Berliner Bischofskonferenz zur Situation in der DDR
Für offenen und fairen Dialog aller Kräfte / Jeder möge prüfen, ob er jetzt bleiben oder zurückkommen wolle
Berlin (ADN). Die Pressestelle des Sekretariats der Berliner Bischofskonferenz übermittelte dem ADN folgende Erklärung:
Wir katholischen Bischöfe der Berliner Bischofskonferenz begrüßen und unterstützen die Bemühungen all derer, die sich in der DDR um demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse ehrlich bemühen. Wir treten ein für einen offenen und fairen Dialog zwischen allen gesellschaftlichen und politischen Kräften und erblicken darin einen geeigneten Weg, Lösungen für die Vielzahl angestauter Probleme zu finden. So rufen wir alle katholischen Christen auf, sich am gesellschaftlichen Prozess der Veränderung aus christlicher Verantwortung zu beteiligen.
Wir Bischöfe sehen es als eine aus unserem Dienstamt erwachsende Aufgabe an, zur politischen Wirklichkeit Stellung zu nehmen; nicht nur wenn religiöse und kirchliche Angelegenheiten zur Debatte stehen, sondern wenn es um die Würde und die fundamentalen Rechte des Menschen geht, um das Gemeinwohl und die soziale Gerechtigkeit.
Wir tun dies kraft der Sendung der Kirche, die politische Ordnung mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen und sie auf diese Weise zu humanisieren, also menschlich werden zu lassen. Die Aufgabe der Christen in der Welt - sowohl einzeln als auch gemeinschaftlich - besteht darin, die Pflicht zur politischen Verantwortung wahrzunehmen durch Entscheidungen, die zu fällen sind durch Programme, die aufzustellen sind durch Aktionen, die durchzuführen sind durch Mitwirkung in frei gewählten Volksvertretungen durch Ausübung von Macht, die demokratisch zu kontrollieren ist.
Wer angesichts der verfahrenen Situation zu einem ernstgemeinten Umbau der Verhältnisse in Staat und Gesellschaft beitragen will, wird sich und seinen Mitmenschen, der SED und den Blockparteien Fragen stellen müssen. Läßt sich tatsächlich eine Wende zum Besseren verwirklichen, wenn die SED ihren Führungsanspruch aus ihrer Ideologie und nicht aus dem Willen des Volkes, aus freien und geheimen und nicht manipulierten Wahlen ableitet?
Können die Wirtschaft, die Wissenschaft, das Bildungswesen und auch die Verwaltungen effektiv arbeiten, wenn Parteizugehörigkeit und nicht das Wissen und Können für die Übernahme leitender Verantwortung maßgebend sind?
Können die Kinder und Jugendlichen wirklich zu freien und mündigen Bürgern heranwachsen, wenn die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus sich einen absoluten Wahrheitsanspruch anmaßt und diesen in den Lehr- und Ausbildungsplänen durchzusetzen sucht?
Kann es wirklich einen Frieden im Innern des Landes geben, wenn er sich vor allem auf die Organe der Staatssicherheit und der Kampfgruppen in den Betrieben stützt und nicht auf eine Ordnung, die sich die Bürger in Freiheit selbst gegeben haben?
Wird die Ausreiseflut tatsächlich zu stoppen sein, wenn die neue Reiseregelung den Menschen zum Objekt administrativer Entscheidungen durch die Deutsche Volkspolizei macht?
Diese und viele Fragen lösen sich nicht von selbst. Alle müssen sich um Lösungen bemühen. Die Zukunft allein wird zeigen, wie ernst es den Verantwortlichen in Staat und Partei mit der Wende wirklich ist und ob der Wille des Volkes stark genug sein wird, seine in aller Öffentlichkeit und auf den Straßen proklamierten Ziele durchzusetzen. Ein erstes und glaubwürdiges Zeugnis der Verantwortlichen wäre die volle und öffentliche Rehabilitierung aller, die in den vergangenen Wochen Unrecht erfahren haben.
Durch den Weggang vieler Menschen, auch katholischer Christen, ist in vielen Lebensbereichen eine Notlage entstanden, vor allem im Bereich des Gesundheitswesens, nicht zuletzt auch in unseren caritativen Einrichtungen. Unbeschadet des Rechts auf Freizügigkeit, bitten wir dennoch jeden einzelnen zu prüfen, welche Pflicht er gegenüber dem Nächsten durch die entstandene Lage hat.
Wer sich mit der Absicht trägt, das Land zu verlassen, möge sich vor Gott und seinem Gewissen prüfen, ob sein Schritt gerechtfertigt ist. Und wer das Land verlassen hat, soll sich ernstlich fragen, ob er nicht zurückkehren will angesichts sich verändernder politischer Verhältnisse und ob er nicht seinen Beitrag zu der notwendigen Veränderung leisten will.
Wir Bischöfe würden aber unserer religiösen Sendung, die wir gemeinsam mit allen Christen haben, nicht gerecht, wollten wir verschweigen, dass der Dialog mit Gott für den Christen die unverzichtbare Voraussetzung ist für einen guten und erfolgversprechenden Dialog mit den Mitmenschen. Beten wir füreinander!
Neues Deutschland, Mo. 13.11.1989, Jahrgang 44, Ausgabe 267