Schritte zur deutschen Einheit

Unter diesem Titel legte die SPD-Führung am Mittwoch [07.03.] in Bonn ein Papier zur operativen Deutschlandpolitik vor, das wir im Wortlaut dokumentieren.

Der Prozess der deutschen Einigung tritt mit der Wahl der Volkskammer am 18. März 1990 in ein neues Stadium. Die Parlamente und die Regierung der beiden deutschen Staaten müssen nach diesem Datum dem Prozess der Einigung konkrete Strukturen geben und eine Vielzahl wichtiger Entscheidungen treffen, in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Leipziger Parteitages unserer Schwesterpartei, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der DDR, sprechen wir uns für unseren Verantwortungsbereich für folgende Schritte zur deutschen Einheit aus:

1.

Die Parlamente und die Regierungen beider deutschen Staaten bekennen sich sogleich nach der Wahl vom 18. März 1990 in übereinstimmenden Beschlüssen

- zum Ziel der bundesstaatlichen Einheit.

- zur Endgültigkeit der gegenwärtigen Außengrenzen der beiden deutschen Staaten, insbesondere der polnischen Westgrenze und

- zur Einfügung der deutschen Einigung in die europäische Einigung und des deutschen Bundesstaates in eine gesamteuropäische Friedensordnung.

2.

Auf den für das tägliche Leben der Menschen besonders wichtiger Gebieten der Wirtschaft, der Währung, des Arbeitsrechts, des Tarifvertrags- und des Betriebsverfassungsrechts, der sozialen Sicherheit, der Umwelt und des Verkehrs kann und soll schon vorab die Einheit vorangebracht werden. Das gilt insbesondere für eine sozial abgesicherte Wirtschafts- und Währungsunion. Diese Schritte sind mit unseren Verpflichtungen innerhalb der EG und mit der weiteren Entwicklung der EG in Einklang zu halten.

Für Fälle dringenden Bedarfs sind Soforthilfen für die Versorgung und soziale Sicherung der Bevölkerung sowie für (spezielle Fälle) die Sicherung der Produktion zu vereinbaren und zu leisten. Schnellstmöglich sind Maßnahmen zu treffen oder zu vereinbaren, die die Beweggründe zur Übersiedlung in die Bundesrepublik abbauen.

3.

Auf die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und auf den Schutz der Schwächeren - etwa im Mietrecht - ist beim Einigungsprozess besonders zu achten. Dabei wird eine freie und unabhängige Gewerkschaftsbewegung von besonderer Bedeutung sein.

4.

Zur Vorbereitung und Begleitung dieser Schritte werden eine oder mehrere gemeinsame paritätisch besetzte Parlamentskommissionen, Länderkommissionen und Regierungskommissionen gebildet. Die Parlaments- und die Länderkommissionen sollen in der Regel gemeinsam tagen.

5.

Zur Einfügung des deutschen Bundesstaates in eine gesamteuropäische Friedensordnung bedarf es im Zuge des Helsinki-Prozesses des schrittweisen Ausbaus eines europäischen Sicherheitssystems, an dem die USA, die Sowjetunion und Kanada beteiligt sind. Dieses Sicherheitssystem soll an die Stelle der bestehenden militärischen Bündnisse treten. Die Friedensordnung soll für die Staaten, zwischen denen bisher kein Friedensvertrag besteht, friedensvertragliche Qualität erlangen.

Für einen zeitlich zu definierenden Übergang sind Regelungen zu vereinbaren, die die gegenwärtigen strukturellen Bindungen der beiden deutschen Staaten und ihrer Streitkräfte sowie die Truppenpräsenz ihrer jeweiligen Verbündeten auf deutschem Boden in ein neues Sicherheitssystem einbringen. Diese Regelungen bedürfen der Abstimmung mit den Vier Mächten, der Konsultation mit unseren Nachbarn und sodann der Behandlung im Rahmen einer KSZE-Konferenz. Mit ihrem Wirksamwerden entfallen Vorbehaltsrechte der Vier Mächte. Im Verlauf des dynamischen Einigungsprozesses darf Deutschland seine Partner und Nachbarn nicht vor vollendete Tatrechen stellen. Die deutsche Einheit darf nicht mit einer Vertragsverletzung beginnen.

Ein deutscher Vorschlag für die in Absatz 2 genannten Übergangsregelungen wird zur Vorbereitung der Verhandlungen mit den Vier Mächten ausgearbeitet. Beide deutsche Staaten unterstützen auch in diesem Zusammenhang gemeinsam alle Anstrengungen für umfassende Abrüstungsmaßnahmen und ergreifen entsprechende Initiativen auch in ihren jeweiligen Bündnissen und für den Bereich ihrer Streitkräfte.

Die Einfügung der deutschen Einigung in die europäische Einigung zielt auf die Integration aller europäischen Staaten zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum. Der zügigen Einbindung der Wirtschaft der DDR müssen alte mittel- und osteuropäischen Länder folgen können.

6.

Beide Seiten verständigen sich über ein konkretes Konzept für die Herstellung der bundesstaatlichen Einheit und die dafür erforderlichen Übergangsregelungen. Die notwendigen Verhandlungen sind im Geiste der Partnerschaft und der Gleichberechtigung zu führen. Für den Bereich der DDR sind diejenigen Sonderregelungen zu vereinbaren, die auch nach der Herstellung der bundesstaatlichen Einheit notwendig sind; so beispielsweise auf dem Gebiet des Bodenrechts.

7.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik hat sich bewährt. Die neue gemeinsame Verfassung soll deshalb vom Grundgesetz ausgehen und dieses in den Punkten ändern oder ergänzen, in denen die Errichtung des Bundesstaates des erforderlich macht oder die besonderen Gegebenheiten der DDR das geboten erscheinen lassen.

Die bundesstaatliche Einheit sollte anschließend an die vertragliche Vereinbarung durch des Inkrafttreten einer neuen Verfassung mit der Folge des Grundgesetz Artikel 146Artikel 146 GG hergestellt werden, die vom Volk in freier Entscheidung beschlossen wird. Dieser von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes für die Einheit vorgesehene Weg hat den Vorzug, dass das Volk selbst die deutsche Einheit begründet. Der Vollzug eines Beitritts gemäß Grundgesetz Artikel 23Artikel 23 GG, den nach dem Grundgesetz allein die gewählte Volksvertretung der DDR einleiten könnte, darf ebenfalls nicht ohne vorherige Verständigung über die sicherheitspolitische Einbindung des neuen Bundesstaats, die Einbeziehung in die EG, des konkrete Einigungskonzept, die Verfassung des neuen Bundesstaates und die Übergangsregelungen abgeschlossen werden.

8.

Beide Seiten bilden sobald einen Rat zur deutschen Einigung. Aufgabe dieses Rates ist es,

- den Einigungsprozess mit gestaltenden Vorschlägen zu begleiten und sich zu allen grundsätzlichen Fragen, und zwar auch zu den sicherheitspolitischen und EG-politischen Fragen beratend zu äußern sowie

- den Entwurf der erforderlichen Verfassungsbestimmungen auszuarbeiten.

Der Rat setzt sich aus einer gleichen großen Anzahl von Vertreterinnen und Vertretern der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zusammen, die jeweils zur Hälfte von den jeweiligen Parlamenten und den jeweiligen Ländern bestimmt werden. Er fasst seine Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit, die ein wechselseitiges Überstimmen der einen durch die andere Seite ausschließt.

Sozialdemokratischer Pressedienst, 47, 45. Jahrgang, 08.03.1990

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