"Ich hoffe, dass in jedem Menschen auch ein Stück Grüne Liga steckt"

"Tribüne" sprach mit Dr. Rudolf Bahro

• Mit welchen Vorstellungen sind Sie in diese Republik gekommen, und genau in dieser Situation? Was haben Sie erhofft?

Als mir kurz vor der Maueröffnung klar war, dass ich zurück muss, obwohl ich drüben an einem wesentlichen Projekt in glücklichen Verhältnissen beteiligt bin, da hoffte ich noch, wir könnten die Autonomie der DDR bewahren. In Wirklichkeit soll ich die Niederlage teilen, in die der große Anlauf von 1917 wenigstens vordergründig betrachtet - erst einmal mündet. Ich soll das dennoch Illusionäre an meiner "Alternative" begreifen, dass immer noch Ichhafte und Machtorientierte, dass selbstische Projekt an meinem "Kommunismus", an jedem "Ismus".

Diese ganze Gesellschaft hat jetzt viel, sehr viel zu bewältigen. Wenn das positiv ausgehen soll, muss es auf der Höhe der heutigen Alternativen geschehen. In so tiefen Krisen ist menschlich der Boden offener als sonst. Es ist Zeit zum Säen. Die Neuorientierung braucht einen langen, gründlichen Anlauf. Zum Sommer soll auch mein zweites Buch, die "Logik der Rettung" kommen. Ich bin nun also nicht nur als Gast dabei, wenn wir zu begreifen suchen, was geschehen ist und wie es weitergehen kann.

• Die sozialistische Idee ist - so scheint es - für unsere historische Epoche verschlissen. Wir liehen am Endpunkt der Leninschen Idee des Einholens und Überholens des Kapitalismus. Was kommt danach?

Eine Idee ist nicht so leicht zu überrollen wie eine Armee - oder eine fehlgeleitete Ökonomie. Was wir jetzt gerade erleben, ist ein massenhafter Kopfstand des Geistes. Die sozialistischen Länder sind gar nicht sozialistisch gewesen. Die Sowjetunion ist darin stehengeblieben, was Lenin Schaffung der Grundlagen des Sozialismus genannt hatte. Heraus kam - und selbst das nur als Anschein - nicht mehr als ein paar Jahrzehnte Parität im Destruktiven mit der Militärmaschine.

Das Leninsche Konzept war bei uns auf den Witz heruntergekommen: Der Kapitalismus eilt mit immer schnelleren Schritten dem Abgrund zu, und wir wollen ihn ein- und überholen. Dieser Satz ist, wenn man ihn nicht ökonomisch, sondern ökologisch betrachtet, jetzt noch viel wahrer als zuvor. Die Logik des Weltmarkts ist die Logik der Weltzerstörung, und wir wollen offenbar sofort unseren vollen Anteil daran.

• Die welthistorische Mission der Arbeiterklasse - sie sollte der Ausweg aus dem Dilemma des Kapitalismus sein. Ist der Marxismus tot?

Was das reale Subjekt betrifft, hat sich der Marxismus als noch irrealer erwiesen als der Leninismus. Der Leninismus hat sich auf einen tatsächlichen Faktor bezogen, nämlich auf den Aufstand der sogenannten unterentwickelten Völker, gegen die Vernichtung ihrer überlieferten Gesamtkultur. Der Marxismus hat sich bei der Frage nach der welthistorischen Mission auf ein so nicht existierendes Subjekt versteift. Das wirkliche Proletariat einer Ausbeuter-Metropole, das hat man schon im alten Rom gesehen, will immer einen gerechten Anteil an der herrschenden Zivilisation. Es fühlt kolonialistisch. Und das ist heute nicht anders. Die Arbeiter von Mercedes sind sich mit ihren Bossen darüber einig, dass möglichst viele Autos - und Schlimmeres - rund um die Welt verkauft werden müssen, damit Lohn und Sozialplan stimmen.

Marx und Engels ist da ein Fehlschluss unterlaufen. Für eine Gesellschaftsformation in voller Entfaltung ist der innere Klassenkampf, der darin stattfindet, der große Motor, der die Entwicklung voran und in unserem Falle ins Fiasko der ökologischen Krise treibt.

• Aber wer ist dann der Sieger?

Jedenfalls überhaupt keine Klasse der jeweils bisherigen Gesellschaftsformation.

Doch reden wir nicht weiter von "drüben", reden wir von "hier" - obwohl "hier" inzwischen fast schon "drüben" ist.

• Die westliche Wirtschaft übt eine ungeheure Faszination auf uns aus . . .

Darin besteht das Paradoxe. Bis gestern hatten wir eine Verfassung, die im Prinzip die Notwendigkeit festhielt, dass die Gesellschaft politisch über ihre Wirtschaft sollte verfügen können. Nun wird die DDR in dem Augenblick, wo der Despotismus gefallen ist, wo sie also theoretisch hatte volkseigen hatte werden können, an die Weltregierung des großen Geldes geliefert.

• Welche andere Möglichkeit gäbe es denn?

Ich sage nicht, dass die noch da ist. Denn wo wäre die politische Kraft, die sie will? Aber dann sollen sich die Konkursverwalter wenigstens nicht in de Tasche lügen, dass wir die DDR verkaufen müssen, um sie zu erhalten. Die "Marktwirtschaft", die hier kommt, wird nicht wirklich sozial sein, und schon gar nicht ökologisch. Sie wird einfach kapitalistisch sein. Das heißt nicht, dass nun im einzelnes wurscht ist, wie das abläuft, im Gegenteil. Es ist immer noch denkbar, wenigstens Zeichen zu setzen.

• Wie könnten die aussehen?

Stellen wir uns einmal vor, dass die DDR-Gesellschaft die bisherige leitende Klasse - darunter verstehe ich nach dem De-facto-Abgang der SED den ganzen noch existierenden Wirtschafts- und Staatsapparat (nur Spitzen wurden ins Abseits geschickt) - enteignet. Der hat doch noch immer die reale Verfügungsgewalt über den gesellschaftlichen Reichtum, legt vor allem die Investitionen in seinem Interesse fest. Das ist die Mannschaft, die an der Rennstrecke Trabi gegen Mercedes steht und immer das gesamte Mehrprodukt des Volkes verpulvert hat. Wo es doch klar ist, dass wir dieses Rennen verlieren. Mit einer unterentwickelten Ökonomie verliert man immer. Diese "Enteignung" würde positiv bedeuten: Wir - als Volk der DDR gedacht - schütten uns die ganze Kapazität, das gesamte verfügbare Investvolumen, auf den Tisch des Hauses und entscheiden neu darüber, wie es eingesetzt werden soll.

• Und in welcher Weise?

Das erste Bein, auf das wir uns stehen müssen, das ist natürlich die Befriedigung der Grundbedürfnisse des Volkes, die Verschönerung des Alltagslebens, das ist die Wiederherstellung der Infrastrukturen, die nicht produktiv im Sinne des Rückflusses sind. Zum Beispiel Verkehrswesen, Telefon, insbesondere Bauwesen und vor allem Landwirtschaft. Eine Weltmarktstrategie in einem unterentwickelten Land heißt immer, dass das Volk bezahlen muss, indem seine Alltagswelt zerstört wird. Das kann nicht weitergehen, muss schnellstens gestoppt werden. Darüber gibt es sogar einen gesamtdeutschen Konsens. Das herzugeben, dem kann sich diese leitende Klasse nicht entziehen. Auf diesem Sektor "Grundbedürfnisse" wird viel entschieden. Da haben wir schon die Möglichkeit, die Weichen auf ökologischen Umbau zu stellen.

• Wie könnte du praktisch funktionieren?

Es bedeutet ja, realistisch zu akzeptieren, dass das Volk jetzt konsumieren will. Dann aber ist es besser, für die fünf Milliarden, mit denen IFA saniert werden soll, Autos zu kaufen, anstatt nun wieder Investitionen in den Grund zu rammen, die uns erstens nicht gehören und uns zweitens für weitere Jahrzehnte in dieser Selbstzerstörungslogik der Autogesellschaft festschreiben.

Man muss sieh klar sein: Die Umweltkatastrophe ist schlimm genug, wenn das Auto keinen Katalysator hat. Die größere Katastrophe aber ist die Umsetzung von Hunderttausenden Tonnen Material, von Beton in die Landschaft, sind die Rennstrecken für die Autos. - Das ist viel massiver, als was an Dreck aus der Karre rauskommt.

• Dieses Auto, das aber ist doch der Fetisch für viele Leute hier . . .

Vielleicht nicht nur hier. Ich sage ja, dass ein Nachgeben gegenüber den unmittelbaren Bedürfnissen - weil das Volk diese Zeit zum Lernen braucht - notwendig ist. Dieses Nachgeben ist dennoch ökologisch sehr viel billiges als eine Fernstrategie, die schon voraus nimmt, dass die Massen noch in 20, 50 Jahren Auto fahren wollen, wenn es in Wirklichkeit auf dieser Erde sowieso nicht mehr geht. In jeden Menschen sitzt ein Autofahrer und gleichzeitig jemand, der die Schäden nicht haben möchte, die daraus folgen. Ich hoffe, dass in jedem Menschen auch ein Stückchen Grüne Liga sitzt.

• Konsumtion war das erste Standbein. Und das zweite?

Das zweite ist, dass wir die von w Arbeitsgestaltung, vom Umweltschutz und von der Effektivität her unerträgliche Großindustrie rationalisieren müssen. Das heißt, dass wir ökologisch wie ökonomisch unrationelle Betriebe zumachen sollten. Natürlich müssen ein paar Zweige übrigbleiben, mit denen wir auf dem Weltmarkt Devisen verdienen, das gehört zu den unentrinnbaren Realitäten. Aber wenn wir ein Drittel schließen, können wir dahin kommen, den Energieverbrauch um die Hälfte zu reduzieren. Dann senken wir den Schwefeldioxidausstoß um die Hälfte. Es ist Wahnsinn hier auf Braunkohlenbasis so viel Stahl durchzujagen und anderes energieaufwendiges Zeug.

• Und die Leute? Ein Drittel zu schließen, bedeutet für ein Drittel keine Arbeit . . .

Das ist schlimm, wenn der Mensch keinen anderen Zugang zu den Lebensmittel hat als über einen Job in der selbstmörderischen Großindustrie. Wenn wir unser Häuschen DDR auch nur neu verputzen wollen, gar wenn unsere Landwirtschaft nicht mehr die Erde zerstören und vergiften soll, muss dort eine große Portion lebendige Arbeit hin.

• Das ist Ihr drittes Standbein?

Noch nicht. Darauf komme ich jetzt: Ich schlage vor, aktiven, energischen Leuten, die das gar nicht müssen, eine echte Chance, nämlich Startkredit für eine neue produktive Lebensform zu bieten, ihnen Wege nach draußen, aus der Industrie hinaus, zu öffnen. Ich meine die Chance einer Expedition im Innern, statt der Flucht nach Westen. Das heißt, es sollte ein sozial ökologischer Sektor entstehen. Ich erinnere an Lassalles Idee von Kooperativen mit Staatshilfe. Das ist das dritte Standbein, genauer gesagt ein genossenschaftlicher Weg, der heute eine kommunitäre Komponente haben würde.

• Von den Gewerkschaften reden Sie gar nicht?

Wenn so für die Menschen in der Industrie ein Ventil nach vorne aufgeht, bekommen starke Gewerkschaften erst einen echten Spielraum. Die Leute im Betrieb zu halten, das heißt, bei der Rationalisierung dafür zu sorgen, dass "hinten" nicht so viele herausfallen.

• Hat dieses Modell nicht reichlich utopische Züge?

Utopisch ist noch hundert Jahre Industriegesellschaft auf diesem Planeten. Das würde heißen, dass zehn Milliarden Menschen den Standard haben wollen, den jetzt eine Milliarde hat. Wir sehen aber schon jetzt, dass das Häuschen zu klein ist. Die Belastung, die die Industrie der BRD auf die Biosphäre ausübt, ist zehnmal zu groß. Zehnmal! Da geht es nicht um das Ausschalten einer Geschirrspülmaschine . . . Auf der endlichen Gerade ist der Aufbau einer Lebensweise einfacher Reproduktion - materiell gesehen, wo sich die Entwicklung auf Qualitatives verschiebt - sowieso unentrinnbar.

• Und wie sollte ein solches Leben aussehen?

Man kann sich eine Produktionsweise kleiner und mittlerer Technologien vorstellen; genossenschaftlich, was die Rechtsform betrifft; kommunitär in dem Maße, in dem die Leute das wollen. Dass also eine Selbstversorgung aufgebaut wird, die die großen Industrien nur ergänzen. Aber da geht es nicht um ein Rezept von mir. Die das anzieht, müssen sich darauf einigen, wie ihr anderes Leben aussehen soll. Der Mensch kann sich seine Lebensmittel bäuerlich erarbeiten, seine Kleidung handwerklich herstellen, ohne soziologisch wieder "Bauer" oder "Handwerker" zu werden. Er kann auch neue Austauschbeziehungen aufbauen. Dass wir nicht auf die Hacke und den Hammer zurückgreifen müssen, ist auch klar. Es ist erwiesen, dass Mikrochips auch in kleine Maschinen, in lebensverträgliche Werkzeuge passen.

• Das ist doch wohl sehr weit von dem entfernt, was sich die Menschen hier vorstellen . . .

Wer sind "die Menschen"? Alle? Schließt man einfach von sich auf andere, oder berücksichtigt, dass es möglicherweise Minderheiten gibt, die bereit sind, so was anzufangen, wenn`s denn möglich ist. Da sollte man Startkredite hingeben, auch, wenn die als „verloren" zu betrachten sind. Es wäre ein Winziges gegenüber dem, was wir bisher gewohnt sind zu verlieren, in Milliardendimensionen. Der Unterschied zu dem, was drüben läuft, aber wäre, dass die Menschen sich selbst helfen und nicht andauernd Alimente erbetteln müssen in Form von Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung. Es handelt sich darum, Planken von der "Titanic" für Rettungsboote zu verwenden.

• Der Mensch verzichtet aber so ungern . . .

Es wäre wahrscheinlich besser, darauf hinzuweisen, dass wir aufs Leben verzichten werden, weil wir nicht auf die "Errungenschaften" verzichten können. Man muss sich nur Folgendes vorstellen: Der Autobesatz der BRD geht jetzt auf 33 Millionen zu bei 60 Millionen Bevölkerung. Dann müssen Deng und Li Peng in China 704 Millionen Autos bereitstellen. Ob die einen Katalysator haben oder nicht, macht dann wenig Unterschied. China und die Welt gehen daran kaputt.

• Nehmen Sie es den Menschen übel, dass sie das alles trotzdem wollen?

Buddha sagt zu den Übeln, dass es an der Unwissenheit liegt alias mangelnder Bewusstheit. Das Christentum dagegen zählt das Übel zur Erbsünde Buddha korrespondiert da eher mit dem sozialistischen Bewusstseinsbegriff. Das war nur viel zu schmal ausgerichtet auf die Arbeiterinteressen. Hier ist eine Strategie der Bewusstheitsentwicklung nötig. Die muss jeder selbst durchmachen.

• Mit Appellen an das Bewusstsein sind schon andere Ideen gescheitert. Woher nehmen Sie Ihre Hoffnung?

Es ist kein Appell von oben, sondern eine Eigenbemühung gemeint, ehe sie greift. Es kann schon sein, dass die halbe Welt kaputt geht. Die Menschheit wird aus ökologischen Gründen und weil es materiell gar nicht mehr aufgeht auf diese Erfahrung gestoßen werden. Drüben ist es ja bereits soweit. - Wenn Sie sich Rom ansehen in demselben Stadium, in dem sich der Westen jetzt befindet - es gab keinen kommerziell machbaren Unfug, den sich die privilegierten Schichten dort nicht geleistet hätten. Aber alles das war ein Hinweis darauf, dass eine neue spirituelle Gesamtlösung aufkam: die verrückten Christen, die von der römischen Intelligenz bis 350 u. Z. nur verspottet wurden für ihre handwerkliche und sklavenhafte "Unkultiviertheit". Und doch fing damit etwas Neues an.

Im Westen begreifen Leute in diesem therapeutisch-spirituellen Bereich, wie sehr sie in tieferem Sinne korrupt sind, das heißt, besetzt von tausend Rücksichten, weil andere das für richtig befinden.

• Sind Aussteiger dafür ein Symptom?

Der wesentliche Ausstieg passiert nach innen, so, dass sich Minderheiten bilden, die sich psychologisch auf den Weg machen. Das ist drüben in Gang, und ich sehe für hier keinen anderen Weg. Das ist der Hauptinhalt meines Buches "Logik der Rettung". Ausgehend von einer Analyse der ökonomisch-ökologischen Katastrophe weise ich nach, dass die Bewusstseinsrevolution die einzige Möglichkeit ist.

Das Gespräch führten
Ingrid Aulich und
Dieter Fuchs

Tribüne, Fr. 02.03.1990

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