Verliebt, verlobt, vermarktet

In diesen Tagen wird hierzulande auf den verschiedensten Ebenen und in mannigfachen Formen Brautschau gehalten. Da sind zuerst einmal die schmucken Burschen in ihren schmucken Autos mit dem Kennzeichen B, die Ausschau halten nach den entsprechenden Mädchen. Dann - weit unauffälliger, aber darum nicht weniger erfolgreich - die cleveren Geschäftsleute mit ihren cleveren Angeboten, auf der Suche nach den passenden Partnern. Und schließlich die renommierten Parolen: Sie werben gleich für unser ganzes Land. Diese Brautschau entbehrt nicht einer gewissen Komik, weil sie fatal an die Geschichte aus dem Basteiroman erinnert, wo der reiche aber gutherzige Graf das arme aber mausgraue Fräulein ehelicht und sie damit zu seinem Stand emporhebt. Dabei stellt sich im Roman heraus, dass das Fräulein ja eigentlich schon von Geburt an zu Höherem bestimmt war und lediglich von missgünstigen Verwandten bisher daran gehindert wurde, dieser Bestimmung gerecht zu werden. Aber die Brautschau hinterlässt beim Betrachter auch einen peinlichen Nachgeschmack. Die ehemaligen Blockparteien, frisch geschieden, sehen sich "nach schwerer Enttäuschung" nach einem wohlbestallten Partner für den Neubeginn um. Die neuen Parteien, wohl weil sie spüren, dass sie eigentlich noch nicht im heiratsfähigen Alter sind, wollen die im vergangenen Herbst abgeworfene Vormundschaft schnell durch eine neue ersetzen. Sie bauen auf die märchenhafte Lösung aller Probleme durch die Tischlein-deck-dich- und Esel-Streck-dich-Künste ihrer bundesdeutschen Freier. (Dass dazu auch ein Knüppel aus dem Sack gehört, scheinen sie zu vergessen.) Selbst die ehemalige SED geht seit kurzem errötend vor dem Standesamt auf und ab, aber wegen ihrer Mitgift heißt es von allen Seiten: Ilse Bilse, keiner will'se. Wie verhalten sich nun die frischen jungen Mädchen, die Bürgerbewegungen? Hinter einer stachligen Dornenhecke haben sie gelebt. Die Hecke haben sie niedergerissen, um endlich ein ungebundenes Leben zu führen. Lassen sie sich nun auch von der um sich greifenden Hochzeitsstimmung anstecken? Auch sie drängt es in eine bürgerliche Ehe. Zwischen ihnen scheint nur noch strittig zu sein, welche Farbe der Schleier haben könnte, mit dem sie vor dem Traualtar treten wollen - je nachdem, ob es eine Liebesehe, eine Geldheirat, oder eine Nottrauung werden soll. Wenn sie sich nicht besinnen, ist zu befürchten, dass sie im Hochgefühl der bevorstehenden Hochzeitsnacht mit dem prächtigen und wohlduftenden Bräutigam vergessen, dass sie mehr sind als nur das Aschenputtel. Dabei haben sie doch einiges einzubringen:

Sie haben in einer Familie gelebt, mit großer Verwandtschaft. In dieser Familie haben sie vieles gelernt - Nützliches und Überflüssiges, Gutes und Schlechtes. Sie haben denken, schimpfen, lachen und träumen gelernt (auch kochen und nähen), sogar unter einem tyrannischen Zaren. Die stachlige Hecke konnten sie selbst niederreißen mit ihren jungen, frischen Kräften. Sollen sie schon verbraucht sein?

[aus einer Wahlwerbung von Bündnis 90, Februar 1990]