EINE TRAGÖDIE DER DUMMHEIT

Mit dem Dramatiker Heiner Müller sprach René Ammann

FREITAG: Vor einem Jahr ist die Mauer gefallen. Wie betrachten Sie die Ereignisse heute?

MÜLLER: Die Frage kommt natürlich immer, deswegen verfalle ich in tiefes Schweigen, wenn sie zum 180. Mal kommt.

Wo waren Sie damals?

Hier in Berlin. Ich musste aber am Tag danach nach New York. Vorher ging man als Privilegierter immer Richtung Diensteingang mit dem Pass, und jetzt plötzlich waren da Tausende. Es war fast unmöglich, durch diese Menge rechtzeitig zum Flughafen zu kommen. Das war mein erstes Hauptproblem. Der Abbau der Privilegien (lacht).

Wie haben Sie den Tag sonst erlebt?

Ich habe keinen Sekt getrunken. Ich habe es eher mit zwiespältigen Gefühlen erlebt, weil ich glaube, es war zu früh. Man hätte das noch ein bisschen besser vorbereiten können. Die Mauer war ja auch so ein Regulativ zwischen zwei Geschwindigkeiten. Verlangsamung im Osten, man versucht die Geschichte anzuhalten und alles einzufrieren, und diese totale Beschleunigung im Westen, die Schweiz eingeschlossen, auch wenn man das an der Oberfläche nicht so merkt. Und plötzlich ist dies Regulativ weg und es entsteht ein Wirbel, der zunächst ein Schwindelgefühl erzeugt bei den Leuten. Es war einfach ein Schock, weil es überhaupt nicht vorbereitet war. Und dieser Schock hat, glaube ich, sehr viel gekostet. Es war eine chirurgische Variante eines Prozesses, den man wahrscheinlich auch medikamentös hätte behandeln können oder homöopathisch. Aber jetzt ist er chirurgisch passiert, und man muss damit leben.

Wird der deutsche Gebietszuwachs aufhören, oder erwarten Sie, dass die jetzt nicht wiedervereinigten Ostgebiete hinzukommen?

Das ist völlig überflüssig, man kann ja kaufen, man muss nicht politisch besetzen. Auch diese Ängste, die es da gibt in Westeuropa vor den abstrakten Deutschen, ich glaube, die sind übertrieben. Denn dieses Gesamtdeutschland wird schwächer sein, als es die Bundesrepublik war - für lange Zeit, geschwächt durch den Osten. Und es ist auch der Krankheitskeim gelegt. Der Kommunismus hat jetzt keinen Ort mehr, das Reich des Bösen ist weg, man hat kein Feindbild mehr, keinen Feind, aber jetzt wird der Kommunismus ein Virus, wirklich endemisch. Der andere Aspekt ist: Es gab, wenn man diese Kategorien verwenden will, die in Europa üblich sind, zwischen der Ersten und der Dritten Welt eine Zweite Welt. Und die Zweite Welt ist jetzt weg. Jetzt ist die Erste unmittelbar mit der Dritten Welt konfrontiert. Das ist gefährlich. Das hat man ja sofort gesehen im Irak. Das war das nächste Ereignis nach dem Fall der Mauer.

Wird es eine neue Rassismuswelle geben?

Das ist klar. Rassismus hat überall soziale Wurzeln. Wenn die Arbeitsplätze knapp werden, ertönt automatisch: Ausländer raus! Überall, also nicht nur in Deutschland. Der Rassismus ist in Frankreich genauso stark, wird nur nicht so weltweit publiziert. Wenn es in Deutschland ist, gibt es ein globales Interesse dafür, wegen der deutschen Vergangenheit. Aber in England ist Rassismus normal, in Frankreich noch schlimmer, glaube ich, auch in Italien fängt es an, die Schweiz ist sowieso ausländerfeindlich, traditionell, nur wird der Rassismus bei Ihnen bürokratisch, administrativ ausgeübt, nicht so sehr auf der Straße. Aber hier kommt er auf die Straße. Gefährlich kann es nur werden, wenn der Standard der D-Mark gefährdet ist. Weil das die deutsche Identität ist, die einzige: der Standard der D-Mark. Alles andere ist Bier und sind Phrasen. Auch wenn es diesen Bierrausch gibt mit Deutschland, Deutschland. Das spielt im Grunde keine Rolle, außer bei Fußballspielen und beim Kampf um Arbeitsplätze.

Empfinden Sie Bundeskanzler Helmut Kohl als Ihren Landesvater?

Ich empfand noch nie einen Regierungschef als Vater oder Mutter. Das ist mir irgendwie nicht gegeben.

Wie würden Sie mit der Stasi-Vergangenheit einiger Ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger umgehen?

Die Leidenschaft, mit der dies betrieben wird, hat ja auch zu tun mit dem Wunsch, hinter diesen 40 Jahren DDR die zwölf Jahre Faschismus verschwinden zu lassen. Wenn man diese DDR schwarz genug malt, dann deckt sie Auschwitz zu. Das ist ein Trend, etwas überspitzt. Der andere Punkt ist: Man tut jetzt so, als ob die anderen Geheimdienste alle Krankenschwesternverbände wären. Zum Geheimdienst gehört das Verbrechen, das ist berufsbedingt. Und alle Geheimdienste in allen Staaten brauchen kriminelle Energien und setzen sie ein. Eine andere Sache ist die: Am schlimmsten sind diejenigen dran, die aus der Emigration kommen, aus dem Exil. Das war hier das Problem. Jene, die die Macht übernommen haben, oder denen- sie aufgedrückt worden ist von den Russen, kamen in ein Land, aus dem sie vertrieben worden sind, oder kamen aus Zuchthäusern oder aus Konzentrationslagern, hatten nun das Bewusstsein wegen dieser Erfahrung, dass sie in einer feindlichen Bevölkerung- lebten. Und die Angst vor Bewegung von unten, die war schon fast ein biologischer Reflex bei diesen Biographien. Und von da kam dieses paranoische Sicherheitsbedürfnis und der ganze Sicherheitsapparat, der im Grunde völlig uneffektiv war letztlich. Der einzige Produktionszweig, der hier geblüht hat, war die Produktion von Staatsfeinden durch die Staatssicherheit. Die Staatssicherheit hat auch die Voraussetzungen geschaffen für diese Wende - aus der gegenteiligen Absicht. Die Intention war, diese Struktur zu befestigen, zu sichern. Doch sie haben sie immer mehr durchlöchert, zerstört, unsicher gemacht und den Zusammenbruch vorbereitet. Sie haben wenigstens soviel Verdienst am Zusammenbruch der DDR wie die Demonstranten in Leipzig und so weiter und die Leute, die nach Berlin gegangen sind. Es war eine Arbeitsteilung. Die Staatssicherheit und die Staatsfeinde haben gemeinsam den Staat zerstört.

Literarisch verarbeitet wie Christa Wolf in ihrem Buch "Was bleibt" haben Sie die Überwachung nicht.

Jedenfalls nicht so direkt, es hat mich auch nicht besonders berührt oder betroffen. Das Irritierende am Buch von der Wolf ist ja, dass sie so aus allen Wolken fällt. Es war ja das Selbstverständliche, dass man überwacht und kontrolliert wird, sobald man mit dem Westen zu tun hatte und hier lebte. Aber es gibt mit Sicherheit beim Bundesnachrichtendienst auch eine Akte, da steht sicher auch sehr Schönes drin. Ich verstehe das sehr gut: Jeder, der im Gefängnis war, der physisch verfolgt wurde, hat das Recht auf seine Akte. Bloß interessiert mich die Akte gar nicht. Da steht so viel Blödsinn drin.

Was geschieht nach der Vereinigung von ost- und westdeutschen Kulturschaffenden?

Es wird eine Niveausenkung im gesamten Kulturbereich geben.

Weshalb?

Ganz konkret sieht man's jetzt schon. Nicht nur die Ost-Berliner Theater, ich rede gar nicht von den DDR-Theatern, haben Besucherprobleme bis auf ein paar Aufführungen. Auch die West-Berliner Theater haben Besucherprobleme. Ich kann's gar nicht recht begründen, aber der Kampf gegen die DDR-Intellektuellen kommt auch aus der Angst, dass auch die Intellektuellen in der Bundesrepublik nicht mehr so eine große Rolle spielen werden. Sie haben nie eine große Rolle gespielt, aber jetzt noch viel weniger. Aus der DDR kommt eine Welle von Dumpfheit, was politisches Selbstverständnis angeht. Und es ist ganz klar, was diese Bevölkerung hier verarbeitet hat, sind vierzig Jahre Demütigung. Und Demütigung macht nicht klug, die macht dumm. Die erste Reaktion ist eine blinde Aggression. Und überall, wo es Rassismus gab, gab es auch Anti-Intellektualismus. Der Sartre hat den Anti-Semitismus definiert als eine spezifische Form von Anti-Intellektualismus. Und da ist was dran. Und das gilt jetzt auch gegenüber den Intellektuellen in beiden deutschen Staaten. Die waren in Deutschland nie beliebt, das hat mit der Geschichte zu tun, die waren nie auf der Seite der Bevölkerung gegen die Regierung, die waren immer dazwischen, weil es in Deutschland nie eine Gesellschaft gegeben hat, weil es nie eine Revolution gegeben hat, außer vielleicht 1933, das war die erste gelungene deutsche Revolution. Vorher ist keine gelungen und danach bisher auch nicht.

Machten vierzig Jahre DDR die Menschen, wie Sie sagten, wirklich dumm?

Nein, ich meine nur: Die Erfahrung dieser Bevölkerung war nationale Demütigung. Das fing an mit der sowjetischen Besatzung. Das war Terror, eine stalinistische Kolonie. Dazu gab es in keinem osteuropäischen Land eine derart devote Haltung zu allem, was aus der Sowjetunion kam.

Und das wurde widerspruchlos akzeptiert?

Ja, massenweise. Es wurde von der Partei befohlen, rekommandiert. Alles wurde kopiert. Das hörte dann erst auf mit Gorbatschow. Das wollten sie nicht kopieren. Gorbatschow wurde bekämpft und abgelehnt. Dabei wäre das die letzte der drei Chancen der DDR gewesen, sich evolutionär zu verändern. Es gab drei Chancen: 1953, der Aufstand, das war eine Chance zum Dialog, wenn man klug genug gewesen wäre, damit umzugehen; man hat nur repressiv reagiert darauf. Die nächste Chance war 61 der Mauerbau. Ich erinnere mich, ich war gerade in den Proben, ein Stück von mir, es war eine sehr lange Probe mit einer Laiengruppe hier in der Hochschule für Ökonomie. Es fing an vor dem 13. August, glaube ich, und ging bis Oktober. Und wir waren ungeheuer froh über die Mauer. Manfred Krug hat sofort einen Film gemacht, damals zur Mauer, wie ein Arbeiter einer Betriebskampfgruppe ein blondes Mädchen vor der Prostitution in West-Berlin rettet, indem er es noch rechtzeitig auf diese Seite der Mauer bringt. Ein ganz rührendes Werk. Wolf Biermann hat ein Stück geschrieben mit einer ganz ähnlichen Geschichte. Wir fanden alle, dass das das einzig Richtige ist und das einzig Mögliche. Und das war auch die einzige Möglichkeit, die ökonomische Ausblutung der DDR zu verhindern. Und wir dachten: Jetzt ist die Mauer da, jetzt kann man in der DDR über alles offen reden. Zur gleichen Zeit sagte der Sekretär von Ulbricht zu Stephan Hermlin, das hat er mir später erzählt: Jetzt haben wir die Mauer, und daran werden wir jeden zerquetschen, der gegen uns ist. Und wir hatten diese Illusion, dass mit dieser Befestigung eine Gelegenheit zum großen Dialog da ist, was auch Brecht glaubte, nach 1953. Das Ganze ist eine Tragödie der Dummheit, und der Inkompetenz auch. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt da. Das macht's nicht weniger tragisch, aber es macht's eben tragikomisch.

Inzwischen wollen manche die Mauer zurückhaben. Und möglichst noch zwei Meter höher.

Ja. Das verstehe ich sehr gut. Aber im Moment sind das hauptsächlich Leute im Westen, die anfangen, ihr Geld zu zählen und überlegen, wie viel sie das Ganze kosten wird. Es gibt ja Mauern überall. In Holland gibt es einen großen Streit um ein neues Gesetz. Da können Asylbewerber - und die kommen hauptsächlich aus dem Osten oder aus den ehemaligen Kolonien -‚ wenn ihr Antrag abgelehnt wird, dagegen klagen. Aber die Zeit, die das dauert, müssen sie im Gefängnis verbringen. Das ist so ein Beispiel für eine Mauer. Oder die Einreisesperre für sowjetische Juden in der Bundesrepublik. Es wird immer mehr solche Mauern geben.

Bei der Wiedervereinigung ging es praktisch nur um politische oder wirtschaftliche Aspekte, kulturelle wurden kaum berührt.

Sie spielen auch keine Rolle in den nächsten Jahren. Das meine ich ja mit der Niveausenkung. Es spielt auch für die Leute keine so große Rolle. In der DDR haben die Leute zum ersten Mal die Gelegenheit, Filme zu sehen, die sie zuvor nicht sehen durften. Sie können Videos sehen. Das erste, das DDR-Bürger gekauft haben, waren Bananen und Elektronik. Ganz verständlich. Und jetzt sitzen die zu Hause mit ihren Porno-Videos und müssen das erst einmal nachholen, die vierzig Jahre ohne Porno. Das dauert ein paar Jahre, das muss man ihnen auch gönnen.

Porno statt Theater?

Ja, klar. Nach einem Jahr hat man die Nase voll von Pornos, man will nicht mehr so viele sehen, und dann geht man vielleicht wieder ins Theater.

Wie viele davon werden dann noch existieren?

Keine Ahnung. Jetzt sind ja die Länder zuständig, und die haben kein Geld für Kultur.

Literarische Richtungen wie der Bitterfelder Weg, also die Arbeiterliteratur, spielte der vor einem Jahr noch eine Rolle?

Eigentlich nicht. Das war ja auch so eine Phrase. Das Konzept fand ich sehr interessant. Dass Leute, die arbeiten, über ihre Arbeitswelt schreiben, über ihre Erfahrungen. Aber es ist so schnell kanalisiert und zum Kitsch gemacht worden, zur Apologie, dass das gar nicht stattgefunden hat. Die Ideen kamen auch immer zu spät, das gehört auch zu Deutschland. Es kommt immer alles entweder zu früh oder zu spät. Mein Lieblingssatz ist eigentlich, zu den Ereignissen, von Marx ein ganz früher Text: "Die Deutschen erleben die Freiheit immer nur am Tag ihrer Beerdigung."

War es eine bequeme Situation als Intellektueller in der DDR?

Beides. Bequem und unbequem. Es war, wenn man von Konsummaßstäben ausgeht, vielleicht doch sehr unbequem. Der Alltag war jedenfalls sehr unbequem. Philip Rostow, ein amerikanischer Journalist, der war mal in Berlin vor vier, fünf Jahren, hat in Ost- und Westberlin mit vielen Leuten gesprochen. Und wurde gefragt in einem Interview nach dem Unterschied bezüglich der Literatur. Und er sagte: Im Osten kann man alles schreiben und nichts publizieren. Im Westen kann man alles publizieren und nichts schreiben. Weil es keine Erfahrung gibt. Hier gab's sehr viel Erfahrung, positive und negative, in den letzten Jahren zunehmend negative. Auch die Erfahrung des Scheiterns ist ein großes Kapital, das ist jetzt ein ungeheures Material für Kunst. Ich denke schon, dass es eine Menschheitserfahrung ist, dieses Scheitern. Es ist doch ein seltener Glücksfall in einem Lebenslauf, zwei Staaten untergehen zu sehen. Das erleben die wenigsten. Shakespeare hat nicht einmal einen Staat untergehen sehen. Ich meine schon, der Materialwert ist ungeheuer von dem, was passiert ist. Das ist ein ganz snobistischer Standpunkt natürlich, der eines Schriftstellers.

Ist nach der Utopie DDR kein Platz mehr für Utopien?

Ich würde sagen, das Wort Utopie ist im Moment belastet. Es ist schwer zu verwenden, weil klar ist, dass im Namen von Utopien immer die schlimmsten Terrorstrukturen entstanden sind. Denn wenn man ein Ziel setzt, muss man den Weg kontrollieren. Dann entstehen Weg-Kontrollmechanismen, und die machen sich selbständig und verheizen das Ziel. Deswegen würde ich lieber davon reden, dass da jetzt eine Leerstelle ist, ein Vakuum, ein weltweites. Es gibt die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft, die ist nicht mehr wegzudenken. Eine Gesellschaft, wo es eben nicht zwei Drittel oder ein Drittel oder ein Viertel Reiche gibt und der Rest ist arm und ein Rest verhungert. Diese Vorstellung ist da, und es wird immer wieder Versuche geben, diese Vorstellung zu realisieren.

Sie und Präsident der Ost-Berliner Akademie der Künste. Welche Pläne haben Sie mit ihr?

Die Akademie der DDR kann es nicht mehr geben, weil es die DDR nicht mehr gibt. Man muss also eine neue Struktur dafür finden. Eine Vereinigung mit der West-Berliner Akademie stößt auf zwei Schwierigkeiten. Wenn man alle übernehmen würde, wäre das ein ungeheurer Wasserkopf. Eine Akademie mit 400 Leuten ist lächerlich. Und andererseits gibt es natürlich in der West-Berliner Akademie großen Widerstand gegen sehr viele Mitglieder aus der DDR-Akademie. Das hängt mit der Geschichte der beiden Akademien zusammen. Die DDR-Akademie ist gegründet worden 48 oder 49, und der erste Präsident war Heinrich Mann. Das war der Versuch, die Tradition wieder aufzunehmen dieser Preußischen Akademie, die von den Nazis kassiert wurde, das heißt, man hat den Heinrich Mann rausgeschmissen und den Liebermann, und die Nazis besetzten die Akademie. Heinrich Mann hatte das Glück, dass er gestorben ist, bevor er das Amt antreten konnte, in Kalifornien noch, er wollte es aber noch. Und dann war die Akademie beherrscht von den Emigranten, von Brecht, Arnold Zweig, Anna Seghers, und die Orientierung war immer gesamtdeutsch. Es gab von vorneherein viele ausländische Mitglieder, und von dem Moment, als das gesamtdeutsche Konzept nicht mehr aktuell war - das war ja das Konzept von Stalin, der hatte schon begriffen, dass das zu teuer wird dieses halbe Deutschland hier. Und von da ab hat in dieser Akademie immer stärker der Staat eingegriffen und kontrolliert. Es war so eine Geschichte von Widerstand und Anpassung. Konkret lief das so: Christa Wolf wurde von den Mitgliedern gewählt. Das ist zwei, drei Jahre abgelehnt worden, denn unterschreiben musste der Ministerpräsident. Und schließlich gab es eine Parteiauflage. Die Partei sagte, ihr könnt die Christa Wolf wählen, dafür müsst ihr aber den auch wählen. Es wurden immer Leute rein gedrückt, als Gegengewicht. Volker Braun oder ich, wir sind vier oder fünf Jahre lang abgelehnt worden vom Ministerpräsidenten. Und schließlich gab es einen Kompromiss. Wenn ihr die drei wählt, könnt ihr die zwei haben. Und nun sind die Leute drin, die sind aber korrekt gewählt worden. Die kann man nicht einfach rausschmeißen. Und das ist der Widerstand der anderen Akademie gegen die Fusion. Andererseits ist die West-Berliner Akademie natürlich eine Gegengründung gewesen in der Zeit des Kalten Kriegs.

Wieso können Sie unliebsame Mitglieder nicht loswerden?

Ja, wie denn?

Sie sind lebenslang gewählt ...

Ja, das ist bei jeder Akademie so, das steht im Statut.

Freiwillige Rücktritte sind nicht zu erwarten?

Nein. Das war meine Hoffnung, gibt's aber nicht. Deswegen die Idee mit der europäischen Struktur, weil es kann nicht in Berlin zwei Akademien mit der gleichen Struktur geben. Da muss man etwas Neues finden. Eigentlich geht es um eine Auflösung und gleichzeitig Neukonstituierung einer anderen. Und da gibt es ein einfaches Argument. Man kann nicht ein solches Übergewicht an deutschen Mitgliedern haben, wenn man die Ausländer zu ordentlichen Mitgliedern macht, was sie bisher nicht waren, die waren korrespondierende Mitglieder. Dazu gehören Leute wie Akiro Kurosawa, Ed Murdoch, Gabriel Garcia Marquez - Picasso war auch Mitglied, Chaplin war auch Mitglied - und da ist schon eine Tradition. Und die Idee ist einfach, jetzt auszugehen von den nichtdeutschen Mitgliedern. Die müssten in der Mehrheit sein. Und dann braucht man eine Quote für die Deutschen, dann wird nach dieser Quote gewählt. Und wenn die Ausländer mitwählen, dann gibt das schon eine richtige Selektion, glaube ich. Das ist eine anständige Art, damit umzugehen. Es ist ja auch so, dass einige von denen, die von der Partei in die Akademie gedrückt worden sind, das gar nicht wussten. Die haben ja geglaubt, dass sie wegen ihrer großen Begabung gewählt worden seien. Je kleiner die Begabung ist, desto größer ist manchmal die Vorstellung von ihr. Und es sind ja auch keine Verbrecher.

René Ammann ist Schweizer Korrespondent des FREITAG.

Freitag Wochenzeitung, Nr. 47, Fr. 16.11.1990

Der Vorbereitende Ausschuss der Deutschen Akademie der Künste tritt am 04.07.1949 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Dem Ausschuss gehören u. a. Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Bernhard Kellermann, Wolfgang Langhoff, Ernst Legal, Max Lingner, Ernst Meyer, Otto Nagel, Anna Seghers, Arnold Zweig an. Zum Vorsitzenden des Ausschusses wird Arnold Zweig gewählt.


Heinrich Mann, der, wie sein Bruder Thomas, in den Vereinigten Staaten lebt, hat soeben erklärt, dass er nach Berlin übersiedeln und hier am Neuaufbau der Deutschen Akademie der Künste mitarbeiten werde. Schon früher hatten führende Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens Berlins und der Ostzone dem großen deutschen Schriftsteller die Rückkehr in die Heimat vorgeschlagen. Paul Wandel, der Präsident der Deutschen Verwaltung für Volksbildung, wiederholte kürzlich im Zusammenhang mit der in Angriff genommenen Wiedererrichtung der Akademie der Künste diese Einladung. Heinrich Mann antwortete, telegrafisch, dass er grundsätzlich bereit sei, ihr zu folgen, dass ihn jedoch im Augenblick noch eine Krankheit an der Reise verhindere.
Neues Deutschland, So. 10.07.1990

Die Pressestelle der Deutschen Verwaltung für Volksbildung teilt mit:

Wie bekannt, hat Heinrich Mann die Einladung des Präsidenten der Deutschen Verwaltung für Volksbildung, Paul Wandel, nach Berlin zurückzukehren und am Aufbau der Deutschen Akademie der Künste mitzuwirken, angenommen.

In seiner Antwort teilte Heinrich Mann mit, dass ihn lediglich Krankheit - der In Los Angeles lebende achtundsiebzigjährige Dichter leidet an Asthma - an der sofortigen Rückkehr hindere. Präsident Wandel hat an Heinrich Mann folgendes Telegramm gerichtet:

"Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, Präsidentenschaft der Deutschen Akademie der Künste zu übernehmen, und hoffe, Sie bald völlig genesen hier empfangen zu können. Für die Dauer Ihrer Abwesenheit wurde Arnold Zweig als Ihr Vertreter vorgeschlagen."
Neues Deutschland, Fr. 15.07.1990

Heinrich Mann starb am 12.03.1950 an seinem Wohnsitz in Santa Monica im US-Bundesstaat Kalifornien.

In der Deutschen Staatsoper in Berlin erfolgt am 24.03.1950 die Gründung der Deutschen Akademie der Künste. Als ordentliche Mitglieder werden berufen: Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Max Butting, Heinrich Ehmsen, Hanns Eisler, Erich Engel, Ottmar Gerster, Bernhard Kellermann, Wolfgang Langhoff, Ernst Legal, Max Lingner, Hans Marchwitza, Ernst Meyer, Gerda Müller, Otto Nagel, Greta Palucca, Otto Pankok, Anna Seghers, Gustav Seitz, Heinrich Tessenow, Helene Weigel und Arnold Zweig.

Wilhelm Pieck sagt dort: "Unsere Deutsche Akademie der Künste wird zugleich eine gesamtdeutsche Institution sein. Ihre Wirksamkeit wird segensreich auf ganz Deutschland ausstrahlen, auch auf jene deutschen Gebiete, die heute unter der kolonialen Botmäßigkeit imperialistischer Staaten stehen. In diesen Teilen Deutschlands kann von der Entwicklung einer neuen deutschen Nationalkultur in den letzten Jahren nicht die Rede sein. Immer unverhüllter tritt zutage, dass dort die faschistische Kulturbarbarei durch die kulturelle Barbarei des amerikanischen Imperialismus abgelöst wurde. In diesen Tagen, da unsere Jugend den großen deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach durch die Aufführung seiner besten Werke ehrte, werden dieselben Melodien in Westberlin als Jazzkonzert geboten. So ergibt sich zwangsläufig, dass die Deutsche Akademie der Künste ihre große Aufgabe der Förderung und Pflege einer neuen deutschen Nationalkultur nur im entschiedenen Kampf gegen die Kulturbarbarei des amerikanischen Imperialismus erfüllen kann."
Berliner Zeitung, Sa. 25.03.1950


Auf der erste Sitzung des vorbereitenden Ausschusses der Akademie der Künste am 10.08.1949 wird vorgeschlagen, eine Beteiligung der westdeutschen Länder, da die Basis in Berlin zu klein sei.

Das Gesetz über die Akademie der Künste wird am 25.11.1954 vom Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedet.

Zu seiner konstituierenden Sitzung tritt die Akademie der Künste am 28./29.10.1955 in Berlin-Dahlem zusammen.

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