Grußwort des stellvertretenden Sprechers der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP), Markus Meckel: Zuallererst, lieber Willy, ich gratuliere dir im Namen der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, ich gratuliere dir im Namen all derer, so glaube ich es sagen zu können, die in der DDR noch nicht organisiert sind, die aber sozialdemokratisch fühlen und dich, ich bin sicher, verehren und lieben.

(Beifall)

Liebe Genossinnen und Genossen!

(Beifall)

Es ist das erste Mal, dass ich eine solche Anrede benutze, und sie kommt mir nicht so leicht über die Lippen, obwohl sie genau hier ihren Platz hat.

(Beifall)

Wir Sozialdemokraten in der DDR können uns nicht so anreden, weil 40 Jahre SED diese alte sozialdemokratische Anrede so diskreditiert haben, dass sie eben unbenutzbar geworden ist - zunächst. Hier aber kann und will ich es sagen: Liebe Genossinnen und Genossen,

(Beifall)

ich bringe euch den Gruß der Sozialdemokraten in der DDR. Ihr habt uns eingeladen, und dafür danken wir euch. Wie schon die letzten Wochen gezeigt haben, fühlen wir uns bei euch nicht als Kulisse für einen Fototermin, sondern als Partner, deren Worte gehört werden.

(Beifall)

So ist es uns besonders wichtig, zu dem Thema mitreden zu können, das jetzt hier verhandelt wird: die Deutschen in Europa. Da wird ein Prinzip deutlich, das wir in der politischen Entscheidungsfindung für ungeheuer wichtig halten und dem Sozialdemokraten immer folgen sollten : die Beteiligung der Betroffenen. Eines will ich euch sagen, ihr habt einen wirklich guten Entwurf zu diesem Thema vor euch.

Dass ein Sozialdemokrat aus der DDR auf einem Parteitag zu euch spricht, hat es noch nicht gegeben, jedenfalls nicht seit 1961. Wenn es bis dahin eine Frau oder ein Mann aus der Ostberliner SPD gewagt hat, zu reden und zurückzukehren - ich weiß nicht, ob es der Fall war und wann -‚ würde ich diese Frau oder diesen Mann gerne kennenlernen, falls sie oder er noch lebt.

Das Schicksal der Sozialdemokratie in der DDR ist auf tragische Weise mit der SED verflochten. Erst wurde die SPD geschluckt, alles Sozialdemokratische dann ganz schnell ausgeschieden, unterdrückt, kriminalisiert und vernichtet. Diese leidvolle Geschichte wird noch offenzulegen und zu bearbeiten sein. Sie ist unvergessen.

(Beifall)

In den letzten Jahren gab es viele Gespräche zwischen der SPD und der SED. Ich denke, das war wichtig und friedensfördernd für Europa.

(Beifall)

Die Ergebnisse, sowohl die abrüstungspolitischen Entwürfe wie das Papier zum Streit der Ideologien, weisen das aus. Wir haben sie begrüßt und für gut gehalten.

Leider wurde dann aber die andere Ebene zu wenig beachtet, d.h. den Kontakt mit denen zu suchen, die in der DDR wirklich sozialdemokratisch denken und auch - ich betone: auch - Gesprächspartner hätten sein können und sollen.

(Beifall)

Nach langer politischer Arbeit im Raum der Kirche entschlossen sich Anfang dieses Jahres Martin Gutzeit und ich, eine sozialdemokratische Partei zu gründen. Viele rieten uns ab und belächelten uns; auch gute Freunde. Man wollte keine Partei, schon gar nicht eine sozialdemokratische. Das sei ein Affront gegen die SED.

Aber genau das wollten wir.

(Beifall)

Es sollte wirklich auch ein Tritt vors Schienbein der SED sein, gegen die, die sich das Erbe der Sozialdemokratie angemaßt und es dann zerstört haben.

(Beifall)

Es sollte sein und ist geworden ein Aufstehen gegen die Entmündigung, ein Akt der Menschenwürde.

Und so haben wir angefangen, Sozialdemokratie wieder lebendig werden zu lassen. Wir hoffen, auch gesellschaftswirksam werden zu können.

So haben wir am 26. August, dem 200. Jahrestag der Erklärung der Bürger- und Menschenrechte in der Französischen Revolution 1789, den Aufruf zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei veröffentlicht und dann am 7. Oktober, dem 40 Jahrestag der DDR, mit 43 Frauen und Männern die Sozialdemokratische Partei in der DDR gegründet.

(Lebhafter Beifall)

Das geschah noch unter konspirativen Bedingungen. Ich bin vorher - wie sich dann zeigte: mit gutem Grund - untergetaucht, um dann in der Nacht vor der Gründung mit dem programmatischen Vortrag in der Tasche in Schwante wieder aufzutauchen.

Jetzt ist die Partei da, ist lebendig und arbeitet seitdem, ohne jemanden zu fragen, ob sie darf.

(Lebhafter Beifall)

Wir wollten keine Zulassung. Wer wäre legitimiert, uns diese zu geben?

(Beifall)

Wir haben nur gesagt: Wir sind da; wir arbeiten. Und wir haben die Grundsätze des Statuts im Innenministerium abgegeben.

Wir haben auch euch nicht gefragt. Es sollte von Anfang an klar sein: Wir sind eine selbständig denkende und handelnde Partei.

(Beifall)

Von daher fanden wir auch die ersten, mehr zurückhaltenden Äußerungen aus der SPD uns gegenüber recht gut. Sie zeigten: Wir sind keine Filiale der SPD.

Wir haben angefangen. Und mit etwas Stolz kann ich sagen: Wir haben es gekonnt. Tausende sind aufgestanden und sind unheimlich aktiv.

Die sozialdemokratische Tradition ist in der DDR nicht tot; nicht durch das Verdienst der SED, sondern trotz der SED.

(Beifall)

40 Jahre SED-Herrschaft haben sie nicht ausgelöscht.

Da sind viele unter uns, deren Väter und Großväter, Mütter und Großmütter Sozialdemokraten waren. Da gibt es sogar Leute, die sich seit 1946 illegal als Sozialdemokraten getroffen haben.

Es ist nicht zu vergessen: Auf dem Gebiet der DDR gab es sozialdemokratische Hochburgen. Nach dem Krieg bis zur Zwangsvereinigung gab es schon wieder 600 000 Sozialdemokraten.

Das soll wieder so sein.

(Beifall)

Und doch wäre in 40 Jahren viel mehr an sozialdemokratischer Tradition verlorengegangen ohne die SPD und ihre Politik. Sie wurde gespannt und mit Starker Anteilnahme verfolgt an den Bildschirmen und an den Radios, und sie wurde gespürt in der eigenen Wirklichkeit. Die Identifikation mit der SPD ist bei vielen DDR-Bürgern durch die Jahre hin groß.

Ein Name steht dafür: Willy Brandt. Denkt an Erfurt 1970!

(Beifall)

Ohne die Politik Willy Brandts und der SPD, ohne die von euch eingeleitete Entspannungspolitik und den KSZE-Prozess wäre das nicht möglich gewesen, was in den letzten Wochen in der DDR geschah. Ich denke, auch in der SED gibt es nicht wenige, die sozialdemokratischen Ideen nahestehen. Sie haben :m stillen Kämmerlein gesessen, haben zum Teil gearbeitet und konnten nicht wirksam sein, oder haben anders gehandelt, als sie dachten. Jetzt sind sie plötzlich da.

Die SED übernimmt unsere Inhalte und hat den Apparat, schnell ausgearbeitete Programme vorzulegen.

Es ist ja interessant, sich unseren Aufruf, im Juli geschrieben, vorzunehmen und die einzelnen programmatischen Stichpunkte durchzusehen. Da ist kaum etwas, was nicht von anderen Parteien, den Blockparteien einschließlich der SED, übernommen worden wäre. Selbst ein Punkt wie die Ländergliederung, die wir damals einbrachten, ist jetzt schon in der DDR mehrheitsfähig. Auch das ist gesellschaftsgestaltend in dem, was wir tun.

Aber bei allem, was uns bei diesen Parteien programmatisch ähnlich ist, die Frage ist doch: Wer kann diese Politik glaubwürdig machen?

In unseren Augen hat die Partei, die den Bankrott in unserem Land herbeigeführt hat, nicht das Recht, es weiter zu führen.

(Lebhafter Beifall)

Die Wähler werden darüber zu befinden haben.

Herr Gysi ist ein ehrlicher Mann, glaube ich. Er hat die schwere Aufgabe übernommen, das sinkende Schiff abzutakeln, und zwar so, dass möglichst wenig gesellschaftlicher Schaden auf das Konto der SED hinzukommt.

Wir müssen die Frage nach der Glaubwürdigkeit und der Identität der SED stellen. Sie wird nicht nur ihre eigene Geschichte offenlegen und aufarbeiten müssen, sondern nach den geistigen Grundlagen für die stalinistische Entwicklung suchen müssen. Der Stalinismus ist ja nicht zufällig in allen Ländern, die sich fälschlicherweise sozialistisch nannten, entstanden und hat sich bis jetzt durchgehalten.

Wer dies untersucht, geht an die Wurzeln der Identität. Wie steht die SED zum Marxismus-Leninismus? Das muss sie klären und sehr deutlich sagen.

Sie hat uns nicht nur wirtschaftlich bankrott gemacht, sondern durch ihre Ideologie und die entsprechende Politik auch geistig und moralisch. Sie hat die Menschen ihrer Würde als mündige Menschen beraubt, ihre eigenen gemeinsamen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen.

Die Deutschen in der DDR haben jetzt 56 Jahre Totalitarismus und Diktatur erlebt. Seit 1933 gab es auf dem Boden der DDR keine Demokratie. Da liegt viel Lernen vor uns. Doch wir sind gewiss: Wir werden es lernen, wir werden es wohl auch schnell lernen und alles dafür tun. Nur, tut uns hier bitte einen Gefallen: Fordert uns nicht zu schnellen Antworten heraus, wo man warten kann!

(Beifall)

Manches ist gewiss schnell zu entscheiden in der DDR, und das gehört an den Runden Tisch; nur dort darf es entschieden werden. Er tagt heute wieder. Nur er darf die Linie festlegen, wo es langgeht. In diesem Sinne sollte die Regierung Modrow handlungsfähig gehalten werden bis zum 6. Mai.

(Vereinzelter Beifall)

Für alles, was warten kann, lasst uns Zeit zur Klärung im eigenen Land! Dafür brauchen wir eine starke Öffentlichkeit mit unabhängigen Medien und demokratisch legitimierten Institutionen.

Die Mauer ist gefallen. Was das für uns als DDR-Bürger nach 28 Jahren emotional bedeutet, ist für euch wahrscheinlich kaum nachzuvollziehen. Es ist das ungeheuer schöne Gefühl, dass zusammenwächst, was zusammengehört.

(Anhaltender Beifall)

Dieses Gefühl, aber auch die Angst vor den Folgen des wirtschaftlichen Bankrotts, lassen viele in der DDR nach Wiedervereinigung rufen. Was sagen wir Sozialdemokraten dazu? Zuerst sagen wir: Wir wollen handeln und tun es schon. Wir treten am Runden Tisch für die Gewährleistung von Versorgung und Produktion ein. Dafür brauchen wir eure Hilfe hier in der Bundesrepublik.

Ich möchte mich hier für alle konkrete Hilfe bedanken, vor allem für die, die schnell und unbürokratisch von sozialdemokratisch regierten Ländern und Gemeinden zum Teil schon geleistet worden ist. Mit solcher Hilfe wird deutsche Zusammengehörigkeit praktisch.

Wir sagen aber auch: Wir treten auch programmatisch für einen deutschen Einigungsprozess ein. Aber wir wollen ihn so organisieren, dass niemand ihn befürchten muss,

(Beifall)

weder die sozial Schwachen noch die Völker Europas und der Welt, aber auch nicht unsere Nachkommen, deren Lebensmöglichkeiten durch einen weiteren Raubbau an der Natur immer mehr verringert würden. Die Einigung der Deutschen und die Einigung Europas sind ein und derselbe Prozess.

(Beifall)

Es muss alles ausgeschlossen werden, was diese Zusammengehörigkeit stört. Dabei kann es auch phasenhaft verschieden sein, was jeweils das andere vorantreibt.

Wenn jetzt die deutsche Frage so allgegenwärtig auf dem Tablett liegt, muss sie so behandelt und vorangetrieben werden, dass sie gleichzeitig die europäische Einigung fördert. Ein deutscher Sonderweg führt uns nicht voran.

(Beifall)

Wir denken wie ihr: Eine Konföderation der beiden deutschen Staaten wäre ein schon bald möglicher und auch wichtiger Schritt. Er ist schon jetzt, glaube ich, in beiden Staaten mehrheitsfähig. Wir sollten darangehen, dafür konkrete Modelle zu entwickeln und mit unseren Nachbarn darüber reden. Ich könnte mir vorstellen, dass unsere beiden Parteien eine Kommission bilden, die an diesen Fragen gemeinsam arbeitet.

(Beifall)

Ihn ihr sollten dann auch Sozialdemokraten aus anderen Ländern Europas teilnehmen.

(Beifall)

Das Aufeinander-Zugehen der beiden deutschen Staaten bietet die große Chance, dass beide wichtige Subjekte im Abrüstungsprozess werden. Sie können eine bedeutende Rolle dabei spielen, die Militärblöcke zu Partnern im Abrüstungsprozess umzufunktionieren. Noch ist die Gefahr der vielfältigen Waffen aller Art nicht gebannt, obwohl viele so tun und sie nicht mehr im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Der größte Teil dieses Teufelszeugs ist aber noch auf den Territorien unserer beiden Staaten vorhanden und sogar gegeneinander gerichtet. Hier haben wir gemeinsam dringliche Aufgaben.

(Beifall)

Wir müssen den Prozess der deutschen und der europäischen Einigung auf die Zukunft hin lenken, denken und gestalten und dabei jeder Nationalstaatlichkeit und nationalstaatlichen Romantik wehren.

(Beifall)

Dieser Einigungsprozess, den wir wollen, ist auch kein deutscher Selbstzweck. Wir wollen eine ökologisch orientierte soziale Demokratie auf den Grundlagen der Gerechtigkeit und der Solidarität. Das kann kein Staat in dieser Welt mehr für sich allein machen. Eine solche Demokratie muss Vorzeichen des Einigungsprozesses sein, den wir gemeinsam wollen. Wir müssen diesen Prozess dann so gestalten, dass unser Wirtschaften ökologisch verantwortet wird und nicht auf Kosten der Völker des Südens geht.

Der Erneuerungs- und Demokratisierungsprozess in Osteuropa darf nicht gefährdet werden. Wir wollen ihn solidarisch unterstützen.

In dieser Nacht hörte ich die Nachricht von einer Demonstration in Timisoara oder Temesvar oder Temmis. Ich bevorzuge jetzt den ungarischen Namen ‚"Temesvar". Ungarn gingen dort auf die Straße, um gegen die Zwangsumsiedlung von Tökes Laszlo, dem reformierten Pfarrer, der sich dort in der Opposition befindet und seit Monaten bespitzelt, attackiert und tätlich angegangen wird, zu protestieren. Ich denke, die Rumänen, die Ungarn, die Siebenbürger Sachsen, die Tataren und all die anderen Minderheiten in Rumänien brauchen unsere Solidarität.

(Beifall)

In diesem konkreten Fall schlage ich vor, dass die beiden deutschen Botschafter in Rumänien Tökes Laszlo besuchen und bei der Regierung Protest einlegen.

(Beifall)

Wenn wir Deutschen uns einigen wollen, müssen unsere Nachbarn, insbesondere unsere polnischen Freunde, gewiss sein, dass wir ihre Grenzen anerkennen.

(Beifall)

Wir wollen dies garantieren.

Europa, der alte Kontinent, ist in Bewegung gekommen. Alle europäischen, zum Teil nur die westeuropäischen Institutionen, müssen sich befragen lassen, ob und wie sie dieser Bewegung gerecht werden wollen und wofür sie eintreten. Der von der Sozialdemokratie in Europa wesentlich initiierte und getragene KSZE-Prozess bietet wohl am ehesten die Chance, hier eine Perspektive zu entwickeln. Deshalb treten wir für eine Konferenz auf dieser Ebene schon in der nächsten Zeit ein.

Für die EG und den angestrebten westeuropäischen Binnenmarkt stellen sich ganz neue Fragen im Blick auf die Integration Mittel- und Osteuropas. Diese vielen Fragen, die auch ökologische und soziale Horizonte und Dimensionen haben, sollten so beantwortet werden, dass die osteuropäischen Staaten bei allen Lösungen aktiv als Partner mitwirken. Auch wir als Sozialdemokraten sollten hier gemeinsam mit den Freunden in der Sozialistischen Internationale arbeiten.

Die Erfahrungen der letzten Wochen haben gezeigt, dass wir als Partner in einer solchen Arbeit akzeptiert werden. Das freut uns, und wir glauben, das ist auch für unser Land wichtig.

Wenn es uns in der DDR gelingen soll, unsere Gesellschaft im sozialdemokratischen Geist mitzugestalten, brauchen wir Verbündete. Es ist für uns eine wichtige Erfahrung, euch an unserer Seite zu wissen. Es ist gleichzeitig gut zu wissen - das ist nicht paternalistisch: Auch ihr braucht uns,

(Beifall)

wenn auch vielleicht in ganz anderer Weise und möglicherweise, weil bei uns jedenfalls Sozialdemokratie mit viel Schwung und Enthusiasmus verbunden ist.

Ich glaube, sagen zu können: Sozialdemokrat in der DDR zu sein ist überall spannend.

Wir brauchen uns, und wir brauchen uns gegenseitig, und wir brauchen es nicht zu verheimlichen. Deshalb lasst uns unser Bündnis ausbauen und zueinander stehen. Wir wünschen eurem Parteitag gutes Gelingen. Es wird zum Wohl aller Deutschen und Europäer sein.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall)

Protokoll vom Programm-Parteitag Berlin 18.-20.12.1989. Herausgeber: Vorstand der SPD Bonn

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