Erkennt endlich ihre Mündigkeit
Nachfolgende Zeilen erreichten uns erst gestern, am Tage nach den Kommunalwahlen. Geschrieben wurden sie unter dem Eindruck der Ergebnisse jener Wahlen, die jetzige Volkskammer hervorbrachten. Überholt sind die Gedanken dennoch nicht. Im Gegenteil: Autor Ibrahim Böhme, bis zum 18. März einer der aussichtsreichen Kandidaten für den Posten des DDR-Ministerpräsidenten, dann ein resignierter SPD-Vorsitzender, der für Wochen von der Bildfläche verschwand, m nun als sogenannter "einfacher" Abgeordneter zu arbeiten, diese Mann der ersten Revolutionsstunden vom Herbst 1989 hat etwas mitzuteilen, was die Politik-Macher Ost und West im derzeitigen Vereinigungsrennen zu bedenken hätten - und nicht nur sie. Böhme schickt seinen kommentierenden Bemerkungen den folgenden Brief an die Berliner Zeitung voraus:
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn ich Sie um eine von Ihnen zu entscheidende Verwendung nachfolgenden Artikels bitte, dann deshalb, weil ich weiß, dass Ihre Redaktionsstuben nicht nur gut sind für das spannende Spektakulum, sondern auch und gerade für das Bewusstsein einer verantwortungsvollen Mediendemokratie. Es geht mir nicht um ein Honorar, denn mit wehmütigem und selbstbewusstem Lächeln habe ich mich damit abgefunden, im Moment wie früher als "Kostgänger" bei guten Freunden "abzutauchen". Ungewohnt ist mir im Verhältnis zu den Zeiten vor unserer Revolution nur, dass der geografische Bewegungsraum viel weiter geworden ist. Es geht mir auch nicht um Rechtfertigungen zu Momenten meiner Vita, die mir so schon unerwartet und schwer genug ist, weil die gleichen Menschen, die mir gutmütig bis November 1989 rieten: "Nun halte doch endlich mal Deinen Mund und mach in der DDR etwas aus dem, was Du kannst. Du bist doch selbst schuld an Deinem Schicksal. Oder geh' nach dem Westen", jetzt mit gutem Recht fordern: "Nun begründen Sie doch einmal, wie es zu den Anschuldigungen kommt. Haben Sie nicht vielleicht tatsächlich mit der Stasi gearbeitet? Denn aus den Fingern können die sich das doch nicht saugen!" Aus dem vertrauensvollen "Du" wurde selbst bei vielen Freunden ein abständiges "Sie". Aber auch das gehört jetzt ja zur Geschäftsordnung der Demokratie.
Selbst sehr gute Freunde wollen mir eine verständnisvolle Brücke bauen: "Du kannst es doch sagen. Vielleicht ging es gar nicht anders. Hättest Du ansonsten das bewirken können? für uns bleibst Du der alte Ibrahim." Und sie verstehen nicht, dass ich mir dann selbst nicht mehr der "alte Ibrahim" bleiben könnte, mein Leben wertlos würde. Ich bin selbstbewusst genug, darum zu kämpfen, nach Bereinigung der gegen mich erhobenen und von den Medien aufgegriffenen unberechtigten Vorwürfe meinen Platz im Parlament einzunehmen und für das einzustehen, was lange Jahre unsere Vorstellungen für eine demokratische Gesellschaft waren. Und dabei genieße ich den unverdienten Vorteil, Freunde zu haben, die mich auch in diesen nicht leichten Stunden nicht verlassen und die fast unverkraftbare Kompliziertheit meines Charakters ertragen.
Böhme
Von Ibrahim Böhme
Eigentlich schreibt man einen solchen Brief an die Adresse der Politiker, der Wirtschaftler, der Finanziers und all derer, die sich im Moment an Eifer übertreffen, wenn es darum geht, das magere Fuder, immerhin auf nicht selbst angebautem Grund geerntet, so in die Scheuer einzubringen, dass die altersschwache Deichsel nicht noch vor dem Scheuertor unter der Last des übergewichtigen Fuhrmanns bricht. Und dann gibt man diverse Duplikate den Medien, um auch die "Öffentlichkeit" in den Stand aufmerksamer Rezipienten zu versetzen. Natürlich überlegt man vorher, welche Redaktionsstube welche Schlagzeile, wenn überhaupt eine zu fabrizieren ist, findet. Ich habe keinen Grund, mich in dieser Stellungnahme an einen der Politiker der BRD zu wenden, die jetzt im deutsch-deutschen Einheitsgerangel in ihren tönenden Reden ihre Sprach- und Gedankenlosigkeit unter öffentlichen Beweis stellen. Sie haben nicht die Revolution gemacht, die den Menschen in der DDR so viel Hoffnung gab.
Wollten sie überhaupt eine solche Revolution? Warteten sie nicht in den Präsidialbänken des Bundestages, die Nation ab und an mit abgestandenen Freiheitsreden langweilend, darauf, dass ihnen aus dem Obst- und Gemüseschlussverkauf eine überreife Frucht zum Nulltarif nachgeworfen wird? Haben sie den Herrn Schalck-Golodkowski nicht empfangen, wissend um seine menschenverachtenden Geschäfte, auf die die BRD-Medien schon lange hingewiesen hatten? Brandt und Vollmer haben recht, wenn sie übereinstimmend sagen: "Die Menschen in der DDR haben die Revolution aus eigener Kraft in Szene gesetzt, friedlich und im Ringen um ihren Anstand und um ihre Würde."
Und dann kam mit gutem Recht auch der Anspruch auf den gesicherten Wohlstand und der Wunsch nach der deutschen Einheit im europäischen Kontext. Wenn selbst viele Mütter und Väter der Revolution ihre komplexe Verantwortung für die Menschenrechte, für den Frieden und für die ärmeren Völker im "harten Wahlkampf" zu benennen nicht mehr für "wahlopportun" hielten, damit das entscheidende Kernstück ihrer Identität, entstanden in der illegalen Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiebewegung, in grotesker Scham vorerst - hoffentlich nur vorerst - versteckten, so sind sie zuerst einmal selbst schuld. Aber ihnen sei die Milderung des Vorwurfs zuteil, dass sie unter dem Druck jener Wahl-Dunkelmänner standen, die nicht nur mit Wagenladungen voller Bananen und Stonsdorfer, sondern vor allem mit unmoralischen und falschen Versprechungen einreisten.
Und voll Dankbarkeit denke ich an die ungezählten Grünen und Alternativen Politiker, die uns seit den endsiebziger Jahren neben Petra Kelly und Gerd Bastian bei unseren illegalen Friedensseminaren begleiteten, an Sozialdemokraten wie Gansel, Weißkirchen, Greinacher und Schmude, die immer Kontakt zu Menschenrechtsgruppen aufrechterhielten, ohne uns zu belehren, an Humanisten wie Grass und Jens, die uns auf ein gemeinsames deutsches Gewissen verpflichteten, ohne den nationalistischen Zeigefinger zu erheben.
Nein, Stefan Heym oder Christa Wolf hatten mit ihrer Fragestellung "entweder - oder?" nicht recht. Aber sie hatten den Mut zu einem unpopulären Wort, das erst jetzt in die Hirne der Menschen in der DDR dringt. Und ist das Bild vom Berge "Ida" in Wolfs "Kassandra" nicht ein wenig auch die ästhetische Vorwegnahme unserer heutigen Situation?
Vor allem denke ich in diesen Tagen an jene Journalisten, Redakteure und Kommentatoren der westlichen Print- und elektronischen Medien, die sich schon vor der "Wende" (das Wort mag ich nicht so sehr, denn es wurde auf bewusster Bundestagsdebatte vom 1. 10. 1982 von Barzel benutzt) mit uns konspirativ trafen, um nicht nur sachlich zu berichten, sondern auch um der Demokratie eine Schneise schlagen zu helfen. Sie haben uns in komplizierten Zeiten oft aufgerichtet, und an Sie wende ich mich mit der Bitte:
Schelten Sie nicht unsere Menschen, nur weil Sie ein anderes Wahlergebnis erwarteten, denn die Bürger der DDR haben in einer freiwillig hohen Wahlbeteiligung nach diesen 40 Jahren einen mutigen Schritt in die Demokratie gewagt. Berichten Sie, bitte, nicht nur von den Rat- und Konzeptlosigkeiten der neuen Parlamentarier, die den Mut zum neuen Anfang aufbringen, sondern auch darüber, wie ernst sie es bei all ihrer Unbeholfenheit mit den Geschäftsordnungsdebatten meinen, weil sie nicht Fehler wiederholen möchten, die die Geschichte der deutschen Demokratie, auch in der Bundesrepublik, zu verzeichnen hat.
Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben allen Grund, stolz zu sein auf ihre Leistungen. Und sie haben in die deutsche Einheit einiges mit einzubringen, das auch die BRD mit ihrem vorbildhaften Grundgesetz in ihrem Solidargefüge und in ihrem Gemeinwesen bereichern wird (siehe K. v. Dohnanyi, "Brief an die DDR"). Die Menschen in der DDR sind mündig, und sie verdienen es, ernst genommen zu werden, zumal sie sich nicht "unter Lorbeer verstecken" und mit lächelnder Glätte bedecken, wo es eigene Schuld oder Verantwortung aufzuarbeiten gilt.
Berliner Zeitung, Di. 08.05.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 106