SPD für starke und parteienunabhängige Einzelgewerkschaften
Als Anwalt gefordert
Am Rande des Leipziger Parteitages Fragen an Steffen Reiche, Mitglied des Landesvorstandes
• Die Sozialdemokratie ist bekannt für ihre Nähe zu den Gewerkschaften. Sieht das die DDR-SPD auch so?
Ja. Sie ergibt sich aus unserem wesentlichen Grundsatz der sozialen Absicherung, die wir anstreben. Um sie für die breite Bevölkerung zu verwirklichen, braucht man die Gewerkschaften. Die SPD kann als Opposition oder in der Regierungsverantwortung die politischen Rahmenbedingungen schaffen, zum Beispiel für ein Betriebsverfassungsgesetz sorgen. Die Gewerkschaften sollten innerhalb ihrer Möglichkeiten gute Tarif- und Arbeitsbedingungen aushandeln beziehungsweise erhalten.
• Sehen Sie ein Zusammenwirken ab sofort oder nach dem 18. März?
An uns soll es nicht liegen. Im Moment scheint es mir in der DDR noch schwierig zu sein. Es steht meines Erachtens immer noch die Frage, ob der FDGB oder die Einzelgewerkschaften wirkliche Interessenvertreter sind. Denn dazu bedarf es einer echten Erneuerung von unten. Ist sie eindeutig erkennbar, sind wir zur Zusammenarbeit bereit.
• Ist aus diesen Zweifeln heraus zu erklären, dass sich der Entwurf des SPD-Grundssatzprogramms in dieser Hinsicht sehr verhalten geäußert hat?
Im Grundsatzprogramm sind eindeutige Aussagen getroffen worden, in denen wir starke und parteiunabhängige Einzelgewerkschaften fordern. Dass es auf dem Leipziger Landesparteitag dazu trotzdem, wie auch zu anderen Schwerpunkten des Programms, Anträge gab, halte ich für wichtig. Deswegen wurde auch eine Gruppe mit sechs Gewerkschaftsexperten gebildet, die Präzisierungen eingebracht haben. Im übrigen sind wir von den einst oppositionellen Bewegungen die ersten gewesen, die Tarifautonomie und Streikrecht gefordert haben. Das geschah bereits in unserer programmatischen Erklärung in Schwante am 7. Oktober vergangenen Jahres.
• Was halten die Sozialdemokraten von einem Dachverband?
Den halten wir für sehr notwendig. Wie gesagt, vorausgesetzt, es findet eine Erneuerung der Einzelgewerkschaften statt, aus denen sich ja erst ein Dachverband erneuern kann.
• Sind Sie für die Existenz von Betriebsräten und Gewerkschaften im Betrieb?
Unseres Erachtens geht das eine ohne das andere nicht. Über ein Betriebsverfassungsgesetz muss erst das Parlament entscheiden. Daraus ergibt sich die Art des Wirkens beider im Betrieb. Nach unserer Auffassung kann es eine direkte Präsenz der Gewerkschaften in den Betrieben nicht geben, wohl aber ihre starke Präsenz in den Betriebsräten.
• Wie könnte die Zusammenarbeit der SPD mit den Gewerkschaften aussehen?
Zum Beispiel durch direkte Kontakte, Gespräche vor der Erarbeitung von Gesetzesvorlagen. Wir sehen uns als stärkster Anwalt sozialer, ökonomischer und ökologischer Fragen. Es wird viel davon abhängen, wie es die Gewerkschaften verstehen, die Einschnitte wie Arbeitslosigkeit, die aus einer verfehlten Politik auch des ehemaligen FDGB sich auszuweiten droht, für Menschen in unserem Land sozial am verträglichsten zu gestalten.
Das Gespräch führte
Helgard Kowitz
Tribüne, Di. 27.02.1990