage: Wie haben sich gesellschaftliche Vorgänge auf das Bildungswesen ausgewirkt? Ich beschäftige mich in diesem Buch mit den Entwicklungen des Schulwesens von den frühen Aufbaujahren, in denen es eine Reihe guter Ansätze gab, bis zur Wende in der DDR und stelle in Exkursen die Kinder der Aufbauzeit (also meine Generation) und ihre emotionalen Verankerungen in der Heimat der letzten, durch die SED erzogenen Jugendgeneration gegenüber. In den 70er Jahren zum Beispiel wurden - um den verschlafenen Rückstand in der Mikroelektronik aufzuholen - in der Schule ehemalige Bildungsansprüche gekippt, zum Beispiel die besondere Betreuung von Arbeiterkindern noch weiter zurückgeschraubt. Die bürgerliche Begabungstheorie wurde wiederentdeckt, und Eliteschulen erlebten eine Hochkonjunktur. Vor allem ideologisch wurde der Bildungssektor bis Ende der 80er Jahre immer verschärfter.
Wo sehen Sie den entscheidenden Unterschied zwischen Ihrer Generation und jenen jungen Leuten, die im Sommer 1989 die DDR massenweise verließen?
Es herrschte in den 50er Jahren eine Atmosphäre, in der stalinistischer Terror sich mit Aufbaueuphorie mischte. Die Partei setzte ihre Hoffnung in die neue Kindergeneration und schuf uns eine von der Erwachsenenwelt abweichende Realität: Für uns gab es eine sehr gute Kinderliteratur, Ferienlager, Pionierpaläste. Auch hatten wir damals noch glaubhafte Identifikationsfiguren Dadurch waren wir mit diesem Land emotional viel stärker verbunden als vergleichsweise die letzte Jugendgeneration vor der Wende. Für sie galt es nur noch mitzulatschen. Mit Blick auf das Buch "Lüg Vaterland" habe ich 1986/87 eine geheime Jugendbefragung durchgeführt. Sie fiel katastrophal aus. Die Jugendlichen hatten die DDR bis zur Halskrause satt.
Als noch keiner öffentlich von der deutschen Einheit sprach, wurden Sie auf einer TV-Talk-Show ausgelacht, weil Sie meinten, dass es für die DDR nicht mehr möglich sein wird, einen eigenen Weg zu gehen. Hatten Sie sich damals schon die rasante Fahrt in Richtung deutsche Einheit vorgestellt, wie wir sie zur Zeit erleben?
Nein. Ich bin oft in der DDR und bemerke, dass sich viele Menschen in einer Art Schockzustand befinden, weil ihre gesamte Geschichte, egal wie sie gelaufen ist, ihnen wie ein Teppich unter den Füßen weggezogen wird und sich eine andere Gesellschaftsordnung über sie stülpt. Für viele ist dieses Hin- und Hergerissensein zwischen Angst und Hoffnung nur sehr schwer zu verkraften. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich auch in Interviews, die ich in DDR-Zügen gemacht habe. Es gibt eine große Freude, sich endlich frei bewegen zu können, aber auch die berechtigte Angst vor der Zukunft. Die Einheit wird zum Wechselbad, das auch Ausdruck einer tiefen Identitätskrise ist.
Sie haben in den vergangenen zwei Jahren hauptsächlich als Autorin gearbeitet Wird es ein neues Buch geben und welche Pläne hat die Theaterregisseurin Freya Klier?
Ich bin zur Zeit im Osten und im Westen unterwegs und lese in Schulen und Kultureinrichtungen aus meinen Büchern. Im Westen vor allem, um aufzuklären und neue Feindbilder aufzuweichen, und in der DDR geht es mir vor allem darum, unsere gemeinsame Geschichte aufzuarbeiten. Ich versuche also in beide Richtungen meine Erfahrungen einzubringen. Zum anderen bringe ich gerade im Selbst-Verlag zwei Aufsätze über die Geschichte der DDR-Frauen und die Wurzeln des Rassismus heraus. Außerdem bereite ich eine Inszenierung zum Thema "Die Feste der Deutschen" vor, die ich im Winter im Prenzlauer Berg im Kulturhaus Prater mit jungen Schauspielern aus Ost und West aufführen möchte.
Interview: Heidrun Braun
Die gebürtige Dresdnerin Freya Klier, Jahrgang 1950, war freischaffende Theaterregisseurin in der DDR. Sie gehörte zu jenen, die schon lange vor der Wende laut darüber nachdachten, was sich in der DDR ändern müsste. Unbequem und in ihren Forderungen unnachgiebig, war sie der Staatssicherheit lange genug ein Dorn, im Auge, die die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 zum Anlass nahm, dieses Problem der "Endlösung" zuzuführen. Von ihrem Rechtsanwalt Schnur unter Druck gesetzt, unterschrieben sie und Stefan Krcwczyk in Stasi-Haft ihren Ausreiseantrag. Heute, nach der Maueröffnung, ist es zu Freya Klier nicht weit, nahe am Berliner Spittelmarkt wohnt sie.
Junge Welt, Fr. 20.07.1990