"Ich gebe der Sozialdemokratie eine große Chance"

Ibrahim Böhme, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR "SDP", sieht Chancen für eine reformierte SED, wenn sich die Machthaber in Ost-Berlin in allernächster Zeit zu konkreten Reformen entschließen / Noch verfüge die Opposition über keine ausgearbeitete Programmatik für eine künftige DDR

taz: "Wenn in der DDR der Zug abfährt, der Glasnost und Perestroika heißt, werden wir darauf achten, dass nicht die Bremser von heute auf der Lok sitzen." Das haben Sie vor einem Jahr gesagt. Jetzt sieht es so aus, als würde zwar der Zug losfahren, die Bremser aber zumindest versuchten, sich auf der Lok zu halten.

Ibrahim Böhme: An diesem Zitat halte ich weiter fest. Dennoch bin ich der Meinung - sollte es in nächster Zeit einen Dialog geben, an dem die Vertreter der Menschen in diesem Land beteiligt sind -, dass nicht die erste Frage sein sollte, wer hat welchen Schuldanteil, sondern wer hat für eine schwierige Übergangslösung, die Demokratisierung im umfassenden Sinne ermöglicht, welche Konzepte zu bieten. Ich halte es für ganz wichtig, dass alle, die Sachkompetenz mitbringen, die Vorstellungen von Übergangslösungen haben, an diesem Tisch sitzen sollten.

Bringt Egon Krenz diese Kompetenz mit?

Ich glaube, dass er als Person für vieles, was in der letzten Zeit gelaufen ist, verantwortlich ist, beispielsweise für die Wahlfälschungen oder die repressiven Maßnahmen; aber ich glaube, dass er hinter sich und um sich eine Reihe von Personen hat, die in der Lage sind, Konfrontationspotential in der Partei abzubauen. Wir müssen aber erkennen, dass wir an den über zwei Millionen Parteimitgliedern - allerdings werden es demnächst wesentlich weniger sein - nicht vorbeikommen, und dass in der mittleren Ebene die meisten sachkompetenten Leute zu finden sind, die zum überwiegenden Teil der SED angehören. Ich glaube, dass der Zug mit dem Dialog anfahren wird. Damit wird sich der Prozess der Demokratisierung soweit verselbständigen, dass auch Egon Krenz und andere Personen nur eine Übergangslösung bleiben werden.

Aber mit seinen jüngsten Schritten versucht Krenz doch gerade, aus dem Status eines Übergangskandidaten herauszukommen.

Ich glaube, dass Krenz, was seine Einsicht in Problementwicklung und Problemlösung anbelangt, von den meisten seiner Gegner, die ihn nur als den Sachwalter von Macht wahrnehmen, unterschätzt wird. Wenn ich mich in die Position von Krenz und den Leuten, die ihn zum Generalsekretär gewählt haben, hineinversetze, dann hat er bislang zumindest eine sehr flexible Vorstellung gegeben. Er muss sich zwischen drei Feldern bewegen: Er muss versuchen, der Gefolgschaft der Opposition etwas anzubieten, er muss den vielen Unentschiedenen etwas anbieten und er muss den Parteigläubigen so etwas retten wie einen Fixpunkt, an dem sie sich festmachen können. Aus dieser Perspektive betrachtet, hat er schon anlässlich seiner Wahl eine taktisch kluge Rede gehalten, auch wenn für mich, wie für die meisten Oppositionellen, seine Reformversprechen äußerst verschwommen angelegt sind.

Welche Strategie verfolgt die Staatsführung?

Krenz wird versuchen, mit Reformbestrebungen so weit zu gehen, dass er der Opposition Gefolgschaft abziehen, zumindest aber Menschen verunsichern kann, um dann unter Umständen die Oppositionsbewegung zum Erliegen zu bringen. Ich glaube, dass die Führung im Moment nicht in der Lage ist, repressiv mit der Opposition umzugehen. Damit würde sie selbst ihre Glaubwürdigkeit in der Partei restlos verspielen. Denn die SED befindet sich derzeit in einem Auflösungsprozess, auch wenn ich nicht soweit gehen würde wie Hermann von Berg, der jüngst behauptet hat, unter den Bedingungen von freien Wahlen würden 80 Prozent der SED-Mitglieder die Sozialdemokraten wählen.

Wäre die Rede von Krenz vor drei Monaten gekommen, hätte er möglicherweise die Parteibasis für die SED retten können. Die Rede kam genau drei Monate zu spät. Drei Monate hat man geschwiegen, um den Veteranen einen möglichst unbeschädigten Geburtstag rüberreichen zu können. Diese drei Monate sind der historische Zeitraum, in dem sich die Opposition erstmals deutlich der Bevölkerung vermitteln konnte.

Ist die Einschätzung, die SED befinde sich bereits in Auflösung, nicht überzogen?

Ich habe in den letzten Wochen im ganzen Land mit sehr vielen SED-Genossen gesprochen. Es ist zum Beispiel so, dass ganze SED-Grundorganisationen ihre Arbeit völlig suspendiert haben, weil das Programm von Krenz weit unter ihren Erwartungen bleibt. Da ich die Verbitterung und Orientierungslosigkeit vieler SED-Genossen erlebt habe, halte ich es für wahrscheinlich, dass unter dem zunehmenden massiven Druck friedfertiger Demonstrationen immer mehr Genossen - und nicht nur am Rande der Parteibasis - die Partei entweder verlassen oder der Partei ihre Gefolgschaft verweigern werden...

...um eine Reform-SED auf den Weg zu bringen?

Am liebsten wäre es mir bei der Orientierungslosigkeit, Konfusion und Hilflosigkeit der Menschen, wenn es eine reformierte SED als Dialogpartner am Tisch aller Kräfte gäbe, die die Zustände in diesem Land grundlegend verändern wollen. Ich behaupte nicht, das sei unmöglich, aber ich würde aus meinen Erfahrungen sagen, ich halte es nicht für wahrscheinlich. Sollte ich Unrecht haben, und sollten sich die Reformkräfte in der Partei akzentuieren wollen, dann sollten sie es jetzt tun vor dem Hintergrund wachsender Demonstrationswilligkeit und vieler Unberechenbarkeitsfaktoren. Damit würde unnötige Konfrontation vermieden.

Natürlich würden wir es begrüßen, wenn in der SED maßgebliche Leute erkennen, dass man mit der Opposition nicht nur in Dialog, sondern in die Übergangslösung eintreten muss. Dazu gehört auf Seiten der SED die Preisgabe von Allmachts- und Wahrheitsanspruch. Die Aufgabe des Führungsanspruchs, das Bescheiden mit der Teilnahme an der Macht ist das entscheidende Moment, an dem sich die ernsthafte Reformbereitschaft der SED erweisen muss.

Ich glaube, dass wir uns die Option mit einer Reform-SED schon auch deshalb offen halten müssen, weil keine oppositionelle Gruppe und auch alle Gruppen zusammen nicht über eine abgeschlossene, den Perspektiven dieses Landes entsprechende Programmatik verfügt. Da stehen wir noch ganz am Anfang. Da gibt es eine ganze Reihe neuralgischer Punkte, die auch wir als SDP haben.

Wie sehen Sie die Rolle der SDP im Prozess der sich differenzierenden Opposition?

Ich glaube, dass die SDP über einen langen Zeitraum hinweg unter allen Gruppen, was die Zahl an Mitgliedern und Sympathisanten betrifft, den geringsten Zuspruch verbuchen kann. Das hängt damit zusammen, dass die SDP wahrscheinlich schon über einen Minimalkonsens der Zustandsanalyse hinausgeht und programmatische Ansätze entwickelt. Es hängt aber auch damit zusammen, dass eine sozialdemokratische Bewegung unter jüngeren Leuten überhaupt noch nie angedacht wurde.

Ich gebe der Sozialdemokratie aber gerade aufgrund dessen, dass sie nicht auf der Basis des Minimalkonsenses Mehrheiten zu erreichen versucht, eine große Überlebenschance. Das hängt auch damit zusammen, dass die Sozialdemokratie bei aller negativer historischer Belastung in Mitteleuropa im Moment und auch weiterhin attraktive programmatische Grundsätze verbindet: Sozialstaatlichkeit in Verbindung mit sozialer Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Verantwortung für die ökologischen Prozesse, konsequente Friedenspolitik und nicht zuletzt so etwas wie politische Pragmatik. Dennoch muss gesagt werden, dass wir zum Beispiel vielen Positionen der Grünen näher stehen als etwa denen der Sozialdemokratie der 70er Jahre.

Warum haben Sie dann keine grüne Partei gegründet?

Die grüne Partei kann für uns keine Alternative sein, weil wir mit diesen unverbindlichen, immer wieder von innen heraus in Frage gestellten politischen Strukturen in einem politischen System, wie es in der DDR noch herrscht, nichts ausrichten könnten. Wir würden uns politisch handlungsunfähig machen.

Können Sie mit Ihrer Gründung an sozialdemokratische Traditionslinien in der DDR-Gesellschaft anknüpfen?

Es ist schon interessant, dass es im thüringischen und sächsischen Raum sofort Initiativen zur Gründung von Ortsverbänden gab. Das hängt mit der dort sehr konzentrierten Arbeiterbewegung seit Ende des vergangenen Jahrhunderts zusammen, die SPD-Hochburgen waren. In Berlin haben wir die meisten Anfragen aus dem Prenzlauer Berg, ebenfalls eine ehemalige SPD-Hochburg. Ich betone aber noch mal: Ich glaube nicht, dass uns in nächster Zeit Scharen von Menschen zulaufen werden. Wir lehnen es auch grundsätzlich ab - wie uns das in einigen sächsischen Städten angeboten wurde -, Betriebszellen zu gründen, weil wir von dem Grundsatz ausgehen, dass sich die Parteien aus den Betrieben zurückziehen und auf kommunaler Ebene strukturieren sollten.

Als sich Ihre Gruppe bildete, hat die SPD sehr distanziert reagiert. Mittlerweile ist sie deutschlandpolitisch so unter Druck geraten, dass kein führender Vertreter mehr ein Statement abgibt ohne Grußadresse an die SDP.

Das ist entweder euphorisch oder ironisch gemeint. Doch man sollte in dieser Frage durchaus fair mit der SPD umgehen. In den 50er und 60er Jahren war es nur die SPD, die informelle Gesprächskontakte gesucht hat. In den beginnenden 70er Jahren hat die SPD im Zuge der Aussöhnung mit den osteuropäischen Ländern versucht, offizielle Kontakte herzustellen, um ihre Auffassung von Deutschlandpolitik praktischen Spielraum zu geben. Nur diesen Kontakten war es zu verdanken, dass nach langen Verhandlungen der Grundlagenvertrag zustande kam. Der hat der ganzen DDR, nicht nur der Führung etwas gebracht.

Aber in den letzten Jahren ist die SPD-Politik hinsichtlich der DDR-Bevölkerung und ihrer Vertreter in der Opposition unflexibel geworden, weil sie die in den 70er Jahren taugliche, offizielle Politiklinie nicht verlassen hat. Natürlich freuen wir uns über die Sympathiekundgebungen, die uns jetzt von Seiten der SPD entgegengebracht werden. Jegliche finanzielle Unterstützung durch die SPD lehnen wir allerdings ab.

Was geschieht denn mit den marxistischen, sozialistischen Traditionslinien, die in der westlichen Sozialdemokratie weitgehend verloren gegangen sind?

Ich persönlich bin alternativer Marxist, glaube aber, dass die Lehre des Klassenkampfes heute keinen Bestand mehr hat. Was ich für die zukünftige wirtschaftliche Struktur der DDR favorisieren würde, nämlich gesellschaftliche und genossenschaftliche Eigentums- und Produktionsformen, da sehe ich durchaus Anknüpfungspunkte. Der Fehler in der DDR war ja, dass man glaubte, die "Expropriation der Expropriateure" würde bereits ein neues Eigentümerbewusstsein schaffen. Ich glaube, dass man den traditionellen Marxismus in seinen Maximalpositionen zurücknehmen muss, dass man auch auf dem Gebiet von Produktion und Konsumption die anthropologischen Strukturen menschlichen Verhaltens mit einrechnen muss. Man kann doch aber beispielsweise mit einem sauberen, parlamentarisch verabschiedeten Gesetzeswerk erreichen, dass es selbst unter der Akzeptanz von Privateigentum neben anderen Eigentums- und Produktionsformen nicht mehr den prinzipiellen Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung gibt.

Ich glaube, es gibt einen Sozialismus, in dem Privateigentum durchschaubar, kontrollierbar neben anderen Eigentumsformen steht. Private, genossenschaftliche und volkseigene Betriebe werden miteinander konkurrieren.

Wird der Versuch, die Wirtschaft effizienter zu gestalten, nicht zwangsläufig in Widerspruch zu Ihren sozialstaatlichen Ansprüchen geraten?

Auch wenn ich da in der DDR derzeit ausgesprochen unpopulär bin, muss ich erklären: Ich bin für ein geringeres Schrittmaß bei der ökonomischen Entwicklung, wenn es um die Sicherstellung sozialer Bedingungen für die Menschen geht. Jede absolute Forderung nach ökonomischer Effizienz gefährdet erst einmal die ökonomisch schwächsten Schichten der Bevölkerung. Ähnliches gilt in der Frage der Subventionspolitik. Subventionen können erst aufgehoben oder umgeschichtet werden, wenn man sich über die Folgen klar ist. Ich möchte nicht, dass Rentner oder kinderreiche Familien wie in Berlin West bei den Sozialämtern Schlange stehen. Jenseits sozialstaatlicher Überlegungen im engeren Sinne muss man in diesem Zusammenhang immer auch bedenken, dass vor dem Hintergrund fehlender nationaler Identität die DDR eine ökonomische Sanierung wie in Polen oder Ungarn nur schwer verkraften würde.

Im Unterschied zu Polen hat die DDR ihren runden Tisch noch vor sich. Sehen Sie für die SED überhaupt noch die Chance, Verhandlungen über die weitere Entwicklung zu umgehen?

Ich sehe nicht mehr die Möglichkeit, dass sich die Machthaber wieder so stabilisieren, dass sie ohne den Dialog auskommen können. Sie müssen jetzt angeben, in welchen Zeiträumen sie welche Reformmaßnahmen realisieren werden. Wenn sie sich aber in der nächsten Zeit nicht auf konkrete Schritte festlegen lassen, müssen sie schon bald abtreten.

Abtreten auf Druck von unten?

Ja.

Den Sie organisieren werden?

Den brauchen wir gar nicht zu organisieren. Ich glaube, wenn nicht bald konkrete Schritte kommen, müssen wir den Druck von unten eher bremsen.

Wie sehen die konkreten Schritte aus, die Sie einklagen werden?

Als erstes muss die versprochene Reform des Reisegesetzes kommen, als zweites die unabhängige Untersuchungskommission zu den Vorgängen am 7. und 8.Oktober, dazu eine Veränderung des politischen Strafrechts, dann die Zulassung aller oppositionellen Gruppen, soweit sie sich auf demokratischem Boden bewegen. Und außerdem, ganz wichtig, eine Kommission unter Einschluss der Opposition zur Überarbeitung der Verfassung. Die Verfassungsreform steht aus und die wird durch einen Volksentscheid verabschiedet werden. Was ich als wesentlich ansehen würde, weil es hier um die bald schon wichtigste demokratische Bewegung im Lande gehen wird: die Zulassung unabhängiger, freier gewerkschaftlicher Tätigkeit. Auf dieser Basis wird sich dann die Diskussion eines Betriebsverfassungsgesetzes und eines Wirtschaftsstrukturgesetzes vollziehen.

Wann kommt der Dialog, in dessen Verlauf Sie das durchsetzen können?

Ich halte für möglich, dass man sich auf eine unabhängige Untersuchungskommission zu den Vorgängen am 7. und 8. Oktober einigen wird, und ich halte es für gar nicht so ausgeschlossen, dass sich auf dieser Basis Verhandlungen schon in der nächsten Zeit ergeben werden.

Sie meinen, dass die Untersuchungskommission für die SED eine Lernerfahrung sein könnte, die sie zu weiteren Verhandlungen motiviert?

Die erste Lernerfahrung hat sie schon weg, dass sich nämlich die Bevölkerung nach einem bestimmten Maß an ertragener Repression nicht mehr einschüchtern und auch nicht zu Gewalttätigkeiten provozieren lässt. Die zweite war, dass auch eine noch so vollmundige Absichtserklärung des Generalsekretärs niemanden mehr vom Hocker reißt. Die Untersuchungskommission könnte die dritte Lernerfahrung sein.

Interview: Matthias Geis

aus: taz, 02.11.89

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