Der 8. Mai und wir – ND-Interview mit Pfarrer FRIEDRICH SCHOLEMMER

Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist verdammt, sie zu wiederholen

Herr Pfarrer, Sie sind Jahrgang 1944, was verbinden Sie denn mit dem 8. Mai 1945? Kein unmittelbares Erleben natürlich ...

Dieser Tag ist eine Zäsur der deutschen Geschichte. An diesem Tag wurde beendet, was am 30. Januar 1933 begonnen hatte. Vom 8. Mai sollte man daher als von einem Tag des Zusammenbruchs gefährlicher nationalistischer Illusionen sprechen. Eines Zusammenbruchs, der - so denke ich - nötig war, um die Welt zu befreien von deutschen Großmachtsträumen. Ich hab' mir mal vorgestellt, ob uns die Zerstörung Warschaus und auch Dresdens und vieler anderer Städte erspart geblieben wäre, wenn, der Anschlag in der Wolfsschanze Erfolg gehabt hätte. Es gehört zu den Geheimnissen der Geschichte oder ihren Unbegreiflichkeiten, dass wir diesen bitteren Kelch offensichtlich austrinken mussten, wir Deutschen. Denn sonst könnten heute Leute auftreten und sagen: Wir hätten gesiegt, wir Deutschen, wenn nicht damals die vaterlandslosen Gesellen "unseren Führer" umgebracht hätten.

Und gleichzeitig ist es natürlich ein Tag der Befreiung, ich muss dieses "gleichzeitig" sagen, da wir Deutschen, das müssen wir erinnern, diese Befreiung nicht selber geschafft haben. Ich bin den Amerikanern und Engländern und Franzosen und den Russen zumal, die ja die meisten Opfer brachten, dankbar, dass sie uns befreit haben. Und wenn ich dies gesagt habe, dann kann ich auch sagen, dass wir gern die Lasten von Jalta wieder loswerden wollen, dann kann ich - auch sagen, dass durch Russen nach 45 auch Deutschen viel Leid geschehen ist. Das muss ich dann auch sagen dürfen. Also Tag des Zusammenbruchs und der Befreiung.

Und das zweite: Wir sind von der Sowjetunion zweimal befreit worden, einmal am 8. Mai 1945 und das zweite Mal durch die Wahl des Generalsekretärs Gorbatschow. Diesmal nicht nur wir Deutschen, sondern vielleicht die Welt, wenn sie die Chance wahrnimmt. Befreit zu einem Denken, das zu neuer Politik werden kann, die uns die Überlebenschance für das nächste Jahrtausend sichert - durch radikale Abrüstung, durch Einsatz der frei werdenden Mittel für die Entwicklung der Dritten Welt und die Bewahrung der Lebensgrundlagen der Menschheit.

Sie sprachen über die Verbrechen, mit denen im Namen von Deutschen ein großer Teil der Welt überzogen wurde. Millionenfaches Leid ist zu beklagen. In diesem Zusammenhang steht die Frage nach der Schuld.

Niemand kann sagen, er sei davon nicht betroffen, kein Deutscher, und es war sicher eins der unglücklichsten Worte des letzten Jahrzehnts, von der "Gnade der späten Geburt" zu sprechen. Auf absehbare Zeit wird man, wenn man Deutsch sagt, auch immer Auschwitz dazusagen müssen. Ich möchte an Bertolt Brecht erinnern: Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von der meinen. Sprechen wir von der unseren, was in unserem Namen geschehen ist, und fangen nicht an, uns zu rechtfertigen, indem wir sagen, aber die anderen haben auch etwas Schlimmes getan. Es gibt noch Überlebende und deren Kinder. Die Schuld lässt sich überhaupt nicht abtragen. Aber das mindeste ist, dass wir sie annehmen und daraus gegenüber den Opfern Konsequenzen ziehen: dass wir diesen Menschen, zum Beispiel den Polen, Hilfe zuteil werden lassen und eine Politik betreiben, mit der so etwas nicht wieder möglich wird. Ich denke, dass die Deutschen in besonderer Weise verpflichtet bleiben, eine europäische Friedensmacht zu sein. Und sie können dies wohl am besten, wenn sie ihre Einigungsprozesse in den KSZE-Prozess einbringen.

Inzwischen sind Generationen nachgewachsen. Sie haben es schwerer, Schuld zu empfinden als die, die das unmittelbar erlebt haben. Wie empfinden Sie Schuld?

Wenn ich nach Majdanek komme oder Birkenau und dort meine Sprache wiederentdecke, nämlich in den Anweisungen dort, geht mir das sehr nahe, und ich wage kaum, meine geliebte Sprache zu sprechen. Ich halte es geradezu für nötig, dass wir in unserem Land, das DDR hieß, diese Erinnerungsarbeit auf eine neue Weise versuchen. Sie kann auch helfen, die Erinnerungsarbeit der letzten 40 Jahre zu leisten und diese Zeit nicht einfach abzustreifen.

Also ich empfinde wirklich persönliche Mitschuld, aber die Schuld muss produktiv werden, produktiv werden in einem neuen Verhältnis zu den Menschen, zumal Osteuropas, zu Ausländern überhaupt und zu den Juden. Ich empfinde Schuld und auch Scham und ganz große Trauer, wenn ich sehe, welch eine großartige Kultur Deutsche vernichtet haben. Das kann mich auch ganz persönlich anrühren - Jiddische Lieder, jiddische Poesie, die jiddische Lebensweise, dies alles wurde durch den Schornstein gejagt.

Ich stelle mir vor, ich wäre 20 Jahre früher geboren . . . Würde ich zu den wenigen, zu den 1,5 Prozent Widerstandskämpfern gehört haben? Wie wäre ich geprägt worden? Schulderkenntnis wird nur produktiv, wenn ich sage, was tue ich, zu verhindern, dass sich solche Strukturen wieder aufbauen. Zweitens muss ich fragen, wie sorge ich dafür, dass wir Deutschen nicht wieder uns zum Mittelpunkt der Welt machen. Das ist für mich eine aktuelle Frage. Ich habe ein bisschen Angst davor, dass wir die Mauer einfach von Berlin an die Oder-Neiße-Grenze schieben.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit gab es in diesem Jahrhundert viele. Die Verbrechen, die im Namen der Deutschen unter faschistischer Diktatur geschahen, obenan. Aber es ist auch anderes zu benennen. In einer großen Zeitung aus Frankfurt (Main) las man kürzlich den Artikel eines Geschichtsprofessors aus Konstanz. Der sagte, nicht Aufrechnung sollten wir betreiben, wohl aber Addition. Diese Addition ergäbe die Signatur unseres Jahrhunderts.

Das ist die historische Krämerseele, die genauso wie Helmut Kohl beim Grenzproblem anfängt zu fragen: Wie ist das mit den Kosten. Zum zweiten ist es sowieso keine Frage der Zahl. Wenn es nur einer gewesen wäre, der umgebracht wurde, bloß weil er eine krumme Nase hatte oder einen Stalin-Witz erzählte. Das verbietet sich sowieso. Jeder Mensch ist etwas unendlich Wertvolles. Und was soll im moralischen Sinne eine Addition? Soll das sagen: Eigentlich sind alle böse. Die Feststellung kann zu einer Handlungsanweisung werden. Es bleibt die Frage: Wie kann ein Mensch, der so zärtlich zu einem Kind und zu einem Mann oder einer Frau sein kann, so grausig werden?

Und wenn ein Historiker so argumentiert, muss ich fragen, wo liegt sein Interesse für diese Aussage? Aber: Nichts hilft uns das Verschweigen. Wie sind die polnisch-sowjetischen Beziehungen belastet worden dadurch, dass die Russen jetzt erst die Katyn-Wahrheit sagen. Oder wie hätte man auch bei uns in der DDR glaubwürdiger werden können für die Menschen, wenn man nicht so viel zum Hitler-Stalin-Pakt verschwiegen und das, was nicht zu verschweigen war, gerechtfertigt hätte. So kam es dann, dass man selbst Kommunisten das nicht mehr glaubt, was sie an Wahrheit sagen.

Vielleicht sollten wir mehr darüber reden, wie Geschichte produktiv werden kann. Unser Thema könnte heißen Humanität und Toleranz, die, so oft angemahnt, doch so selten praktiziert werden. Das wären Begriffe, die in der gegenwärtigen Etappe, wo aus Europas Staaten langsam Europa wird, neue Bedeutung erlangen. Europa wandelt sich, aber wandeln sich auch die Deutschen?

Wir sind zu vielen Wandlungen fähig. Zu großartigen und zu gefährlichen. Unser historisches Schicksal ist es, eine große Macht in der Mitte Europas zu sein. Die Chance der Deutschen besteht darin, Brücke zu sein, die Gefahr, eine Macht zu sein, die nach Osten oder Westen hin versucht zu expandieren, ob nun politisch oder militärisch oder ökonomisch.

Zur Frage der Toleranz. Tolerant kann nur einer sein, der sich seiner selbst und seiner Überzeugungen gewiss ist. Und auch seiner selbst wert. Der kann in Ruhe seine Position einem anderen darlegen und die Position des anderen auch anhören und nicht als einen Angriff verstehen.

Ich glaube, dass unsere Intoleranz in der DDR gegenwärtig u. a. daran liegt, dass wir noch keine wirkliche eigene positive Identität haben, aus der heraus wir uns nicht mehr absetzen müssen gegenüber anderen. Und einer, der sich seiner selbst nicht gewiss ist, läuft Gefahr, eine Überlegenheit gegenüber anderen zu postulieren. Er hat es schwer, eher die Vorzuge des anderen anzuerkennen, als auf seine Nachteile hinzuweisen. Warum fällt uns an den Polen nicht auf, was sie für eine Lebensart, was sie für eine unkonventionelle Gastfreundschaft praktizieren? Sie haben ein Verhältnis zur Kultur, sie haben eine Form der Literatur, von Malerei entwickelt, von Musik, unverwechselbar und großartig. Wenn es uns gelänge, am anderen erst mal das zu sehen, was an ihm großartig ist, dann können wir auch besser mit dem umgehen, was uns an ihm stört.

Der zweite Grund der Intoleranz ist gegenwärtig, dass wir noch sehr unter "Spannung" stehen. Wir sind augenblicklich sozialpsychologisch äußerst gefährdet. Gefährdet dadurch, dass wir nicht wissen, wohin mit den vergangenen 40 Jahren. Es gibt viele, die streifen es einfach ab, wollen alles vergessen machen. Damit machen sie aber auch sich selbst vergessen. Sie haben keine Geschichte mehr. Wenn gefragt wird nach unserer Identität: Es sind unsere Erfahrungen, auch unsere Versäumnisse, auch das Eingeständnis unserer Fehler, er Mitschuld, unserer Feigheit. Es sind ebenso Erlebnisse, die uns genau durch das, was wir erlitten haben, auch positiv zuteil wurden. Und dass wir auch etwas wie menschliche Wärme und Solidarität zueinander entwickelt haben, nicht soviel übers Geld redeten wie in diesen Wochen. Das hat uns wohl ausgezeichnet.

Teilen Sie die Ansicht, das wir im Moment als DDR-Bürger sehr deutsch zentristisch sind in unserer Weltsicht?

Ja, fast immer noch.

Was kann man dagegen tun? Die Welt muss ja für jemanden, der in Europa zusammenwachsen will, doch etwas größere Dimensionen haben.

Erst einmal wäre zu analysieren: Was ist hier eigentlich passiert? Wodurch ist das ausgelöst worden? Wie ist die Vorgeschichte dazu? Und dann kann ich sagen, was zu tun ist. Jedenfalls die schnellen Appelle sind kontraproduktiv. Das hat sich auch bei dem "Appell für unser Land" gezeigt. Ich halte das Grundanliegen immer noch für richtig, aber er war kontraproduktiv.

Warum?

Menschen, die 40 Jahre lang gedemütigt worden sind und den Eindruck hatten, dass sie allein die Suppe auslöffeln sollten, die eigentlich alle Deutschen eingebrockt haben, wollen jetzt endlich teilhaben an den Segnungen, die die Deutschen in der Bundesrepublik schon viele Jahre haben. Die sind mit einem Marshall-Plan hoch gefüttert worden und nicht zuletzt durch eine funktionierende parlamentarische Demokratie und eine Wirtschaftsordnung, die sich sehen lassen kann, und durch einen unglaublichen Fleiß, der sich auch gelohnt hat, dazu gekommen.

Uns ist eine wirtschaftliche und eine politische Ordnung nach 45 oktroyiert worden. Nur von einer Minderheit, wie wir jetzt sehen, wurde das wirklich angenommen. Wir waren selbst in Osteuropa in den letzten Jahren, sagen wir, zweitklassige Deutsche, und zwar aus Währungsgründen. Das ist eine Frage auch des Selbstwertgefühls. Und wenn jetzt Menschen plötzlich in Besitz dieser, wie man so sagt, harten Währung kommen können, sei es nur in bescheidenen Besitz, dann können sie auch in einen Rausch abgleiten, denken, wenn ich das erst habe und bekomme, dann bin ich auch wer, ein richtiger Deutscher.

Das kann man zunächst erst einmal verstehen. Vergessen wird aber, dass das Geld, was wir ja hatten, durchaus etwas wert war, nämlich soviel wert war, dass keiner unter der Brücke lag. Niemand. Es reichte zum Beispiel auch für die Kultur. Es wäre sehr schade, wenn bei dem Abbau der Subventionswirtschaft - den ich übrigens begrüße - die ganze Kultur unter den Hammer käme. Dann verlören wir etwas Einmaliges.

Fakt Ist doch aber eine Fixierung auf das Geld.

. . . die ich für sehr, sehr bedenklich halte. Als wenn man Geld essen kann. Dadurch wird unsere Luft noch nicht sauberer, dadurch werden unsere Flüsse noch nicht reiner, dadurch werden unsere Städte auch nicht heiler. Wir müssen jetzt eigentlich nicht fragen, wie bekommen wir das Geld, sondern wie kommen wir zu einer menschlichen Initiative, zu einer politischen, zu einer ökonomischen, zu einer wissenschaftlichen, mit der wir uns aus dieser Misere herausbringen. Wir brauchen Selbstvertrauen und Zielvorstellungen darüber, was aus diesem Land jetzt werden soll. Wollen wir daraus auch eine Bundesrepublik machen? Oder wollen wir jetzt, da wir Möglichkeiten haben, die ungeahnt sind, sagen: Wichtig ist, dass auch unsere Kindeskinder noch trinkbares Wasser haben. Was könnten wir da tun? Und worauf wollen wir deswegen auch verzichten? Das wäre eine Frage.

Zweites Problem : Wir haben im Herbst nach 40 Jahren politischer Erstarrung eine politische Kultur erleben können und Ausdrucksfähigkeit und Organisationsbereitschaft von wirklich Menschenmassen, die jetzt sehr schnell an eine Parteiendemokratie zu verlieren zu gehen droht. Und das wäre sehr schade.

Sie sind im Moment jedoch in der Minderheit mit Ihren Visionen . . .

Wenn wir diese Visionen nicht haben, dann ist der Untergang Realität und eine mögliche Zukunft Utopie. Aber dass eine Bevölkerung sich so täuschen lässt ... Es könnte sein, dass, wer 40 Jahre im wesentlichen von Lügen genascht hat, auch wieder neu verführbar ist. Er lässt sich auf angenehme Weise ein bisschen beschwindeln . . .

Sie sprechen Werte an, die sich lohnen übernommen zu werden. Antifaschismus gehört dazu. Wie lässt sich dieser Gedanke, dieses Vermächtnis erhalten?

Ich denke mit dem "anti" lässt sich das nicht machen, weil es zu negativ bestimmt ist. Man muss fragen: Wo sind Wurzeln für Faschismus? Warum ist dieser Schoß immer noch fruchtbar? Er ist ja nicht nur abhängig von ökonomischen Grundlagen. Ich habe große Hochachtung immer gehabt vor unserer Führungsmannschaft, dass sie Antifaschismus hochhielt. Gleichzeitig aber hat sie Verhaltensweisen wiederholt, die Vergangenem allzu ähnlich waren, z. B. Massenaufmärsche. Die, die oben standen, wussten offensichtlich, dass die da unten vorbeigehen lügen, und die unten wussten auch, dass die oben wissen, dass sie lügen. Denn dazu hatten wir ja einen allmächtigen Sicherheitsapparat.

Die Signale, für faschistoides Denken sind bei uns nicht früh genug gehört worden. Und die, die es benannt haben, wurden dafür gemaßregelt. Man hat gewissermaßen den Seismographen geprügelt, statt zu überlegen, was man gegen das Erdbeben tun kann. Und dennoch haben wir eine Tradition in unseren Filmen, in unserer Literatur, in unserer Kunst, wo auf das Phänomen des Faschismus in sehr vielfältiger und tiefer Weise hingewiesen wurde.

Aber es gab sich wiederholende Verhaltensweisen z. B. im Strafvollzug der DDR in Bautzen und in Bitterfeld und in Dessau. Ich weiß davon als Pfarrer. Manche kamen als kleine Kriminelle rein und als große Faschisten raus. Wissen Sie warum? Weil sie für sich erlebt hatten: "Kommunisten sind wie Faschisten." Sie erlebten ein quasi faschistisches Verhalten und wurden selber gegen die Roten zu Menschen, die in solchen Strukturen gedacht haben.

Wir dürfen die psychologischen Faktoren weder unter- noch überbewerten. In jedem Fall jedoch ist zu überlegen, wie verhindert man, dass Menschen gedemütigt werden oder lieblos aufwachsen. Wir müssen auch sehr darüber nachdenken, wie wir jetzt weiter verfahren mit Ganztagskinderkrippe, Ganztagskindergarten und Ganztagsschule, was Menschen da angetan wird, und wie anfällig sie für ein inhumanes Denken werden.

Wie sollen wir uns als Demokraten gegenüber dem konkreten Menschen verhalten, der mit faschistischen Parolen daherkommt?

Ich habe einen solchen jungen Mann, vor ein paar Tagen in Torgau erlebt, bei den Feierlichkeiten dort. Und mitbekommen, das ist ein Mensch, der ohne Eltern aufwuchs, in den Jugendwerkhof kam. Er hat ein solche Einsamkeit erlebt, aus der eine große Aggressivität, eine Selbst- und Lebensverachtung erwuchsen.

Wie sind die einzelnen Menschen dahin gekommen? Wer waren ihre politischen Lehrmeister, wer hat sie geführt oder verführt? Bevor wir die Leute und sie noch härter machen, sollten wir alle Möglichkeiten nutzen, die außerhalb des Gefängnisses liegen. Wir brauchen jetzt so einen Beruf wie den eines Sozialarbeiters - nicht nur für diese Leute, sondern überhaupt für Menschen, die nicht mit sich und dem Leben in dieser Zeit zurecht kommen.

Und die Radikalisierungen können, das müssen wir ganz klar sagen, stärker werden, nach links übrigens auch. Es kann nämlich linke Enttäuschte bei uns geben, die sagen: Die Rechten sind so schlimm, da hilft nur noch die rote Gewalt gegen die braune. Wichtig ist: Beim Zusammenkommen der beiden deutschen Staaten müssen die sozialen Probleme so niedrig wie möglich gehalten werden.

Halten Sie die DDR-Jugendlichen für gefährdet?

Ja, sehr, weil sie unter einem völligen Idealverlust leiden, und zwar sehr plötzlich, von einem Tag zum anderen. Und wer kommt in dieses Vakuum hinein, wenn sie jetzt auch keine Lehrstelle, keinen Studienplatz mehr bekommen sollten? Ich sehe das ganz ernst. Und alle, die sagen, das ist Angstmache, stellen sich nicht den Argumenten und den Zahlen.

Herr Stolpe hat in einem Interview sehr vorsichtig angedeutet, er rechne mit einem heißen Herbst . . .

Man kann so was auch herbeireden. Ich halte so etwas nicht für ausgeschlossen, aber wenn man um die Gefahr weiß, wird man gegensteuern müssen.

Beim Besuch des Premiers in Bitterfeld wurde klar, 32 Betriebe müssen sterben, schon der Umwelt zuliebe. Das betrifft über 1 500 Arbeitsplätze. Man muss überlegen, was zu tun ist, um . . .

. . . zum Beispiel die freiwerdenden Arbeitskräfte einzusetzen, gleich ein Programm zu entwickeln, wo diese Menschen dann Arbeit finden, sinnvolle Arbeit.

Wo kommen diese Programme her, wer muss sie schaffen? Basisdemokratisch?

Das Parlament muss der Ort sein, in dem alle Probleme auf den Tisch kommen, und dann so entschieden werden, dass man nicht Fraktionszwang spürt. Ich habe gegenwärtig den Eindruck, dass die Mehrheit einfach gar nicht viel fackelt, gar nicht viel diskutiert. Sie ist die Mehrheit und Punkt.

Natürlich muss ein Land regierbar bleiben, das heißt, die Regierung muss sich auch auf Mehrheiten in dem Parlament verlassen können. Dennoch wünschte ich mir eine durch die Fraktionen hindurchgehende offene Diskussion. Das Parlament ist nicht ein Ort des politischen Schlagabtausches, sondern ein Ort, an dem die gemeinsame Suche nach der besten Lösung organisiert wird. Und das öffentlich. Wo auch Unsicherheiten benannt werden. Wir brauchen, wie Brecht sagte, die Weisheit des ganzen Volkes.

Das bedeutet für mich auch, dass wir die Formen der unmittelbaren Demokratie jetzt nicht schnell verabschieden, also durchaus die Vernunft der Straße mobilisieren, wenn wir denn verhindern können, dass die Straße negativ aufeinanderprallt. Ich halte es für nötig, dass die Frauen ihre Dinge öffentlich vortragen auf der Straße und dass die verantwortlichen Politikern den Mut haben, sich dort hinzustellen, dort Rede und Antwort zu stehen und nicht zu sagen, wir sind gewählt und machen alles im Parlament. Nein. Dann bekommt auch der einzelne Bürger, die einzelne Bürgerin das Gefühl, was man sagt, ist den gewählten Vertretern wichtig.

Das Volk kann ich nur bitten, seine Mündigkeit auch weiter dadurch zu bewahren, dass es sich nicht wieder in seine Nischen zurückzieht und abwartet, wie der Kurs wohl steht. Sondern sagt, dass ist unser Land, dafür haben wir eine Verantwortung. Und zwar nicht erst dann, wenn einer persönlich in Schwierigkeiten kommt. Das nenne ich eine gelungene Demokratie, wo ein Solidarbewusstsein da ist, das Menschen für andere Menschen auf die Straße bringt, nicht nur für sich selbst.

Was meinen Sie, wie sollte man in diesem und in kommenden Jahren den 8. Mai begehen?

Ich habe vor fünf Jahren auf der Synode unserer Kirchen den Vorschlag gemacht, einige Feiertage, die weggefallen waren, wieder einzuführen. Man hat das damals auch in der Kirche für utopisch erklärt: Ganz hübsch, aber überhaupt nicht machbar. Den 8. Mai zählte ich damals dazu, weil ich meinte, man kann nicht eine Rechristianisierung wollen, also den zweiten Ostertag wiedergewinnen, ohne einen solchen Tag, eine solche Zäsur der europäischen Geschichte aufzunehmen. Ich wünschte mir dies Datum für einen europäischen Friedens- und Mahntag. Der dann auch mit Inhalt gefüllt wird. Das haben wir in den letzten Jahren in der Kirche getan.

Wo werden Sie am heutigen 8. Mal zu finden sein?

Wir haben die Wittenberger Bürger zu einem Abendgebet eingeladen, einem Gebet um Erneuerung. Mit Gebeten dieser Art haben wir Anfang Oktober 1989 begonnen und sie bis Mitte März fortgesetzt, jeden Dienstag. Und dieses Gebet um Erneuerung am 8. Mai gehört in die Reihe.

Um einen Satz noch zu sagen: Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Deswegen ist Geschichtserinnerung wichtig, deshalb ist eine lebendige Erinnerung an den 8. Mai wichtig. Da Menschen offenbar Schwierigkeiten haben, Erfahrungen zu vermitteln, machen Menschen immer wieder dieselben auch negativen Erfahrungen. Wir sind jetzt in der Situation, in der wir uns nicht leisten können, nochmals die Erfahrungen zu machen. Insofern stehen wir vor einer wirklich historisch zu nennenden neuen Herausforderung.

Notiert von RENE HEILIG und HOLGER BECKER

Neues Deutschland, Di. 08.05.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 106

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