Integrierend wirken in der zerstrittenen Partei

Wolfgang Thierse, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Ost, zum Einigungsprozess der beiden sozialdemokratischen Parteien

taz: Es gibt Stimmen in ihrer Partei, die die Vereinigung mit der SPD-West lieber heute als morgen verwirklicht sehen wollen. Sie haben davor gewarnt und gesagt, die Parteieinheit dürfe kein formaler Akt sein, sondern ihr müsse ein inhaltlicher Prozess vorausgehen. Was heißt das?

Wolfgang Thierse: Wichtig scheint mir zu sein, dass man begreift, dass es für eine Vereinigung eines Diskussionszusammenhanges bedarf, eines Meinungs- und Willensbildungszusammenhanges. Der Gegenstand dieses Diskussionsprozesses muss die Bestimmung der jeweils eigenen Interessenlage sein. Ich bin der Meinung, dass es durchaus Interessenunterschiede gibt zwischen der DDR-SPD und der BRD-SPD. Die Geschwindigkeit des Vereinigungsprozesses wird sich daran entscheiden wie viel übereinstimmende lnteressensfelder wir finden werden und ob wir sie in gemeinsame politische Handlungsziele umsetzen können.

Welches sind denn die Unterschiede?

Man kann das am Beispiel des Verhältnisses zu Oskar Lafontaine zeigen. Ich glaube, dass die SPD in der DDR ein Interesse daran haben muss, die Risiken der Einigung sozial abzusichern. Wir müssen so viele soziale Sicherungen wie nur irgend möglich erreichen. Das kostet Geld, und da muss vor allem von der Bundesrepublik kommen. Die West-SPD und Oskar Lafontaine hingegen müssen sagen, die Einigung wollen wir auch, aber wir wollen, dass es ehrlich zugeht, dass offengelegt wird, was es kostet, und dass es nicht die kleinen Leute sein dürfen, die alles bezahlen müssen. Die Übereinstimmung besteht dann darin, dass beide Parteien ein Interesse daran haben müssen, dass Chancen und Risiken wirklich gerecht verteilt werden. Dass die Lasten nicht nur die kleinen Leute zu tragen haben und die Chancen nur die Unternehmer bekommen. Ich sehe deshalb den ganzen Streit um Lafontaine gelassen. Die West-SPD versucht eben jetzt beim Staatsvertrag noch etwas zu erreichen, was wir im Osten mit unseren 20 Prozent nicht erreichen konnten.

Nicht-professioneller Charme

Was hat deren die SPD-Ost einzubringen in die Parteieinheit mit der SPD-West?

Das kann man fast nur romantisch-idealistisch beschreiben denn wir sind eine harmlos kleine Partei. Vielleicht den Elan, den die West-SPD verloren hat, oder den Charme des Nicht-Professionellen.

Können Sie sich denn auch vorstellen, dass sich an der SPD-West, wie sie jetzt besteht, durch den Zusammenschluss mit der SPD-Ost programmatisch etwas verändern wird?

Da bin ich sehr vorsichtig. Wir sind programmatisch sicher schwächer als die SPD-West. Wir sind im letzten halben Jahr von Überforderung zu Überforderung gezwungen worden. Wir haben zwar ein Grundsatzprogramm und ein Wahlprogramm aufgestellt, aber das war gar nicht so furchtbar grundsätzlich. Wir hatten eben täglich dringendes zu lösen. Ich denke, für ist die Vereinigung eine Chance, dass wir in Diskussionen gezwungen werden, die wir bislang einfach keine Zeit hatten zu führen, dass wir uns mit dem Programm 2000 und mit Lafontaines und Epplers Positionen auseinandersetzen müssen. Ich fände das einen wirklichen Gewinn. Was wir einbringen, ist eine Realitätserfahrung, die mit dem Scheitern einer Utopie zu tun hat und mit dein Versuch nicht einfach die Fahne zu wechseln oder einfach und umstandslos ins andere Lager überzugehen.

Tempo vorgegeben

Aber wäre es nicht gerade deshalb besser, die Genossen im Osten blieben noch eine Zeitlang unter sich, um nicht vorn der Geschichte der SPD-West überrollt zu werden. All die programmatischen Positionen, die derzeit diskutiert werden, sind ja Resultate der bundesdeutschen Geschichte, das bekommt die SPD-Ost dann einfach übergestülpt.

Es ist leider so, dass wir das Tempo nicht immer selbst bestimmen können. Die Entwicklungen des letzten halben Jahres zeigen ja, dass alles immer schneller geht. Selbstverständlich denke ich, dass der Vereinigungsprozess der Parteien, wenn er sich auch inhaltlich vollziehen soll, Zeit braucht. Man darf das nicht überstürzt machen. Andererseits aber muss die Vereinigung der Parteien rechtzeitig vor der staatlichen Vereinigung stehen. Da kommt die SPD unter Druck. Der Wahltermin 2. Dezember wird immer öfter genannt, die CDU will sich am 1. Oktober vereinigen, dir Liberalen schon Ende September. Wenn es nach uns ginge, sollten wir versuchen, nach dem 2. Juli Zeit zu gewinnen, damit die vielen inhaltlichen Fragen, zur Rechtsangleichung, zur Außenpolitik, zur Medienpolitik usw., diskutiert und ausgehandelt werden können. Dann sollten die Länder gebildet werden, und in diesem Prozess könnten auch die Parteien der DDR zu ihrer politischen Identität finden. All das müsste im zeitlichen Rahmen von einem halben bis anderthalb Jahren stattfinden. So stellen wir uns das vor, allerdings bin ich nicht sicher, ob die SPD als einzige Partei Widerstand leisten kann gegen diesen immer stärker werdenden reißenden Strom.

Das heißt, Sie würden unter diesen Bedingungen dann doch einer schnellen Vereinigung der beiden Parteien zustimmen.

Also meine persönliche Vorstellung ist, dass wir in Berlin vorangehen. den "Vereinigungsparteitag" könnte ich mir im nächsten Frühjahr vorstellen - rechtzeitig vor einen Beitritt nach Artikel 23 und rechtzeitig vor gesamtdeutschen Wahlen. Das setzt allerdings voraus, dass wir uns mit unseren Terminvorstellungen durchsetzen können.

Aber auch innerhalb der SPD Ost gibt es genügend Leute, die sich die Parteieinheit schnell wünschen. In einzelnen Landesverbänden wurde sogar diskutiert, gar keinen Parteivorsitzenden mehr zu wählen.

Ich denke es ist sinnvoll, dass die Ost-SPD geordnet, mit jemandem an der Spitze die notwendigen demonstrativen Schritte in die Einheit unternimmt. Politik muss ja auch repräsentiert werden.

Programmatisches Denken

Was glauben Sie, könnten Sie als Vorsitzender für die Partei tun?

Ich habe selbst einen Lernvorgang erlebt und durchgemacht, der glaube ich für die ganze Partei gilt. Für mich habe ich das auf die Formel gebracht, vom problematisierenden Beobachter zum problematischen Akteur. Ich glaube, dass das auf die meisten SPD-Mitglieder zutrifft. Ich zum Beispiel war ein Gegner der Koalition mit der CDU, habe in den Koalitionsverhandlungen gemerkt, es gibt Übereinstimmungen, Möglichkeiten. Und wenn man die sieht, muss man sie auch nutzen, sonst vertut man eine Chance. Zu merken, es geht nicht darum, die reine Überzeugung zu erhalten, sondern darum, vernünftige, anständige Dinge zu tun. Und dieser Lernprozess, dass man etwas tut, von denn man weiß, es kann richtig sein, es ist aber auch in der Nähe des Falschen, zu sehen, weicher Kompromiss ist notwendig, welchen darf ich nicht mehr eingehen, dieser Lernprozess also findet jetzt in der Partei massenhaft statt. Die Partei muss lernen, programmatisches Denken mit politischem Handeln zu verbinden Diesen Lernprozess habe ich durchgemacht. und deshalb glaube ich, dass ich in der doch zerstrittenen Partei integrierend wirken könnte.

Interview: Brigitte Fehrle

die tageszeitung, DDR-Ausgabe, Fr. 08.06.1990

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