DOKUMENTATION

Sozialdemokraten aus Ost- und Westberlin fordern 1:1

Mit "großer Besorgnis" hat der gemeinsame Fachausschuss Wirtschaft des SPD-Landesvorstandes in West-Berlin und des SPD-Bezirksvorstandes in Ost-Berlin die zunehmender Ängste der Bürgerinnen und Bürger der DDR aufgenommen, "die durch die Politik der Bundesregierung verursacht werden". "Die hohen Erwartungen, die Bundeskanzler Kohl und andere Mitglieder der Bundesregierung im Hinblick auf die Währungs- und Wirtschaftsunion erzeugt hätten, schlügen sich jetzt in einem Klima der generellen Unsicherheit nieder", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Die beiden Vorsitzender des gemeinsamen Fachausschusses Wirtschaft, Prof. Dr. Nils Diederich MdB, Mitglied des Geschäftsführenden Landesvorstandes der SPD in West-Berlin, und Klaus Reiche, Mitglied des Bezirksvorstands der SPD in Ost-Berlin, fordern für die Umsetzung der Währungsunion die Einhaltung folgender Grundsätze:

1. Der Lebensstandard der Bürgerinnen und Bürger in der DDR und damit die laufenden Einkommen müssen gehalten werden. Bei der Umstellung der Löhne sind die Höhe der Sozialversicherungsabgaben und der Lohn- und Einkommenssteuern zu berücksichtigen. Die mit dem Subventionsabbau verbundene Umstellung auf Marktpreise ist gegebenenfalls durch Teuerungszuschläge auszugleichen. Die dynamische Rentenversicherung orientiert sich an der Höhe der laufenden Einkommen.

2. Mit der Währungsunion sind die Regelungen für ein Sozialversicherungssystem in Kraft zu setzen. Der Aufbau der Renten- Kranken- und Arbeitslosenversicherung und der Übergang in ein stabiles soziales Netz muss von der Bundesrepublik finanziert werden.

3. Die DDR braucht ein soziales Mietrecht. Für eine Übergangszeit muss eine Mietpreisbindung erhalten bleiben. Die Einführung kostendeckender Mieten kann nur etappenweise erfolgen und ist an die Einkommensentwicklung gebunden. Bei der Neufestsetzung der Mieten muss die Einkommenssituation der Mieter berücksichtigt werden. Gegebenenfalls erfolgt die Zahlung personengebundenen Wohngelds.

4. Die Übereignung von Grund und Boden muss in einem sozial orientierten Bodenrecht geregelt werden. Die Interessen der Gemeinden und die Grundsätze einer vernünftigen Regionalplanung müssen gewährleistet sein. Bodenspekulation ist zu unterbinden. Deshalb müssen alle seit dem 7. Oktober 1989 durchgeführten Grundstücks- und Gebäudeübertragungen überprüfbar und grundsätzlich widerrufbar sein.

5. Die Sicherung der Staatseinnahmen ist durch ein Steuersystem zu gewährleisten, das sozialen Mindestanforderungen gerecht wird und das die Leistungsbereitschaft fördert. Wichtigste Elemente dieses Steuersystems sind eine progressive Einkommenssteuer, eine Mehrwertsteuer sowie im Vergleich zum Bundesgebiet höhere steuerliche Präferenzen für investive Ausgaben.

6. Die Gebietskörperschaften, das heißt die Gemeinden und die zukünftigen Länder, müssen durch eine an angemessene Beteiligung an den Steuereinnahmen in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben auch weiterhin zu erfüllen.

7. Bestimmte soziale Betreuungsleistungen - zum Beispiel Kindergärten -‚ die zukünftig von den Kommunen oder von anderen Trägern erfüllt werden, müssen in ihrer Finanzierung gesichert sein.

8. Die Währungs- und Wirtschaftsunion darf nicht zu Lasten der Freuen durchgeführt werden.

9. Die Sparguthaben müssen gesichert und in ihrem Nominalwert erhalten bleiben. Die Freigabe muss gestaffelt erfolgen und sowohl die Interessen der Sparer als auch die der Wirtschaft berücksichtigen. Die Geldwertstabilität muss gewährleistet seht.

10. Eine Währungsunion mit einem Umtauschkurs 1:1 ist möglich. Die Argumentation des Zentralbankrates einem 1:1-Umtausch stünden die Schulden der DDR-Betriebe entgegen, ist ökonomisch unseriös. Die im Rahmen einer Kommandowirtschaft entstandenen Binnenschulden sind willkürlich und würden den belasteten Betrieben - bei welchem Umtauschkurs auch immer - den Start in, die Marktwirtschaft erschweren. Da sich dieses Binnenscheiden und Forderungen zwischen Betrieben, Banken und Behörden wie bei einer Konzernbilanz insgesamt saldieren, sind sie sämtlich zu streichen.

Das Geldvermögen der Bürgerinnen und Bürger sind Forderungen gegenüber dem Staat. Diesen Verbindlichkeiten des Staates steht daher das gesamte Produktivvermögen und ein großer Teil der Bausubstanz der DDR gegenüber, sie sind damit abgedeckt.

11. Eire Währungsunion mit einem Umtauschkurs von 1:1 ist notwendig. Ein niedrigerer Kurs würde zu großen sozialen Verwertungen führen. Gerade in Berlin, dem Zentrum der deutschen Vereinigung, wäre der soziale Friede gefährdet.

Der Gemeinsame Fachausschuss fordert die Bundesregierung auf, die Verhandlungen mit der Regierung der DDR fair zu führen. Erforderlich ist jetzt die schnelle Erarbeitung eines gemeinsamen Grundkonsenses über die Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion. Nicht die bloße Übernahme gesetzlicher Regelungen der Bundesrepublik, sondern der Ausgleich der Interessen beider Seiten ist erforderlich.

Sozialdemokratischer Pressedienst, 45. Jahrgang, 69, 9. April 1990

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