Die deutsche Einigung muss die Gemeinschaft der Europäer stärken

DDR-Außenminister Markus Meckel zu aktuell-politischen Fragen

Unmittelbar vor der Pariser Zwei-plus-Vier-Konferenz gewährte DDR-Außenminister Markus Meckel der Presseagentur DETOURA ein Interview, aus dem wir die wichtigsten Passagen dokumentieren.

Der Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten stößt überall in der Welt aus einer Vielzahl von Gründen auf außerordentliches Interesse. Welche Auffassung vertreten Sie im Hinblick auf das Tempo dieses Zusammenwachsens?

Das Tempo des deutschen Einigungsprozesses ist höher geworden, als ich es mir gewünscht hätte. Zum einen hat sich seit November letzten Jahres gezeigt, dass dieser Prozess eine Eigendynamik entwickelt hat, die nicht aufzuhalten war, und zum anderen aber hätte vieles behutsamer vollzogen werden müssen. Ein "Zusammenwachsen" geht nicht von heute auf morgen.

Ich hoffe, dass es uns im Rahmen der 2-plus-4-Verhandlungen gelingt, die äußeren Aspekte der Vereinigung sorgfältig und vernünftig sowie in Übereinstimmung mit den Interessen aller beteiligten Seiten bis zur gesamtdeutschen Parlamentswahl zu regeln. Dann steht einer Vollendung der staatlichen Einheit durch den Beitritt der DDR nach Artikel 23 GrundgesetzArtikel 23 des Grundgesetzes nichts mehr entgegen.

Sie haben zur Frage der Bündniszugehörigkeit eines vereinigten Deutschlands im Kern erklärt: Einbindung ja, aber es sei schwer vorstellbar, dass es kurzfristig eine andere Einbindung als die in der NATO geben kann. An welche Voraussetzungen binden Sie diese Aussage?

Die Regierung der DDR vertritt die Auffassung, dass das vereinigte Deutschland für eine Übergangszeit bis zur Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems Mitglied einer eindeutig politisch ausgerichteten und militärisch deutlich reformierten NATO sein sollte.

Die auf dem Gipfeltreffen der NATO-Staaten beschlossene Zielvorstellung für eine europäische Friedensordnung kommt unseren Überlegungen in bestimmtem Maße entgegen.

Wie sieht der DDR-Außenminister den Weg des Hineinwachsens in die Europäische Gemeinschaft?

Für die Regierung der DDR ist die europäische Verankerung der deutschen Einigung von zentraler Bedeutung. Ein Beitritt der DDR zur EG ist ja nicht erforderlich, da die DDR mit der Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes in die EG integriert wird. Aber es wird spezifische Probleme der DDR bei diesem Hineinwachsen geben. Insbesondere halten wir zeitlich befristete Übergangs- und Änderungsregelungen in solchen Bereichen wie Landwirtschaft, Textil- und Stahlindustrie, aber auch im Verkehrswesen und beim Umweltschutz für erforderlich. Es ist die Aufgabe der entsprechenden Ministerien, diese spezifischen Anliegen und Interessen der DDR zu fixieren, um sie dann in die Arbeit der EG-Kommission einzubringen. In diesem Zusammenhang sollten vor allem die sozialen Belange der Menschen in der DDR berücksichtigt werden.

Lassen Sie mich abschließend darauf verweisen, dass mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrages und dem Wirksamwerden des EG-Zollrechts am 1. Juli 1990 bereits ein entscheidender Schritt für das Hineinwachsen der DDR in die EG getan wurde.

Welchen Grad an Übereinstimmung gibt es im Hinblick auf die These, dass die sich schnell vollziehende deutsche Einigung als Katalysator für den europäischen Einigungsprozess dienen muss, mit dem Außenminister der Bundesrepublik Deutschland?

Es besteht mit meinem Amtskollegen Hans-Dietrich-Genscher völlige Übereinstimmung darin, dass die deutsche Vereinigung die Gemeinschaft der Europäer stärken muss. Sie soll dazu beitragen, die Spaltung Europas und die Blockkonfrontation zu überwinden sowie den KSZE-Prozess ebenso wie die Abrüstungsverhandlungen zu fördern. Insbesondere sind wir uns darin einig, dass die deutsche Einigung den sicherheitspolitischen Interessen unserer osteuropäischen Nachbarn, in erster Linie der UdSSR, Polens und der Tschechoslowakei, in gleicher Weise entsprechen muss, wie dies gegenüber allen anderen europäischen Partnern des künftigen Deutschlands sein soll.

Wie schätzen Sie den Stand der 2-plus-4-Gespräche ein?

Die bisher durchgeführten Außenminister- und Beamtentreffen haben bereits wichtige Ergebnisse erzielt. Dazu gehört die Regelung zur Grenzfrage mit Polen, eine Vereinbarung für intensivierte Beamtengespräche und zum Zeitplan der Verhandlungen sowie zu Vorstellungen für eine abschließende Regelung. Meinungsverschiedenheiten sind besonders im Bereich des politisch-militärischen Status des vereinten Deutschlands und hinsichtlich des Zeitpunktes der Auflösung der Viermächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten zu überwinden. Ich denke, dass ein erfolgreicher Abschluss der 2-plus-4-Verhandlungen noch in diesem Jahr im Interesse der Deutschen wie aller europäischen Staaten hegt.

Wie bewerten Sie die unmittelbare Zusammenarbeit mit Hans-Dietrich Genscher, die sich in der jüngsten Vergangenheit immer intensiver gestaltet hat?

Im Prozess der deutschen Vereinigung ist eine enge Abstimmung zwischen beiden Außenministern natürlich notwendig. Aus meiner Sicht kann ich sie als intensiv und kooperativ bewerten.

Kann schon etwas zu den bisherigen Arbeitsergebnissen der Kontaktkommission, die unter anderem die Zusammenarbeit oder die Zusammenführung der auswärtigen Vertretungen und auch der damit zusammenhängenden personellen Probleme zu behandeln hat, gesagt werden?

Obwohl die Kontaktkommission erst einen Monat besteht, liegen erste Arbeitsergebnisse vor. Mit einer gemeinsamen Weisung haben die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik von Minister Genscher und die der DDR von mir die Orientierung erhalten, die Zusammenarbeit auf dem Wege zur Herstellung der Einheit der beiden deutschen Staaten Schritt für Schritt zu intensivieren und mit ihrer Arbeit zu den Gastländern zu verdeutlichen, dass beide Staaten ihre Vereinigung vorbereiten.

Inzwischen wurde damit begonnen, in verschiedenen Arbeitsgruppen wie Rüstungskontrolle und Abrüstung, auswärtige Kulturpolitik, Nord-Süd-Fragen, EG-Fragen und anderen die Standpunkte im Sinne einer einheitlichen Position abzustimmen.

Insgesamt hat die Kommission die Aufgabe, für den Prozess der deutschen Einigung auf dem Gebiet der auswärtigen Politik, natürlich in Übereinstimmung mit den internationalen Erfordernissen, Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Dabei wird vieles Schritt für Schritt zusammengeführt, vieles aber auch weiter bestehen bleiben. Einzelfragen, wie zum Beispiel Personalfragen, werden dann erörtert werden, wenn der Zeitpunkt dafür herangereift ist. Sicher wird es darüber im zweiten Staatsvertrag Vereinbarungen geben müssen. Aber Personalfragen stehen nicht nur in unserem Ministerium zur Debatte, sondern dies betrifft auch andere, die nach der staatlichen Einheit zusammengelegt werden.

Im Rahmen des Warschauer Vertrages und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe hat die DDR eine Vielzahl von Verpflichtungen übernommen. Was wird daraus im Zuge der Vereinigung beider deutscher Staaten?

Solange die DDR besteht, wird die DDR bemüht sein, die von ihr eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Notwendig sind jedoch vielfältige Nachfolgeregelungen. Im Rahmen des deutschen Einigungsprozesses ist die DDR gegenwärtig dabei, alle von ihr eingegangenen Verpflichtungen in bilateralen Gesprächen mit dem jeweiligen Vertragspartner hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Weiterführung, Modifizierung oder auch Beendigung zu überprüfen und in Abstimmung mit der Bundesrepublik entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Was den Warschauer Vertrag anbelangt, so befindet er sich gegenwärtig ohnehin in einem Reformierungsprozess, und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der 2-plus-4-Verhandlungen zu bündnispolitischen Fragen wird die Stellung der DDR hier neu zu definieren sein.

Die DDR stellt ihre Beziehungen zu den Mitgliedstaaten des RGW gegenwärtig auf eine marktwirtschaftliche Grundlage um. Auch hier erfolgt eine Überprüfung und Modifizierung abgeschlossener Verträge. Bei alldem geht es darum, solche Regelungen zu finden, die sowohl im Interesse des künftigen vereinigten Deutschlands als auch im Interesse seiner osteuropäischen Nachbarn liegen.

In einer Reihe von Ländern der sogenannten Dritten Welt wird die Befürchtung geäußert, der deutsche und der europäische Einigungsprozess mit den dafür notwendigen Investitionen werde zu Lasten der Entwicklungsländer gehen. Werden die Staaten der Dritten Welt tatsächlich zu Opfern des Einigungsprozesses?

Davon kann keine Rede sein. Der deutsche und europäische Einigungsprozess bietet aus meiner Sicht Chancen, und das ist auch das Ziel der Politik der DDR-Regierung, gute Grundlagen für die Bewältigung der Probleme der Dritten Welt zu schaffen und das angestaute Nord-Süd-Konfliktpotential abzubauen.

Indem wir die Konfrontationen zwischen West und Ost in Europa überwinden und auch im Wirtschafts- und Sozialbereich nach gesamteuropäischen Lösungen suchen, ist uns ein neues Verständnis für die Probleme der Dritten Welt gegeben, werden wir die Beziehungen zu den Ländern der Dritten Welt stärker an Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie, Frieden und Freiheit messen. Schließlich bekommen wir Europäer in einem geeinten Europa die Hände frei, den Menschen in der Dritten Welt besser als heute möglich auch ökonomisch - zu helfen. Wir Deutschen werden uns an vorderer Stelle mit unseren Nachbarn und Partnern für die Dritte Welt engagieren.

Mit welchen Argumenten plädieren Sie dafür, dass Berlin wieder Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands wird?

Berlin hat als geteilte Stadt die unnatürliche Teilung Deutschlands auf besondere Weise symbolisiert. Jetzt wächst diese Stadt wieder zusammen, nicht problemlos. Denn dort, wo die Mauer vor nunmehr fast 29 Jahren errichtet worden ist, sind Straßen und Schienen unterbrochen, Brücken abgebaut worden, und es hat sich vieles Trennende mehr herausgebildet. Es ist für mich eine Freude und auch ein Erlebnis, dabeizusein, wie die Menschen aus Ost- und Westberlin zusammenfinden, gerade auch nach dem Wegfall der Grenzkontrollen seit dem 1. Juli.

Berlin, Deutschland und Europa wachsen zusammen. Die politisch-geographische Lage bietet nun Berlin die Chance, zum Zentrum einer Entwicklung zu werden, die die Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas zum Ziel hat. Insofern kann Berlin als Brücke zwischen Ost und West fungieren. Doch ich plädiere nicht nur für Berlin als künftige deutsche Hauptstadt, sondern auch für Berlin als Sitz europäischer Institutionen, insbesondere der EG oder des KSZE-Prozesses, sowie eventuell auch der UNO.

Neue Zeit, Mo. 23.07.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 169

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