Ibrahim Böhme im ND-Interview: Sozialdemokratie muss zulegen, wenn sie von den Wählern verstanden werden will
"Ich beteilige mich nicht an diesem Stellvertreterkrieg"
Beim ND-Gespräch im Januar waren Sie und die SPD in Aufbruchstimmung: Ihre Partei galt als Favorit für die Volkskammerwahl. Sie als ernsthafter Kandidat für das Premierministeramt. Was ist seitdem schiefgelaufen und warum?
Als erstes erinnere ich Sie daran, bereits damals gesagt zu haben, es ist das schlechteste Avis, das eine Partei am Anfang des Wahlkampfes bekommen kann, einen prozentual so hohen Gewinn zu erreichen. Das hat dazu geführt, dass einige potentielle SPD-Wähler gesagt haben, wir wollen die Partei nicht so stark werden lassen.
Es hat zum zweiten dazu geführt, dass an der Basis, vor allem in den Bezirks- und Landesvorständen, einige Freunde meinten, sie brauchten also nicht mehr das zuzulegen, was eben im harten Wahlkampf notwendig ist.
Vor allem aber sehe ich, drittens, dass die meisten unserer Funktionäre es nicht verstanden haben, in ihre Wahlaussagen den sozialen Alltag der Menschen ehrlich mit einzubeziehen. Unter ehrlich verstehe ich nicht, nur zu sagen: Erstens, die D-Mark kommt, zweitens, wir Sozialdemokraten sind für eine soziale ich betone als erstes: soziale Wirtschafts- und Währungsunion. Man muss den Leuten aber auch sagen, welche Belastungen sich daraus ergeben. Und vor allem glaube ich, dass wir Sozialdemokraten - zumindest die meisten unserer Wahlredner - den nach wie vor zu leitenden Versöhnungsprozess zu wenig in unsere Aussagen einfließen ließen. Mancher unserer Redner hat sich zu einer Art Verdrängung der eigenen Vergangenheit und der eigenen Verantwortung führen lassen. Natürlich muss man Geschichte aufbereiten, aber dies muss sachlich geschehen.
Der gesamtdeutsche Wahltermin steht fest. Über den Modus wird kontrovers diskutiert. Ihre Meinung?
In einer demokratischen Partei, die ja die SPD immer noch ist, erlaube ich mir meine Privatmeinung: Ich halte diesen gesamtdeutschen Termin am 2. Dezember [1990] nicht für gut, sowohl was die Interessenlage der Bevölkerung der DDR als auch die der BRD anbelangt. Ich bin für gesamtdeutsche Wahlen. Ich hätte sie mir aber auf jeden Fall bedeutend später gewünscht, um davor gerade im wirtschaftlichen und sozialen Bereich einiges mit mehr Bedacht, Ruhe und auch deutlicher zu klären.
Der so sehr vorgezogene Wahltermin ermöglicht es uns beispielsweise nicht, vieles von den sozialen Rechten in der DDR so in den Einigungsprozess mit einzubringen, dass er auch den Menschen In der Bundesrepublik zugute käme. Ich denke dabei an den § 218, an die Fristenregelung.
Außerdem muss man natürlich ein bisschen politische Analyse im Vorfeld betreiben. Wenn ich weiß, ich halte den gesamtdeutschen Wahltermin nicht, so habe ich die Möglichkeit, mich moralisch gegen einen so frühen Zeitpunkt zu positionieren. Aber es ist unsinnig, wenn der Minister einer Partei sagt, wir wünschen uns die gesamtdeutschen Wahlen Ende 91. Eine Woche später sagt er, wir wünschen sie uns Mitte 91. Zwei Wochen danach äußert wieder derselbe Minister, Januar 91, und eine weitere Woche später ist zu hören: Also wir sind für den 9. oder den 16. Dezember. Und dann geht man auf den 2. Dezember. Ich glaube, dass die Sozialdemokratie demnächst einiges zulegen muss, wenn sie von den Wählern verstanden werden will.
Dürfen wir fragen, von welchem Minister Sie sprechen?
Nein, das ist ja bekannt ...
Hat Lafontaine recht gehabt mit seiner Auffassung, dass mit der relativ weitgehenden Anpassung der SPD an die CDU weder Profil noch Erfolg zu haben sind?
Wer Lafontaine bloß wahltaktische Manöver vorwirft, tut ihm unrecht Lafontaine hat seine Haltung sowohl auf dem ersten Parteitag unserer SPD in Leipzig als auch bereits am 20. Dezember 1989 auf dem Programmparteitag der SPD in Berlin-West konsequent vertreten. Ich glaube auch ohne Lafontaines Position benennen zu müssen -, es ist falsch, Angst zu haben, in der Opposition zu sitzen, nur weil die PDS dort ist. Ich kann doch trotzdem einen unterschiedlichen Standpunkt in der Parlamentsdiskussion akzentuieren. Wovor ich im Moment viel mehr Angst habe, ist, dass bei der Fortsetzung dieser Art Koalition die sozialdemokratische Identität in einer christdemokratischen untergeht.
Ein Blick zurück. Wir wollten in Schwante (Gründungsort der SPD am 7.10.1989 - die Red.) eine Volkspartei sein. Die Mehrheit des Volkes aber sind die Arbeitnehmer. Wir haben uns also vor allem an den Interessen der Arbeitnehmer zu orientieren. Da ist zum Beispiel die Frage Grund und Boden, bei der wir vor der Wahl eindeutig sagten, dass sie im Staatsvertrag geklärt werden muss. Dann die Frage der alleinigen Mitgliedschaft in der NATO. Dagegen bin ich prinzipiell. Wir haben vor der Wende nicht in illegalen Friedensseminaren gesessen, um das heute wieder aufzugeben.
Alle diese Punkte erscheinen mir im ersten Staatsvertrag völlig unbedacht oder sind nur so dargestellt, dass die SPD zu wenig von ihrem Profil hat einbringen können. Aus diesem Grund habe ich ja auch namentlich gegen diesen Staatsvertrag gestimmt. Denn er bedeutet ein Verlassen der Positionen, die die SPD eigentlich bezogen hat. Überhaupt halte ich es für fragwürdig, wenn die SPD ihre Koalitionszugehörigkeit nicht wenigstens überdenkt, wenn z. B. die DSU ich war bekanntlich gegen die Koalition mit der DSU, und das war auch unsere Wahlaussage vor den Wahlen - am 17. Juni den sofortigen Beitritt der DDR nach Artikel 23 GG erklärt. Man hätte die Koalitionsfrage stellen müssen, weil solche Fälle sich in letzter Zeit häufen.
Kann der Kurs einer linken Partei richtig sein, die ihr Hauptziel in der Vernichtung einer anderen linken Partei (PDS) und nicht in der politischen Auseinandersetzung mit der politisch Konservativen sieht?
Meine Meinung dazu klipp und klar: Ich habe diesen Stellvertreterkrieg satt. Ich habe nicht das Recht, Menschen, egal welcher Partei sie angehören, den glaubwürdigen Anspruch zu verweigern, an der Demokratisierung unserer Gesellschaft mitzuwirken und ihre Partei zu einer demokratischen zu gestalten.
Ich persönlich kann mich zu den Vermögensfragen nicht äußern. Nicht nur, weil ich selbst in Unkenntnis bin, sondern weil die Vermögensfragen nach 40 Jahren einfach sehr kompliziert sind. Ich glaube Herrn Gysi, dass seine Partei nicht in der Lage ist über das Auslandsvermögen der SED Aussagen zu treffen. Ich habe die Hoffnung, dass im Zuge der Treuhandregelung die PDS ihr Vermögen genauso ehrlich offenlegt wie alle Altparteien und Altorganisationen. Ich beteilige mich an diesem Stellvertreterkrieg nicht, weil ich in einem zunehmenden Maße feststelle, dass die PDS das größte Eigeninteresse daran hat, ihre Vorgeschichte aufzuarbeiten.
Im übrigen habe ich mich mit dem Statut und den Grundsatzfragen der PDS beschäftigt, und ich sehe als Sozialdemokrat da in keiner Weise einen Verstoß gegen demokratische Grundsätze. Ich meine, dass die PDS in ihren demokratischen Intentionen anderen Parteien nicht nachsteht. Es sollte nicht zur Zielstellung einer demokratischen Partei gehören, eine andere Partei, die demokratische Absichten hat, kaputtzumachen, sondern in fairer politischer Konkurrenz im Wahlkampf gegen diese anzutreten.
Stärkt die von Ihnen soeben kritisierte SPD-Position, in der PDS den "Lieblings"-Gegner zu sehen, nicht gerade jene im der PDS, die selbst keine Erneuerung wollen?
Es hilft gerade jenen, die in ihren alten Denk- und Verhaltensstrukturen an den ehemaligen SED-Prinzipien hängen.
Im übrigen: Die heutige Mitgliedschaft in der PDS ist ja nicht gerade karrierefördernd, sondern karrierevernichtend. Also ist es für mich blauäugig, um nicht sogar zu sagen für den Demokratisierungsprozess schädlich, auf der einen Seite die SED-Mitglieder, die nicht nur in der SPD, sondern auch in der DSU sind - übrigens dort mit dem höchsten nachgewiesenen Prozentsatz - in die , eigene demokratische Partei aufzunehmen, auf der anderen Seite unsachlich gegen die PDS zu "schießen".
Ich bin für sachliche Auseinandersetzung. Es gibt eine ganze Reihe von Meinungsverschiedenheiten zwischen der PDS und uns. Es gibt eine ganze Reihe auch von unterschiedlichen Zielvorstellungen. Wenn aber jemand Gregor Gysi in den Medien mit Ausdrücken benennt wie der "intrigante Gysi" oder der "clevere Gysi" oder der "heuchlerische Gysi" usw., dann muss ich sagen, dann trifft er nicht nur Gysi, dann trifft er auch mich. Das sollte der Standpunkt eines jeden Abgeordneten sein.
Was ist Ihre Reaktion auf den offenen Brief, an die Sozialdemokraten bzw. die SPD-Antwort von Gottfried Timm?
Ich hatte nach diesem offenen Gysi-Brief ein persönliches Gespräch mit ihm und habe ihn natürlich auf die Punkte hingewiesen, die ich für polemisch halte. Gleichzeitig habe ich ihm gesagt, wo ich ihm recht gebe. Und was sein Nachdenken über die Zukunft einer Linken in Deutschland anbelangt, da muss ich ihm recht geben. Aber seine, in diesem Brief pauschalierenden Dinge halte ich für polemisch. Er muss da schon differenzieren.
Und die Antwort von Timm?
Dazu möchte ich mich nicht äußern.
Halten Sie es prinzipiell für möglich, dass sich die Linken verständigen und womöglich einigen über den Begriff demokratischer Sozialismus?
Ich erinnere daran, was wir auf der SPD-Delegiertenkonferenz in Berlin am 12. Januar gesagt haben: Wenn die alten Machthaber meinten, Zähneputzen ist gesund und gut, dann putzen wir uns heute die Zähne trotzdem weiter. Ich stehe zu dem Begriff demokratischer Sozialismus auf der Grundlage einer parlamentarischen Demokratie. Ich bin nicht für ein sozialdemokratisches Deutschland. Ich bin für ein soziales und demokratisches Deutschland. Ich scheue mich auch nicht vor der alten Anrede Genossin und Genosse.
Ich halte es momentan für sehr schwierig, zu Arbeitsübereinkünften zu kommen, weil tatsächlich 40 Jahre Geschichte aufgearbeitet werden müssen. Möglich jedoch, dass es nach einem bestimmten Zeitraum gemeinsame Arbeitsgruppen der linken Bewegung geben wird, beispielsweise in der Bewegung für eine gesamtdeutsche neue Verfassung, in der Bewegung für einen demokratischen Bund deutscher Länder.
Klären Sie uns doch über den Unterschied zwischen 'sozialdemokratisch' bzw. 'sozial' und 'demokratisch' auf?
Ich sprach vom demokratischen Sozialismus auf der Grundlage einer parlamentarischen Demokratie. Eine sozialdemokratische Partei muss sich fair der Konkurrenz der anderen demokratischen Parteien stellen. In diesem Sinne bin ich zuerst Demokrat und erst dann Sozialdemokrat.
Das heißt, Ihnen geht es um den Vorrang des demokratischen Prinzips vor einer parteiengen Betrachtung?
Genau. Um ein konkretes Beispiel zu nennen. Was bin ich für ein Demokrat, wenn ich die PDS, die nun wirklich zwei Erneuerungsparteitage im Dezember und im Februar durchgeführt hat, immer anschieße wegen der Vorläuferin SED und dabei übersehe, dass die CDU beispielsweise mit einem Funktionärsapparat, in dem etwa 70 Prozent der alten- Kreis- und Bezirksstrukturen noch beinhaltet waren, gegen uns Wahlkampf gemacht hat! Natürlich sind Schuld und Verantwortung unterschiedlich gewichtet. Aber ich möchte doch nicht immer wieder das alte Feindbild.
Zum Abschluss: Es ist ziemlich ruhig um Sie geworden?
Also, ich kann, auch wenn Sie mir das nicht glauben, sagen, dass ich darunter nicht leide. Ich tue meine Arbeit wie bisher. Ich gönne es denen, die ins Blickfeld der Medien geraten sind und die die Position ihrer Partei aufrechterhalten, gern. Denen, die die Position der SPD verwässern, gönne ich es weniger.
Wie sehen Ihre persönlichen politischen bzw. beruflichen Pläne aus?
Ich bin weiterhin Abgeordneter der Volkskammer. Beim Magistrat habe ich mich - nachdem ich dazu angesprochen wurde - im Bereich Inneres als Polizeibeauftragter beworben. Gerade dort ist hinsichtlich der Versöhnungsprozesse viel zu leisten. Gemeinsam mit Erhard Eppler bin ich aufgefordert worden, das Manifest der Vereinigung beider sozialdemokratischer Parteien zu erarbeiten. Ich kann mir vorstellen, für den Bundesvorstand der SPD zu kandidieren, allerdings nur, wenn es der Sozialdemokratie dadurch zu linkeren Positionen verhelfen kann, also die sozialen Fragen stärker berücksichtigt werden.
Interview:
REINER OSCHMANN und
Dr. TOMAS KITTAN
Neues Deutschland, Sa. 07.07,1990, Ausgabe 156, Jahrgang 45, Seite 6