"Demokratisierung ist ein therapeutischer Prozess"

Mit dem Polizeibeauftragten, Ibrahim Böhme, sprach Marion Seelig

Marion Seelig: Wie siehst Du Deine Rolle bei der nun gemeinsamen Berliner-Polizei, hat sich nach dem Zusammenschluss etwas verändert?

Ibrahim Böhme: Ich war einmal davon ausgegangen, in Urzeiten gewissermaßen, dass in der Deutschen Polizei so etwas wie der schwedische Ombutsmann möglich sein würde. Aber inzwischen habe ich mich von diesem, meiner Meinung nach vernünftigen linken Theorem etwas getrennt, nachdem ich mehr von dem traditionellen deutschen Polizeiverständnis begriffen habe. Ich sehe den Schwerpunkt in der Arbeit eines Polizeibeauftragten in dieser schwierigen Übergangsphase vor allem darin, einen Demokratisierungsprozess auch als einen therapeutischen Prozess zu verstehen. So, wie wir uns diesen Demokratisierungsprozess in unseren Jahren vor der Wende ja auch immer gewünscht haben. Bei der Schwierigkeit der Installierung demokratischer Formen im öffentlichen Bereich finde ich es notwendig, dass dieser Prozess von Personen begleitet wird, die ihre Aufgabe überparteilich wahrnehmen. Das war übrigens eine meiner Bedingungen, dass ich nicht nur von einer Fraktion vorgeschlagen und mehrheitlich gewählt werde, sondern dass mich alle Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung von Berlin tragen. Das hat mir die Arbeit erleichtert.

Seelig: Siehst Du eigentlich Perspektiven für Dein Amt, die über den 2. Dezember hinausreichen? Denn es handelt sich ja wohl um eine Form der Demokratie, wie sie noch aus den 89er Herbsttagen herübergekommen ist, eine Umbruch- und DDR-spezifische?

Böhme: Das ist kompliziert. Denn es besteht sie Gefahr, dass dieser Beauftragte die Aufgaben der parlamentarischen und gewerkschaftlichen Wirkungsfelder so besetzt, dass die Demokratieentwicklung eher behindert als gefördert würde.

Aber es gibt durchaus auch Überlegungen, beispielsweise bei den Sozialdemokraten in Berlin-West, vor allem im Ausschuss für Innere Sicherheit im Abgeordnetenhaus, die sagen: weil sich der Polizeibeauftragte als eine von Bürgern und Polizisten angenommene Institution bewährt hat, sollte man versuchen, ihn so lange wie möglich beizubehalten.

Ich glaube auf keinen Fall, dass ich nach dem 2. Dezember die richtige Person bin. Ich bin mir durchaus im klaren, wo die Grenzen meiner Rezeptionsmöglichkeit sind. Im Moment ist es so, dass mich die Funktion sehr stark belastet. Ich glaube aber, wenn man die Institution Polizeibeauftragter in ein richtiges Verhältnis zum parlamentarischen Ausschuss bringt, ist es ein Experiment wert.

Seelig: Es hat ja eine interessante Entwicklung der Polizei im Ostteil der Stadt gegeben. Ich erinnere an Modelle wie die Sicherheitspartnerschaft, wo ich selber bei der Vorbereitung von Demonstrationen ausgesprochen positive Erlebnisse hatte. Man hatte gerade bei jungen Polizisten das Gefühl, dass sie nach völlig neuen Formen im Umgang mit der Bevölkerung suchten.

Ein anderes Erlebnis war der 3. Oktober, wo meiner Meinung nach der Konsens zwischen Bevölkerung und Polizei wieder zerbrochen ist. Wir alle leben ja noch mit dem Trauma 7./8. Oktober des vergangenen Jahres.

Laufen jetzt Ermittlungen, und was ist Deine persönliche Erfahrung an dieser Stelle?

Böhme: Du sprichst eigentlich einen ganzen Komplex von Erfahrungen an. Erstmal zum 3. Oktober: Ich war mit dem Rechtsanwalt Klaus Eschen dreimal "vor Ort". Ich habe die Eskalation der Gewalt sowohl aus dem Demonstrationszug heraus erlebt, aber auch einen meinen Vorstellungen von Polizeieinsatz nicht entsprechenden rigiden Eingriff gesehen. An U-Bahn-Zugängen zum Beispiel. Wir haben 24 Vorgänge auf dem Tisch zu liegen. Es wird jeder einzeln geprüft. Wir stellen fest, dass die meisten dieser Übergriffe durch Angehörige des Bundesgrenzschutzes vorgenommen wurden. Ich war im Gespräch mit Demonstranten und auch mit Polizisten aus Ost und West, und ich habe bei den Polizisten eine Verunsicherung im Umgang mit solchen Dingen festgestellt, vor allem bei Ostpolizisten. Man darf ja eins nicht außer acht lassen, bei den meisten, und Du sagst richtig, gerade jungen Polizisten, stelle ich eine Lernbereitschaft und Lernfähigkeit fest, die vor allem von westdeutschen Politikern unterschätzt wird.

Die Polizisten waren, egal in welch hohem Maße sie auch belastet sind, als Bürger in der DDR, aktiv oder passiv, beteiligt an dem Demokratisierungsprozess. Und ich muss sagen, an sich habe ich zu Beginn meiner Tätigkeit partizipiert von dem gemeinsamen Willen der Polizisten und der Bürger zur Sicherheitspartnerschaft, wie er an den Runden Tischen der inneren Sicherheit entstanden war.

Ich glaube, dass der Umdenkungsprozess der meisten Polizisten am 4. November stattgefunden hat, bei der ersten freien und genehmigten Demonstration von 800 000 Menschen auf dem Alexanderplatz. Diese Demonstration war nicht nur geprägt von denn Gedanken, wir geben dem Sozialismus in der DDR ein menschlicheres Antlitz, sondern auch von der Kultur, in der Bürger mit Polizisten und Polizisten mit Bürgern umgingen.

Gerade für die jüngeren Volkspolizisten ist es um so schmerzlicher und um so härter, schnell in ein anderes Polizeiverständnis umzusteigen, das ich auch nicht immer als das Maß der Demokratie ansehe.

Abgesehen davon möchte ich aber das konsequente Vermischungskonzept der beiden Berliner Polizeieinheiten begrüßen, dass es im Ostteil von Berlin den Westpolizisten ermöglicht, sich eher mental den Ostproblemen stellen zu können. Problemlos läuft das nicht ab. In Lichtenberg und Friedrichshain ist das Verhältnis zwischen Bürgern und Polizei schon wieder deutlich gespannter als beispielsweise in Weißensee, wo es keine sich gegen soziale Verhältnisse wehrende Hausbesetzerszene gibt. Das muss ich als Hintergrund sehen.

Seelig: Wie kann man eigentlich verhindern, dass eine politische Parteinahme der Polizei stattfindet? Man spricht ja ganz offen davon, dass ein Großteil der Westberliner Polizei REP-Wähler sind. Meinem Sohn ist es zum Beispiel am 3. Oktober, wo er präventiv auf einem U-Bahnhof festgenommen wurde, passiert, dass er u. a. als "Rote Sau" beschimpft wurde. Auch bei der Aktion gegen die PDS konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Polizei als politisches Mittel eingesetzt wird.

Böhme: Als erstes möchte ich zu diesem Vorgang Stellung nehmen: 120 Schutzpolizisten umstellen die PDS-Zentrale, 30 bis 40 Kriminalisten durchsuchen das PDS-Haus.

Am Tag darauf kam ich mir vor, wie der Entschuldiger vom Dienst, obwohl diese Dinge von den Justizorganen zu verantworten sind. Der Hintergrund ist, dass das Bundeskriminalamt sich an die Staatsanwaltschaft gewandt hat und diese hat dann die Zu- und Eingriffmöglichkeiten genutzt, wie sie gegeben sind. Allerdings ohne richterliche Verfügung, was für mich eine Art Rechtsverletzung darstellt, wie wir sie in der jetzigen politischen Landschaft nicht brauchen.

Ich bedaure, dass Staatsanwalt Lange, der ja dafür zuständig ist, entweder zu schnell handelte oder aber seine entsprechenden Vorschriften missachtet hat.

Zum zweiten wünsche ich keine Radikalisierung der Polizei in einem parteipolitischem Spektrum, das ist richtig. Ich will also beispielsweise nicht, dass aus einem pseudoroten Korps-Geist, der beider Volkspolizei an der Tagesordnung gewesen ist und eingefordert wurde von den Herrschenden in der DDR, sich plötzlich ein schwarzer oder ein noch anderer Korps-Geist entwickelt. Bei den Kommentaren der Polizisten am 3. Oktober, wie sie mir, von vielen Augenzeugen glaubwürdig versichert, übermittelt wurden, handelte es sich durchaus um Beschimpfungen mit entsprechenden Farbbelegungen wie „rote Säue". Dabei fühle ich mich ausgesprochen unwohl. Ich möchte aber auch sagen, dass es nicht die dominante Haltung war.

Ich glaube, dass in beiden Teilen Berlins bei dem sogenannten Deeskalationstraining vermittelt werden muss, dass der Polizist sich als Bürger mit besonderem Sicherheitsservice für den Bürger versteht. Er muss auch angehalten sein, die sozialen und politischen Probleme, die den Hintergrund für eine Demonstration ausmachen, zu begreifen, und in sein Handeln einzubeziehen. Andererseits müssen wir aber auch mehr tun, den Bürger zu unterrichten, in welcher Weise er sofort den Aufklärungsvorgang bei einem unangemessenen Eingreifen der Polizei in Gang setzen kann. Der Bürger muss also wissen, wenn er zu einer Demonstration geht oder als Passant einfach in ein Konfliktfeld einbezogen wird, dass er sich sofort an den Einsatzleiter einer Einheit, der am Helm kenntlich einen schwarzen Streifen hat, wenden und den Namen und die Nummer der Einheit einfordern kann. Übrigens muss auch die Nummer der Diensteinheit am Helm der Polizisten kenntlich gemacht sein.

Man kann der Radikalisierung der Polizei nicht per Dekret begegnen, sondern man muss das soziale und historische Verständnis des Bürgerpolizisten verändern. Dazu gehört aber auch, dass die Bürger den Polizisten nicht abwertend als den Büttel der Macht und den Bullen sehen. Ich stelle mir vor, dass das Kontaktbereichssystern in Berlin sich in den nächsten Jahren vorbildlich entwickeln kann: von Sicherheit bis Rechtsberatung im Wohngebiet.

Seelig: Ist es nicht auch so, dass sich die Polizisten bei zunehmender Gewaltkriminalität und politisch motivierter Gewalt auf den Straßen einfach verheizt fühlen? Wie sollen sie zum Beispiel mit dem Rechtsextremismus umgehen, wenn, wie neulich in Dresden, Neonazis ihre Demonstration genehmigt bekommen und Polizisten sie schützen müssen?

Böhme: Ich glaube, dass man den Rechtsextremismus auf keinen Fall in das Gewand eines Märtyriurns schlüpfen lassen darf. Gerade dem Rechtsextremismus sollte man mit aller Konsequenz politisch begegnen.

Das heißt beispielsweise eine Demonstration, wie die Dresdener, das ist jetzt sehr hart, was ich sage, - zuzulassen, und sie sogar von der Polizei schützen zu lassen, wenn sie angegriffen wird von Leuten, die ich durchaus verstehe. Ansonsten würden wir den Rechtsradikalen die Möglichkeit geben, sich ein für uns unberechenbares Wirkungsfeld gerade unter den jungen Leuten zu schaffen, für die jetzt ein ganzes Wertgebäude zusammengebrochen ist.

Seelig: Ich habe da eine andere Meinung: Für die Mehrzahl der Bürger wird eine politische Richtung nur dann akzeptabel, wählbar und unterstützbar, wenn sie legal ist - da, befürchte ich, entsteht jetzt ein ziemliches Potential.

Böhme: Diesen von mir formulierten rechtsstaatlichen Grundsatz würde ich auch nicht so stehen lassen, sondern man muss ihn im Zusammenhang mit dem sozialen Nährboden für diese Erscheinungen sehen. Hier ist anzusetzen.

Außerdem kann es nicht sein, dass Bürger und Polizisten, die ja auch Bürger sind, für die Politiker die Kastanien aus dem Feuer holen, das heißt wenn sich eine Partei konstituiert, mit der Verfassung entgegengesetzten gesellschaftlichen Vorstellungen, also Rassismus, Nationalismus und dergleichen, dann kann man sie nicht zulassen. Entweder habe ich eine Verfassung, dann muss ich sie schützen oder es gibt nur ein politisches Lavieren zwischen extremen Feldern. Das ist für mich eine grundlegende historische Erkenntnis aus der Weimarer Demokratie.

Seelig: Das beinhaltete meine Frage ja auch, dass die Entscheidungen politisch getroffen werden müssen, und zwar im Vorfeld der Auseinandersetzungen und dass es eine deutsche Geschichte gibt, und damit auch gewisse Verpflichtungen, mit denen andere Völker sich nicht im selben Maße auseinandersetzen müssen wie wir.

Böhme: Ja, und zu der Geschichte gehört auch, dass der Antifaschismus der Rechtssprechung in der DDR für mich eines der Prinzipien gewesen ist, an denen ich nicht gern rütteln lassen möchte. Ich habe vor der ersten Volkskammerwahl an Modrow ein Dankschreiben gerichtet für die Tatsache, dass er trotz eines starken äußeren Drucks die Partei der "Republikaner" nicht zugelassen hat, und ich weiß, dass auch viele andere ihm dafür dankbar waren.

Seelig: Ich danke Dir, dass Du hier auch ein wichtiger Lernprozess für die Westberliner Polizei sein könnte?

Böhme: Ja. Ich habe mich dort nicht gerade beliebt gemacht mit der These, dass es auch für sie noch einen Nachholebedarf in Sachen Demokratie gibt. Gerade die Aufarbeitung deutscher Geschichte wäre ein sehr wichtiger Ansatzpunkt.

Seelig: Ich danke Dir, dass Du hier im Roten Rathaus zwischen kreischender Sanierungstechnik, drängelnden Referenten und heißlaufenden Telefonen Zeit für ein Gespräch gefunden hast.

die andere, Nr. 41, Mi. 31.10.1990

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