Ich finde einen schweren Beginn glänzend
NZ-Gespräch mit dem Schriftsteller Christoph Hein
Wie wir bereite in unseren letzten beiden Ausgaben berichteten nahm in Berlin die zeitweilige Kommission zur Prüfung von Bürgeranliegen im Zusammenhang mit den Zusammenstößen am 7. und 8. Oktober ihre Arbeit auf. Die Kommission vereinigt in sich Mitglieder der von der Berliner Stadtverordnetenversammlung eingesetzten und einer unabhängigen Kommission. Der Schriftsteller Christoph Hein gehörte anfangs zu den "Unabhängigen" und stellte sich nun der gemeinsamen Kommission zur Verfügung. Na dem ersten Arbeitstag gewährte er der National-Zeitung folgendes Interview:
NZ: Was bewegte Sie, sich für die Arbeit in der Untersuchungskommission zur Verfügung zu stellen?
Christoph Hein: Nach den Ausschreitungen hatte Ich Opfer der Exzesse zu mir eingeladen. Ich beriet mit ihnen, was als Reaktion darauf zu tun sei. Wir begannen, mit kirchlichen Gruppen die Gedächtnisprotokolle zu sammeln. Mir war klar, dass zur vollständigen Klärung der Ereignisse nur eine unabhängige Untersuchungskommission beitragen kann und fordere dies auf mehreren öffentlichen Lesungen. Das Honorar dieser Veranstaltungen spendete ich übrigens zugunsten der Arbeit jener Gruppen, die die Angaben über Gesetzesüberschreitungen protokollierten und sicherten. Dann kam von der unabhängigen Untersuchungskommission die Einladung an mich, dort teilzunehmen. Und obwohl ich nicht wie andere beispielsweise vom Schriftstellerverband delegiert bin, sagte ich zu, weil ich unbedingt zur Aufklärung aller Vorkommnisse beitragen wollte.
NZ: Kamen Sie in Gewissenskonflikte, als sich die Zusammenarbeit beider Untersuchungskommissionen, der unabhängigen und der von der Stadtverordnetenversammlung eingesetzten, anbahnte?
Christoph Hein: Ja, zunächst es mussten einige Bedingungen geschaffen werden die für meine Begriffe voll erfüllt wurden.
NZ: Welche waren das?
Christoph Hein: Um ganz allgemein zu sagen: Die Kornmission musste vollkommen unabhängig sein. Und der heutige Tag hat es mir bestätigt, dass die "große" Kommission tatsächlich unabhängig ist. Ich bedaure ausdrücklich die Entscheidung von Marianne Birthler, sich nicht weiter als Kommissionsmitglied zu betrachten, und glaube, wenn sie diesen Schritt überdacht hätte, wäre sie im Rathaus geblieben.
Unsere ursprüngliche, unabhängige Kommission hätte zwar jederzeit mit den Opfern sprechen können, jedoch wäre es kaum möglich gewesen, den Generalstaatsanwalt vorladen zu können.
Auseinandersetzung wird ehrlich geführt
NZ: Würden Sie also sogen, dass der erste echte Arbeitstag nach dem zähen Beginn - allein über fünf Stunden Diskussion an zwei Tagen, ehe man zur Geschäftsordnung kam - ein kleiner Erfolg war?
Christoph Hein: Ich finde so einen schweren Beginn glänzend. Ich habe vor zwei, drei Tagen einmal gesagt, dass es ein glänzender Anfang für ein solches Miteinanderreden ist, denn man findet besser zueinander, wenn man sich nicht von vornherein in den Armen liegt, also kontrovers diskutiert. Ein schwerer Beginn ist zwar ermüdend und zermürbend, aber er deutet darauf hin, dass die Auseinandersetzung wenigstens ehrlich geführt wird. Ich denke, wir sind einen großen Schritt weitergekommen. Die Kontroverse innerhalb der Kommission drückt ja auch ein großes Missverhältnis zum Staat aus - und es ist gut, dass das nicht kaschiert wird.
NZ: Wohin sollte Ihres Erachtens die Untersuchung führen?
Christoph Hein: Ich bin schon seit Tagen ganz sicher, dass alle Beamten, die sich strafbar gemacht haben, zur Verantwortung gezogen werden. Ich hoffe, dass unsere Arbeit dazu führt, die Strukturen aufzudecken - da bin ich aber noch nicht sicher. Das ist in allen Ländern der Erde schwer, denn dann müssten die Masken runter.
NZ: Sie sprachen schon in der Diskussion von der Aufdeckung der Strukturen. Was meinen Sie damit?
Christoph Hein: Ein Beispiel. Ich dachte genau wie Marianne Birthler, dass der hier anwesende Stellvertreter des OB für Inneres, Günter Hoffmann, für die Maßnahmen am 7. und 8. Oktober zuständig gewesen sei. Er hat mich aber davon überzeugt, dass er unschuldig ist, weil er seit Jahren eben nur für soziale Dinge zuständig ist, für Wiedereingliederung Straffälliger oder für Ausreiseangelegenheiten. Das ist gut so, doch konnte sich das keiner vor uns vorstellen, dass der Chef Inneres nur für derartige Geschichten zuständig ist. Außenstehende können das nicht durchschauen, daher muss es transparent werden - das meine ich mit Aufbrechen der Strukturen. Das setzt sich in der gesamten Gesellschaft fort. Daher bedarf es in unserem Land einer vollkommenen Neustrukturierung der Staatsorgane.
Führende Rolle einer Partei ist zu erarbeiten
NZ: Noch einmal Stichwort Strukturen. Da fallt mir ein Reizwort ein, das in den letzten Tagen die öffentliche Diskussion mitbestimmte: Führungsanspruch der SED. Wie stehe Sie dazu?
Christoph Hein: Dieses Thema ist für mich kein Diskussionsgegenstand mehr. Man kann sich nicht zur führenden Partei erklären, genau sowenig wie zum führenden Schuhmacher. Es besteht die Gefahr, dass man sich lächerlich macht. Ich denke, dass jede Partei einen Führungsanspruch hat, wenn sie sich zur Wahl stellt. Eine führende Rolle ist nicht einklagbar, sie muss erarbeitet werden. Welche Partei die führende und welcher Schuhmacher der beste Ist, wird sich nur in der Arbeit zeigen. Die Bestätigung kann sich die Partei eben sowenig selbst geben wie der Schuhmacher. Deshalb keine Diskussion darüber. Das Thema ist für mich "gegessen". Wenn die SED das nicht so sieht, ist sie einem bedauerlichen Irrtum erlegen.
NZ: Beim Auftritt des Generalstaatsanwaltes vor der Untersuchungskommission blieben viel Fragen offen ...
Christoph Hein: Das hat so ein bisschen mit dem zu tun, was wir wollen. Er kam hierher mit der Bemerkung, dass er nur eine Viertelstunde Zeit habe. Das war alter Stil: von oben herab und keine Zelt fürs Volk. Aus den 15 Minuten wurde mehr als eine Stunde. Und, er musste eingestehen, dass er unzureichend informiert bzw. vorbereitet vor uns stand. Er musste es hinnehmen, dass wir ihm keine Antworten mehr abnötigten und ihm einen Fragenkatalog mitgaben, den er beim übernächsten Mal beantworten muss. Das wir schon ein Schritt in Richtung Demokratie. Da haben noch alle auch wir zu lernen.
NZ: Viele Menschen schätzen Sie, Herr Hein, als Autor solcher Bilder wie "Der fremde Freund" oder "Horns Ende". Unlängst erschien ein Taschenbuch mit Märchen von Ihnen. Was darf man In Zukunft vom Schriftsteller Christoph Hein erwarten?
Christoph Hein: In den letzten Wochen war ich selten am Schreibtisch und leide fürchterlich darunter, wichtige Werke zur Zeit nicht vollenden zu können. Das Telefon klingelt ununterbrochen; ich bekomme täglich über 40 Briefe von Menschen, die um Rat bitten. Vielleicht suche ich mir mal eine stille Hütte im Wald ...
NZ: Und wenn Sie in der Hütte wieder Ruhe gefasst haben?
Christoph Hein: Es liegt sehr viel vor, beispielsweise eine ganze Reihe von Essays, die ich sehr bald herausgeben werde, denn es ist ja in letzter Zeit möglich, sie in der DDR sogar in Zeitungen zu publizieren. Es wird einen Band Erzählungen geben ebenso wie 1992 ein Opernlibretto. Und da habe ich noch eine ganze Reihe von Plänen. Ich halte da im Unterschied zur DDR am Fünfjahrplan fest und werde meinen Plan gewiss erfüllen. Ich bin zwar - durch die Zeitumstände - etwas ins Schleudern geraten, doch ich arbeite viel zu gern an meinen Büchern und werde die, die ich mir vorgenommen habe, auch pünktlich zu Ende bringen.
Mit Christoph Hein sprach
Oliver Michalsky
National-Zeitung, Nr. 266, Sa./So. 11./12.11.1989