Minister Pohls Pläne ohne Konzept für die Arbeitsplätze
Von WOLFGANG THIERSE, Vorsitzender der DDR-SPD
Das Wirtschaftsministerium hat sechs Industriebereiche festgelegt für die der Regierung kurzfristig Analysen und Konzeptionen für die notwendigen wirtschaftlichen Reformen vorgelegt werden sollen: Stahl, Pkw, Chemie, Schiffsbau, Kohle/Energie und Elektronik. Der Staat soll mit großen Summen helfen, damit die Unternehmen dieser Bereiche unter den Bedingungen der Marktwirtschaft bestehen können und Arbeitsplätze erhalten bleiben.
Jetzt hat das Wirtschaftsministerium die ersten Beschlussvorlagen für den Ministerrat fertiggestellt. Sie betreffen die Industriezweige Stahl und Pkw. Sie zeugen von einer erschreckenden Hilflosigkeit des Wirtschaftsministeriums. Es fehlte eine Gesamtkonzeption für die jeweiligen Branchen, und so werden nur die Ansätze aufgegriffen, die von außen herangetragen werden. Bei Stahl sind dies die Angebote der EG, ihren Strukturfonds einzusetzen. Bei Pkw sind es die Projekte von VW und Opel; im übrigen wickelt man mit hohen Zuschüssen noch die RGW-Lieferverpflichtungen des letzten Jahres ab und verweist die Automobilwerke Zwickau und Eisenach an die zuständigen Arbeitsämter zwecks Qualifizierung und Umschulung, Kurzarbeit und Freisetzung.
Vollkommen inakzeptabel ist, dass für den dramatischen Stellenabbau keine zusätzliche Mark zur Verfügung gestellt wird, während die Investitionszulagen In keinem vernünftigen Verhältnis zur Zahl der erhaltenen Arbeitsplätzen stehen.
In der Stahlindustrie soll bis 1994 jeder zweite Beschäftigte freigesetzt werden; der zeitliche Verlauf des Stellenabbaus ist unklar. Selbst wenn man annimmt. dass auf jeden Arbeitsplatz in der Pkw-Produktion drei Arbeitsplätze in der Zulieferindustrie kommen, werden die Engagements von VW und Opel bestenfalls nur wenig mehr als einem Viertel der heute in diesem Industriezweig tätigen Menschen einen Arbeitsplatz sichern können.
Obgleich die vorgelegten Konzepte im Umfang viel zu kurz greifen, verschlingen sie doch riesige Geldbeträge. Für die Investitionen in der Stahlindustrie werden 4 Milliarden DM bis 1993 veranschlagt, d. h. etwa 100 000 DM je erhaltenen Arbeitsplatz. VW und Opel geben an, sie würden sich nur engagieren, wenn Investitionszulagen gewährt werden, wie es „international üblich“ sei, andernfalls würden sie es vorziehen, in Spanien oder Portugal Produktionsanlagen zu errichten. Mit diesem Hinweis verlangt VW 1,6 Milliarden DM, Opel nur bescheidene 400 Millionen DM. Wird wieder der günstige Beschäftigungseffekt auf die Zuliefererdindustrie veranschlagt, so bedeutet dies etwa 65 000 DM bzw. 40 000 DM je erhaltenen Arbeitsplatz.
Sind diese Summen gerechtfertigt? Werden hier nicht längst überholte Industriezweige mühsam am Leben erhalten, anstatt mit einem in die Zukunft gerichteten Konzept neue Industrien aufzubauen? Können nicht mit den gleichen Geldbeträgen in modernen innovatsionsreichen Branchen, die weniger kapitalintensiv arbeiten alt Stahl- und Pkw-Industrie, wesentlich größere Beschäftigungseffekte erzielt werden?
Wie fordern:
1. Eine Gesamtkonzeption für die Strukturpolitik der DDR, mit der der Übergang in die Marktwirtschaft geleistet werden kann.
2 Keine Vergeudung von Mitteln nach dem Gießkannenprinzip. Es müssen Prioritäten der Förderung erarbeitet werden und sozialpolitisch und ökologisch begründet sein. Bevor einzelne Milliardenbeträge zugesichert werden, muss offengelegt sein, wie viel Mittel überhaupt zur Verfügung stehen.
3. Finanzielle Mittel auch für den Stellenabbau. Der Stellenabbau ist unvermeidlich, doch sollte er zukunftsorientiert sein. Deshalb müssen Mittel bereitgestellt werden, in denen die Arbeitskräfte sich theoretisch und praktisch qualifizieren und umschulen können. Dies ist mit den Mitteln des Arbeitsförderungsgesetzes allein in dem jetzt notwendigen Umfang nicht möglich.
Tribüne, Nr. 137, Do. 19.07.1990