Kirche trägt des anderen Last

Erklärung zur Aufnahme Honeckers / Jeder andere Lebensraum blieb ihm versagt

Probst Dr. Hans-Otto Furian gab im Auftrag des Konsistoriums der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg am Mittwoch [31.01.1990] vor der Presse folgende Erklärung ab:

"Der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Dr. Gottfried Ford, wurde durch Rechtsanwalt Vogel darüber informiert, dass der erkrankte ehemalige Staatsratsvorsitzende Erich Honecker und seine Ehefrau bis Ende Januar 1990 ihr Haus in Wandlitz verlassen müssen und keine Wohnmöglichkeit für sie zu finden sei.

Der Bischof hat dazu den Standpunkt vertreten, dass die künftige Unterbringung des ehemaligen Staatsoberhauptes grundsätzliche Aufgabe des Staates ist. Nur wenn diese Unterbringung wirklich undurchführbar sei, die strafrechtliche Verantwortlichkeit Erich Honeckers geklärt werde, alle Modalitäten einer Unterbringung geregelt seien und ausdrücklich darum gebeten werde, sei der Bischof bereit, die Aufnahme des Ehepaares Honecker In einer kirchlichen Einrichtung zu unterstützen.

Die Kirchenleitung wurde vorn Bischof Informiert und hat am 28. 1. 90 von der Bereitschaft des Leiters einer diakonischen Einrichtung, das Ehepaar Honecker in seinem Pfarrhaus aufzunehmen, zustimmend Kenntnis genommen. Das Ehepaar Honecker nimmt also keinem Antragsteller einen Heimplatz fort.

Am 30. 1. 90 hat die Generalstaatsanwaltschaft die Inhaftierung Honeckers mit Hinweis auf das gesellschaftliche Interesse gefordert. Dagegen haben sich die behandelnden Ärzte sowohl der Charité als auch der Strafvollzugsanstalt Rummelsburg ausgesprochen. Das Stadtgericht Berlin hat daraufhin den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Inhaftierung Honeckers abgelehnt. Nach seiner Entlassung am 30. 1. 1990 um 17 Uhr war Herr Honecker faktisch obdachlos. Er ist angesichts dieser Tatsache in das Pfarrhaus des Leiters einer kirchlichen Einrichtung aufgenommen worden.

Grundsätzlich ist festzuhalten:

1. Die Kirche entzieht Herrn Honecker nicht der irdischen Gerechtigkeit. Viele Menschen haben unter der von Erich Honecker verantworteten Politik Unrechtsmaßnahmen erlitten. Viele haben Infolge dieser Politik das Land verlassen. Darum ist die strafrechtliche Verantwortung Honeckers zu klären.

2. Es ist kein gutes Zeichen für die ehemals führende Partei und ihren Staat, dass sie, die vor einigen Monaten diesem Mann zugejubelt haben, ihm heute den Lebensraum versagen.

3. Die Empörung über die Entscheidung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, z. B. bei ehemaligen Inhaftierten, ist verständlich. Aber wenn es in den vergangenen Jahrzehnten zu Unrechtsmaßnahmen und Menschenrechtsverletzungen durch die Politik der SED gekommen ist, dann doch auch deshalb, weil viele von uns - Christen und Nichtchristen - geschwiegen haben, wo wir das Unrecht nicht hätten hinnehmen dürfen. Die Schuld an der derzeitigen Situation dieses Landes trifft alle. Bei manchen Äußerungen, die heute im Blick auf das Ehepaar Honecker laut werden, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob Sündenböcke gesucht werden, um sich selbst zu entlasten.

Die Evangelische Kirche hat in den vergangenen Jahren versucht, 'Mund der Stummen', der Schwachen zu sein. Zu den neuen Schwaden gehört dieser, vor kurzer Zelt scheinbar noch mächtige, Erich Honecker. Gott hat sich in Jesus Christus für alle geopfert - auch für das Ehepaar Honecker. Wir singen in unseren Gottesdiensten 'Mir ist Erbarmung widerfahren . . .'. Das haben wir zu bezeugen. Kirche muss ihr Wort und ihr Verhalten deutlich machen. 'In der Welt, aber nicht von der Welt'. Du gilt auch dann, wenn wir durch dieses Verhalten nicht den Beifall der Menschen finden."

Der Morgen, Do. 01.02.1990

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