OFFENER BRIEF an alle Angehörigen der Humboldt-Universität zu Berlin

Der Senat der Humboldt-Universität zu Berlin begrüßt, dass mit der 9. Tagung des Zentralkomitees der SED eine Wende zu tiefgreifender Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR eingeleitet wurde, und stellt sich auf ein Vorwärtstreiben dieser Entwicklung in größtmöglichem Tempo ein. Auf dieser Tagung wurde der Weg zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der Parteiführung eingeschlagen. Zugleich sind alle Bürgerinnen und Bürger, sind auch alle Angehörigen unserer Universität auf neue Weise zur Lösung der uns alle tief bewegenden Probleme der Entwicklung unseres Landes gefordert.

Der Senat geht davon aus, dass die 10. Tagung des Zentralkomitees der SED sich einer großen Herausforderung zu stellen hat. Sie muss ihren Anteil zu einer tiefgreifenden Analyse der eingetretenen Lage und der Ursachen dafür leisten. Sie hat die Aufgabe, soweit wie gegenwärtig möglich, deutliche Umrisse der Gesellschaftsstrategie für die Wende zu einer neuen, höheren Qualität des Sozialismus, für einen neuen Abschnitt des sozialistischen Revolutionszyklus auszuarbeiten und ein vertrauensfestigendes Sofortprogramm zur Diskussion zu stellen. Wir erwarten, dass ebenso die Volkskammer und alle anderen gesellschaftlichen Organisationen unseres Landes in der Kommunikation mit allen, die ihre Sorgen und Vorschläge formulieren, die Ursachen der entstandenen Situation untersuchen und Wege zur Bewältigung der offenen Probleme vorschlagen.

Aus unserer Universität haben wir einen konstruktiven, offenen und öffentlichen Dialog über einen der Verantwortung und den Potenzen der Universität entsprechenden eigenen qualifizierten Beitrag zur schnellstmöglichen Überwindung der eingetretenen politischen Krise und der krisenhaften ökonomischen Prozesse im Lande besonnen.

Wir wollen uns mit den Leistungen von Wissenschaftlern, Studenten, Arbeitern. Angestellten und Schwestern in Medizin, Technik-, Natur-, Agrar- und Gesellschaftswissenschaften in dem Neuaufbruch unseres Landes einbringen. Das schließt eine kritische Aufdeckung aller Hemmnisse für höhere Leistungen auch an der Universität mit dem Ziel voller Entfaltung der Werte des Sozialismus ein.

Wir bekennen uns dazu, dass unsere Universität hohe Verantwortung für wissenschaftlichen und geistigen Vorlauf und zur Ausarbeitung von Entscheidungsvarianten für die weitere gesellschaftliche Entwicklung trägt. Wir wollen unsere Wissenschaftsergebnisse in eine solche Entwicklung des Sozialismus in der DDR einbringen, die über den Mühen der Gegenwart nicht unsere Mitverantwortung für die Lösung globaler Menschheitsprobleme übersieht. Vielmehr zielen wir auf Beiträge zu unserer Gesellschaftsstrategie und ihrer konkreten Umsetzung, die einer neuen friedens- und umweltorientierten, auf die Überwindung der Unterentwicklung in der Dritten Welt und auf die soziale Beherrschung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts gerichteten Entwicklungslogik der Menschheit zum Durchbruch verhilft. Wir werden die an unserer Universität bereits erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Modellvorstellungen in einer breiten Öffentlichkeit zur Diskussion stellen und in neuer Weise eine Einheit von Wissenschaft und Öffentlichkeit schaffen helfen.

Konstruktiv, offen für notwendige Veränderungen in der Gesellschaft als Bedingung für die Bewahrung des Erreichten und mit Besonnenheit orientieren wir mit besonderer Intensität auf Beiträge zu folgenden Problemkomplexen:

Wir rufen alle Universitätsangehörigen auf, als verantwortungsbewusste Staatsbürger sich im Dialog aktiv und konstruktiv zu beteiligen und gleichzeitig an ihrem Arbeitsplatz, sei es im Studium, in der medizinischen Betreuung, in Forschung und Lehre oder im Dienstleistungs- und Verwaltungsbereich durch hervorragende Arbeitsleistungen sich zu unserem sozialistischen Staat und seiner Perspektive zu bekennen. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Ausgestaltung der Mitverantwortung der Studenten. Nur gemeinsam werden wir die notwendigen demokratischen Reformen durchsetzen.

Der Senat drückt seine Solidarität mit dem Streben der Studenten aus, durch demokratische Mitwirkung an allen Prozessen der Universität ihre Mündigkeit zur Geltung zu bringen und verwendet sich für die Schaffung von Strukturen, die diese Haltung produktiver nutzbar machen können.

Wir begrüßen die Initiative der FDJ-Kreisleitung der Humboldt-Universität zur Gründung eines sozialistischen Studentenverbandes in der FDJ, der die spezifisch studentischen Interessen weit wirkungsvoller als bisher wahrzunehmen vermag und der einer sozialistischen Meinungsvielfalt sowie unterschiedlichen Weltanschauungen Raum gibt. Außerdem halten wir es für dringend erforderlich, die Vertretung der Studenten in dem im November neu zubildenden Wissenschaftlichen Rat der Universität zu stärken.

Es ist uns wichtig, dass in diesem höchsten demokratischen Gremium unserer Universität die Interessen aller Studenten angemessen vertreten und zum Ausdruck gebracht werden. Wir schlagen daher vor, dass in den nächsten Tagen in den Sektionen bzw. Instituten und im Bereich Medizin die Studenten in Vollversammlungen ihre Vertreter für den wissenschaftlichen Rat und seine Fakultäten demokratisch wählen.

Was in 40 Jahren DDR an materiellen und geistigen Werten geschaffen wurde, ist auch unser Werk. Durch unsere tägliche Arbeit bekennen wir uns dazu und schaffen damit auch die Voraussetzungen zur schöpferischen Erneuerung des Sozialismus in der DDR.

Wir wollen die Entwicklungskonzeption unserer Universität in vollem Maße auf die herangereiften neuen Aufgaben einstellen. Alle kritischen und konstruktiven Vorschläge werden dafür gebraucht. Der Senat ist offen für jeden Vorschlag.

Berlin, 24. 10. 89

Rektor und Senat
der Humboldt-Universität
zu Berlin

Berliner Zeitung, Mi. 25.10.1989

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