Wir sollten uns jetzt nicht aus den Augen verlieren
Mit Friedrich Schorlemmer sprachen Junge-Welt-Mitarbeiter Angelika Griebner und Thomas Otto
Über dieses Wochenende wird man in der deutschen Geschichte noch eine ganze Weile reden - der 1. Juli als Datum der Währungsunion. Die Tage dieser Republik sind gezählt. Welche Gedanken bewegen Sie heute?
Wir haben uns selber um die Chance gebracht, wirklich die Deutsche Demokratische Republik zu werden, die versucht, einen anderen Weg zu beschreiten, der drei Kriterien genügt, die für das neue Jahrtausend hätten wichtig sein können.
Das erste Kriterium wäre, Demokratie mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden oder Demokratie sogar von der sozialen Gerechtigkeit her zu verstehen.
Und der zweite Gedanke, dass diese Republik sich nicht auf sich selber beschränkt, sondern sich weitet auf die eine Welt, für die wir Mitverantwortung haben, als Teil der Nordhälfte. Das, was wir immer internationale Solidarität genannt haben, auch praktisch politisch zu bewahren und im Bewusstsein der Menschen in der Tiefe zu verankern. Dies ist schmählich verraten worden zum Beispiel dadurch, dass Solidaritätsgelder für das FDJ-Pfingsttreffen missbraucht worden sind. Da ist meiner Meinung nach der letzte Rest von inneren Bewusstsein verschleudert worden durch die Parteiclique. Dazu gehört für mich, dass diese deutsche Republik ihre Brückenfunktion nach Osten hätte entfallen können. Nämlich zu den Polen hin und zur Sowjetunion hin. Auch dies ist durch Institutionen, die die SED geschaffen hat, zum Beispiel die DSF, mehr verhindert als ermöglicht worden.
Und das dritte ist, dass wir mit dem theoretisch-kritischen Besteck, das uns Karl Marx hinterlassen hat, wohl auch gerüstet gewesen wären gegen einen räuberischen Umgang mit der Natur, also gewissermaßen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in dem Maße beenden, wie wir auch die Ausbeutung der Natur durch den Menschen hätten beseitigen können. Marx hat schon sehr früh erkannt, dass wir den räuberischen Umgang mit der Natur nicht fortsetzen dürfen. Das war etwas prophetisch, wie vieles andere bei Marx auch prophetisch ist, aber man darf Gedanken nie zur Ideologie machen. Und das hat diese Partei im Leninschen Gefolge, muss man sagen, nicht im Stalinistischen nur, getan und damit einer Hoffnung der Welt, die der Sozialismus eigentlich ist, einen grundlegenden Schaden zugefügt.
Halten Sie dieses "Besteck" jetzt generell für unbrauchbar?
Nein, ich werde es weiterhin benutzen, aber nicht ideologisch. Nur ist es schade, dass der Missbrauch so viele Menschen davon abhält, es wieder in die Hand zu nehmen. Zu ihrem eigenen Schaden, aber manch mal, wie das deutsche Sprichwort heißt, wird man erst durch Schaden klug. Und wir sind durch Schaden erst mal unklug geworden. Jetzt müssen wir wieder klug werden. Verstehen Sie die Dialektik.
Die Vereinigung möge sich in Würde vollziehen, mahnten viele. Gerede das aber ist zu vermissen, macht Ihnen das nichts aus?
Natürlich macht mir das was aus. Ich bin doch hier aufgewachsen und bin auch bewusst hiergeblieben. Und halte das für ein gravierendes Risiko, auf das wir zugehen. Ich habe so den Eindruck, dass die potenten und reichen Westdeutschen uns wie chirurgische Patienten behandeln, sagen, wir schneiden euch mal die Beine ab, wollen mal sehen, wie ihr dann gehen könnt. Wir wissen, dass es ein Experiment ist und dass es historisch neu ist, aber wollen mal gucken, wie ihr gehen könnt. Wichtig daran ist zu sehen, dass es nicht ihre eigenen Beine sind, es sind unser.
Ich bin aus historischer Rücksicht (wenn man das Wort mal auseinandersschreibt, weiß man erst den Sinn) dafür, dass Deutschland nie wieder die stärkste Macht in Mitteleuropa wird, und insofern hätte ich mir natürlich mehr eine europäische Konföderation gedacht, in der auch die Deutschen konföderative Strukturen entwickeln, die das Nationale nicht für so wichtig erachten, wie es gegenwärtig ist. Aber nun ist es so geworden. Ich kann mir das auch erklären. Weil die DDR-Deutschen keine wirkliche Identität in diesem Land haben entwickeln können, haben sie im Nationalen die Zukunftsidee gesehen, in der Mehrheit jedenfalls. Ich gehöre nicht zu der Mehrheit.
Um auf ein Bild von Ihnen zurück zukommen - Jesus' ausgestreckte durchbohrte Hände in einer Zeit der Fäuste: Bricht diese Zeit nun an?
Das weiß ich noch nicht, es hängt viel davon ab, wie viel Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen wir haben. Also wie viel Selbstachtung haben die Menschen denn noch bei uns? Ich hoffe immer, dass ich Leute finde, die mit mir zusammen in den Laden gehen und gucken, was ist bei uns produziert worden, oder die in den Buchläden gehen und noch unseren Schriftstellern fragen oder die bei den Wahlen noch Menschen gucken, die aus unserem Lande stammen.
Das halte ich für eine Frage des Selbstvertrauens und der Selbstachtung der Menschen hier und dafür möchte ich eigentlich eintreten. Ich sehe nur, dass sehr viele Menschen sich blenden lassen, und hoffentlich werden sie dann nicht blind. Blenden lassen heißt ja, bei zu viel Licht nicht mehr zu wissen, wo die Richtung ist.
Ich denke schon, dass wir längerfristig in die gemeinsame deutsche Republik, die ich mir als einen Bund deutscher Länder vorstelle, mehr einzubringen haben, als wir jetzt sehen. Also zum Beispiel Sie und mich. Wir sind anders als die Bundesrepublikaner. Nur habe ich mir darüber nie Illusionen gemacht, dass die DDR-Bürger in ihrer Mehrheit allabendlich Republikflucht begangen haben und zufrieden gelebt haben in einer Alltagsexistenz, in der sie etwas anderes gesagt und gelebt haben als am Abend in ihrer Wohnung.
Aber es gibt auch Menschen, die in dieser Situation nicht zufrieden geworden sind. Mit denen zusammen möchte ich für eine soziale Demokratie im Bund deutscher Länder eintreten, eine soziale Demokratie, die sich in globaler Solidarität versteht und nicht in nationaler Verengung. Und da sehe ich viele Freunde und Mitstreiter aus verschiedenen Lagern, auch aus der ehemaligen SED, der jetzigen PDS. Der Klärungsprozess unter uns muss mit vielen Schmerzen noch vollzogen werden. Aber wir sollten uns nicht aus den Augen verlieren, wir, die in diesem Land geblieben sind. Auch wenn es schmerzlich ist, was wir uns da gegenseitig noch zumuten müssen.
Sie haben einmal gesagt, an die Stelle der Unberechenbarkeit der Macht sei die Unberechenbarkeit der Massen getreten. Letzteres trifft immer noch zu, ersteres schon wieder. Oder wie wirken zum Beispiel die Volkskammersitzungen auf Sie?
Ja, ich sehe, wie in der Volkskammer die alten Gesetze offenbar wieder funktionieren, dass die Volkskammer sich im Ganzen nicht versteht als eine Versammlung von Menschen, die nach Austausch der Argumente die richtigen herausschält und dann abstimmt, sondern ich habe den Eindruck, sie kommen mit einer bestimmten Meinung schon herein und hören gar nicht mehr zu, was die anderen sagen. Und dann stimmen sie ab, wie sie sich das vorher vorgenommen haben. Damit wäre die Volkskammer missbraucht als ein bloßes Macht- und Abstimmungsinstrument und nicht mehr als ein Gremium, in dem die Wahrheitsfindung institutionalisiert wird.
Mich wundert das nicht, was die CDU anbelangt, sie ist ja 40 Jahre lang gewöhnt gewesen, einfach die Hand zu heben. Die Disziplinierung hat hier schon lange stattgefunden, und ich bin nur etwas irritiert dadurch, dass die SPD viele Dinge so nachvollzieht, weil ich in dieser Partei bin. Aber ich sehe, dass diese Partei doch in sich Pluralität entwickelt und demokratische Verhaltensweisen zulässt. Ich hoffe es bleibt so. Und hoffe auch, dass wir mit der Erfahrung des Herbstes '89 In die neue deutsche Republik eingehen, und dass die Impulse, die von den Bürgerbewegungen ausgegangen sind, für die gemeinsame deutsche Republik weiter von Bedeutung sein werden. Mit anderen zusammen, nicht nur DDR-Deutschen, sondern auch Bundesdeutschen, möchte Ich mich sehr dafür stark machen, dass wir uns eine gemeinsame deutsche Verfassung erarbeiten und dabei das ganze Volk einbeziehen. Das erste ist für mich nicht die Frage, ob wir das erreichen werden, sondern, ob das nötig ist. Denn viele lassen sich zu schnell dadurch lähmen, dass sie schon vorher wissen, dass sich etwas nicht erreichen lässt.
Ich frage zuerst mal, was ist nötig, und dann frage ich, was ist möglich. Wenn ich andersrum gefragt hätte, hätte ich gar nicht in diesem Land leben können.
Noch mal zu den Impulsen vom Herbst, weil damals eine grobe Hoffnung geboren wurde. Sehen Sie diese Hoffnung jetzt mit der Art und Weise des Anschlusses nicht als begraben an?
Nein, allerdings ist die Revolution erfolgreich gekauft worden.
War es wirklich eine Revolution?
Ja, es ist eine Selbstbefreiung des Volkes gewesen, die natürlich nicht denkbar ist ohne das, was die Polen und die Ungarn gemacht haben, und überhaupt nicht denkbar ohne den Politiker, der auf der Höhe der Zeit war und geblieben ist Michail Gorbatschow. Es war eine wirkliche Revolution, sie Ist aber schließlich gekauft worden, und zwar, weil das Volk sich in seiner Mehrheit auch hat kaufen lassen, das ist gar keine Frage.
Aber hier ist im Herbst soviel aufgebrochen im Land, das lässt sich nicht so schnell vergessen machen. Was jetzt schon Historie ist, wird wieder Geschichte werden. Denn was vergangen ist, ist nicht vergangen, sondern birgt die Kraft der Veränderung in sich. Nur müssen wir jetzt sehen, dass wir in guter Verfassung die neue Verfassung erreichen, damit uns das Trauma von Weimar nicht übermannt. Die sozialen Spannungen dürfen nicht zu einer Rechts-Linkspolarisierung führen. Das müssen wir dringend vermeiden. Und zweitens dürfen wir nicht in die Verengungen und Verhärtungen einer bloßen Parteiendemokratie kommen, in denen Parteien meinen, alle vier oder fünf Jahre fragen sie das Volk mal, und ansonsten machen sie, was sie wollen Und wenn die Volkskammer eine solche Bannmeile um sich herumzieht, als wenn dieses Volk im Herbst gewalttätig gewesen wäre, frage ich mich, was denken sie eigentlich von diesem Volk, von diesen Studenten. Also ich wüsste nicht, ob ich es als Abgeordneter in der Volkskammer aushielte, wenn ich sehen müsste, dass eine Bannmeile zwischen mir und dem Volk aufgerichtet wird. Aber das müssen die Abgeordneten für sich entscheiden.
Ich denke dass die schwierigste Frage der Zukunft sein wird, wie wir die Parteiendemokratie mit der Spontanität der Bürgerbewegungen verbinden, die viel unmittelbarer auf konkrete und regionale Probleme reagieren und dies parlamentarisch umsetzen können.
Wie real sind denn überhaupt noch die Möglichkeiten des Bürgers, außerhalb von Kommunen einzugreifen, um etwas zu bewirken, zu verändern?
Wir müssen uns jetzt dringend mit den radikalen Demokraten in der Bundesrepublik verbünden. Nichts ist schlimmer, als zu früh aufzugeben. Man darf nicht schon in die Knie gehen, wenn ein Gegner zum Faustschlag ausholt. Das hilft nun wirklich nicht. Und ich denke zum Beispiel, dass die Diskussion über eine neue Verfassung nun unbedingt geführt werden muss. Etwa über die Frage, wie wir mit der Teilung der Arbeit umgehen. Nicht, dass die einen Arbeit haben und die anderen keine. Wie wir den Schutz der Umwelt als ein Verfassungsgebot einbeziehen, wie wir uns nicht nur verantwortlich fühlen für die Deutschen, sondern für alle, die im Geltungsbereich der neuen Verfassung leben. Ich möchte nicht einen ethnisch begründeten Geltungsbereich hier haben, sondern einen sogenannten Verfassungspatriotismus.
Dann wäre auch die Frage zu klären, wie wir uns in der ganzen Wehrfrage verhalten, und wie weit wir Deutschen als Verfassungsgebot die Friedenspflicht konkret festschreiben. Ob wir den Begriff der Sicherheitspartnerschaft mit aufnehmen, deutsche Politik nur noch in europäischer Perspektive verstehen.
Wie wir den Schutz der Alten und der Schwachen besser festlegen können, wie die Gleichberechtigung der Frau besser gewährleistet wird . . .
Wir haben eine großartige Chance, weil nämlich bundesrepublikanische Verfassung und Grundgesetz sich als Provisorium begreifen und freie Selbstbestimmung fordern. Man muss jetzt definieren, was freie Selbstbestimmung heißt. Das kann nicht heißen, dass in der Schublade von Herrn Schäuble das Entsprechende schon liegt und dann vielleicht der Artikel 146 im Handstreich oder im Staatsstreich gestrichen wird. Das gilt es zu verhindern. Und es muss unsere gemeinsame Sache sein.
Wir sollten unser Vaterland lieben, aber nicht im Unterschied und in, Abstand zu anderen, sagten Sie in einem Interview. Was ist denn Vaterland für Sie?
Ja, manche sagen lieber Mutterland. Das könnt ihr auch so verstehen. Es ist das Land meiner Muttersprache, es ist das Land von Brahms und Brecht und von Bach und von Brandt. Ich denke, es ist ein so reiches, vielfältiges Land, und ich liebe es. Die Grenzen interessieren mich nicht, wenn sie überwindbar sind. Ansonsten bin ich Norddeutscher.
Haben Sie noch einen Traum?
Oh, viele Träume. Zum Beispiel, dass diejenigen, die sich im Herbst gefunden haben, sich nicht ganz verlieren in der deutschen Demokratie.
Ich gehöre nicht zu denen, die das aufgeben werden. Wenn ich keinen Traum hätte, hätte ich gar keine Kraft mehr.
Wen oder was achten, wen oder was verachten Sie?
Ach, wen ich verachte, das ist nicht mein Thema. Ich achte Menschen, die sich ihr Leben lang dafür aufzehren, die Verständigung zwischen Menschen zu organisieren. Menschen wie Martin Luther King, die auch in sehr schwierigen Situationen nicht aufgeben. Die um Versöhnung ringen, wo Menschen sich verhärtet haben. Und das ist auch meine Aufgabe als Pfarrer und als Christ. Mein kleiner Band, der jetzt im Juli erscheint im Verlag der Nation, heißt: Träume und Alpträume. Genau dazwischen befinde ich mich auch, dazwischen vollzieht sich das Leben.
Friedrich Schorlemmer ist Jahrgang 1944. Nach seinem Theologiestudium in Halle arbeitete er als Vikar in Halle-Neustadt, dann als Jugend-und Studentenpfarrer In Merseburg. Seit 1978 lehrt er am Evangelischen Predigerseminar zu Wittenberg. In der Schlosskirche, an deren Tür Martin Luther 1517 seine 95 Thesen nagelte, wirkt er als Pfarrer. Friedrich Schorlemmer gehörte zunächst der Partei Demokratischer Aufbruch an, die er aber recht bald verließ, um der SPD beizutreten. Seit Mai dieses Jahres leitet er deren Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung. - Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Junge Welt, Nr. 150, Sa. 30.06.1990