Stasi-AktenregeIung im Einigungsvertrag ist unzureichend

Zur Notwendigkeit einer Regelung, die das Material sicherstellt und seinen Missbrauch verhindert

Von Wolfgang Thierse MdV
Partei- und Fraktionsvorsitzender der DDR-SPD

Die SPD in der DDR unterstützt die Besetzerinnen und Besetzer der Archivräume des ehemaligen MfS/AfNS in der Ostberliner Normannenstraße in ihrem Anliegen, auf die völlig unzureichende Regelung des Umgangs mit der Stasi-Vergangenheit im Einigungsvertrag hinzuweisen.

Ich habe den Besetzern und den anwesenden Fraktionsvorsitzenden von CDU/DA, FDP und SED/PDS Vor Ort einen Lösungsvorschlag unterbreitet:

Das von der Volkskammer am 24. August 1990 einstimmig beschlossene Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS soll auch nach dem 3. Oktober 1990, längstens bis zum 31. Dezember 1995 in Kraft bleiben, bis die Lagerung und der Umgang mit den Akten des ehemaligen MfS/AfNS vom gesamtdeutschen Gesetzgeber geregelt sind.

Eine solche gesamtdeutsche Regelung muss zwei Gesichtspunkten besonders Rechnung tragen:

a) Die Bürgerinnen und Bürger der DDR müssen das Recht behalten, ihre Vergangenheit in eigener Verantwortung zu bewältigen.

b) Die Akten dürfen nur nach Maßgabe strenger datenschutzrechtlicher Bestimmungen eingesehen und verwendet werden. Ein Missbrauch zu politischen und kriminellen Zwecken muss ausgeschlossen sein.

Auf jeden Fall gilt es, im Einigungsvertrag, gegebenenfalls in einem dazugehörigen Briefwechsel, sicherzustellen, dass die Intention des von der Volkskammer am 24. August 1990 beschlossenen Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS auch nach dem 3. Oktober 1990 beachtet werden:

a) Möglichkeiten der Nutzung der Akten für die historisch-politische Aufarbeitung,

b) keine Vernichtung von Aktenmaterial,

c) Recht der Bürger auf Auskunft über das über sie existierende Aktenmaterial,

d) Verhinderung des Missbrauchs zu politischen und kriminellen Zwecken.

Die zwischen der Einbringung in der Volkskammer am heutigen Donnerstag [06.09.1990] und der ersten Lesung des Einigungsvertrages in der kommenden Woche verbleibende Zeit muss jetzt zu einem konstruktiven, parteipolitische Grenzen überschreitenden Gespräch genutzt werden, um dieses gemeinsame Interesse der DDR-Bevölkerung gegenüber der Bundesrepublik zu formulieren.

Der Umgang des Innenministers Diestel mit einem von der Volkskammer beschlossenen Gesetz ist ein Skandal.

Die Volkskammer hat das Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS beschlossen, als der Innenminister bereits für dessen zukünftige Unwirksamkeit hatte sorgen lassen. Dieser Innenminister besitzt nicht die notwendige Sensibilität im Umgang mit der Stasi-Vergangenheit. Er hat monatelang den Sonderausschuss zur Überprüfung der Abgeordneten der Volkskammer in seiner Arbeit behindert und belässt hohe ehemalige Funktionsträger der Staatssicherheit in ihren Führungspositionen. Wir verfangen die sofortige Entfernung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter aus höheren und mittleren Funktionen des Innenministeriums. Ebenso notwendig ist die Entfernung von Stasi-Mitarbeitern aus dem Staatsarchiv und die sofortige Beendigung der weiteren Verwaltung der Akten durch Stasi-Leute. Ich habe daher Innenminister Diestel aufgefordert, seinen Rücktritt zu erklären.

Sozialdemokratischer Pressedienst, 45. Jahrgang, 171, 06.09.1990

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