Die Ex-Ministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Regine Hildebrandt, in einem "Tribüne"-Gespräch

Die Einheit ist nicht für 'n Appel und 'n Ei zu bekommen

Dramatische Situation auf dem Arbeitsmarkt / CDU hat sich mit ihren Prognosen verkalkuliert / Viel zu hastig in die Einheit / Arbeitsbeschaffungsprogramme müssen endlich greifen / Weit entfernt von sozialer Marktwirtschaft / Knallharte Unternehmer feuern zuerst Frauen, Jugendliche, Behinderte Arbeitslose müssen aktiv bleiben, um ihre Vermittelbarkeit zu erhalten


Die Arbeitslosigkeit entwickelt sich zum sichtbar schlimmsten Übel der überschnellen Vereinigung. Haben Sie mit dieser Eskalation gerechnet?


Nein, das war alles mit diesen Zahlen in diesen Zeiträumen nicht voraussehbar. Als ich Regierungsverantwortung übernahm, hatte ich mit meiner Mannschaft die Hoffnung, ein - ich sage mal - sanfteres Hineingleiten in die Marktwirtschaft zu initiieren. Das mögen mir meine politischen Gegner nicht abnehmen, doch dieses Bemühen war ehrlich, und es gründete auf den enormen Potenzen, die in diesem Land, in seinen Bürgern stecken. Die Haltung der SPD zu diesem überhasteten Prozess der Einheit ist bekannt. Für mein ehemaliges Ressort möchte ich sagen, dass mit etwas größerer Geduld, mit Ehrlichkeit und Realismus - auch im Umgang mit dem politischen Gegner - manches besser zu lösen gewesen wäre.


Da sind Sie sicher nicht die einzige Politikerin, die das von ihrem Amt behauptet, nachdem das Koalitionsschiff kenterte Womit begründen Sie diese Aussage?


Sehen Sie, ich war angetreten mit dem Wunsch, in den Bezirken und künftigen Ländern Arbeitsbeschaffungsprogramme im großen Umfang zu entwickeln. Ein Unternehmen, das Geduld und nur allem Geld braucht. Nachdem das Arbeitsförderungsgesetz von der Volkskammer verabschiedet war, waren auch die Aussichten günstiger, in den Kommunen entsprechende Programme zu entwerfen. Es wurden auch Mittel dafür bereitgestellt - wir förderten den Aufbau von Bildungsträgern mit 80 Millionen DM, aus der BRD kamen nochmals 80 Millionen dazu. Das sind schon gewaltige Summen, doch es zeigte sich in der Praxis, dass sie bei weitem nicht ausreichten, um der Eskalation der Arbeitslosigkeit mit probaten Mitteln zu begegnen. Aufgrund der unvollkommenen strukturellen Maßnahmen in der Wirtschaft hat die Arbeitslosigkeit jedoch ein von uns nicht mehr zu beherrschendes Maß erreicht. Demzufolge müssen zwangsläufig auch die Werkzeuge versagen, die wir einsetzen wollten.


Ihr Ministerium hätte ja vor altem die Aufgabe gehabt, ein annehmbares soziales Netz für alle Bürger zu knüpfen - soweit das überhaupt machbar ist. Doch wie sollte das geschehen, wenn nicht die Wirtschaft - Sie deuteten es schon an - entsprechende Voraussetzungen schafft?


Das peinliche Hickhack um Zahlen und Summen, um Kosten und Kassensturz wurde ja weltweit vor laufenden Kameras offeriert. Damit haben unsere Parlamentarier ganz offensichtlich weder Furore gemacht, noch Vertrauen gewonnen. Es war schon so, dass die Sozialdemokraten zwar in Sachentscheidungen ihres Ressorts einbezogen waren, wenn es um den Staatsvertrag ging. Doch alle entscheidenden finanziellen Fragen machte die CDU in Ost und West, mit Herrn Staatssekretär Krause an des Spitze unter sich aus. So wurden wir immer wieder aufs neue überrascht und vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich will mal gelinde ausgedrückt sagen: Die Zeiten waren nun einmal so. Deutlicher: Die CDU hat uns in vielem mächtig übern Löffel balbiert, was ja nicht zuletzt am Bruch der Koalition deutlich wurde. Da wurde eben nicht mit realistischen Zahlen gearbeitet, wurde jongliert, wurden die Kosten der Einheit offenbar ganz bewusst runter gespielt. Lange Zeit wurden völlig widersprüchliche Aussagen zur Lage der Wirtschaft gehandelt - als die Lage dann offenkundig wurde, waren ja auch schon die ersten hunderttausend Arbeitslosen da.


Dabei ist ja das, wozu unsere eigene Wirtschaft noch in der Lage ist, nur die eine Seite, Hilfe war versprochen, Fahnen wurden geschwenkt, das Kapital sollte den Osten rasch zu Wohlstand und Freiheit führen . . .


Wohlstand und Freiheit sind für mich Wertbegriffe, die ich nicht abwerten mochte. Festigt sich beides nicht, hätte unsere friedliche Revolution vom November keinen Sinn mehr. Aber es stimmt schon, dass zu Wahlzeiten die Parteien - und da kann ich unsere gar nicht ausschließen - mit anderen Aussagen auftreten, als sie sich dann später möglicherweise verwirklichen lassen. Das muss nicht immer böse Absicht sein, sondern ist oft nur Ausdruck der Beschränktheit der Mittel. Das Kapital, auf das auch wir so hoffnungsvoll setzten, kam nicht, weil es dazumal noch keine gesetzlichen Bedingungen für sein Wirken hatte. Das ist nun anders, doch alles braucht seine Zeit. Und man sollte vor allein auch gründlich sortieren, nicht gleich auf das erstbeste Angebot aus dem Westen hereinfallen. Selbst der Chef der Treuhand gab kürzlich kund, dass von 4 000 Anträgen an die Anstalt auf Gründung von Kapitalgesellschaften o. ä. gut die Hälfte unseriös seien.


Liegt da nicht ein entscheidender Grund für das Scheitern vieler Unternehmungen? Und ist es vielleicht nicht doch eine wirksame Taktik, wenn man die Betriebe sich totlaufen lässt und anschließend zugreift?


In meiner Amtszeit bekam ich das häufig zu hören, habe mich oft mit diesem Argument auseinandersetzen müssen. Aus einem ganz logischen Grund glaube ich nicht, dass die BRD unsere künftigen Länder zur verlängerten Werkbank und zu reinem Konsumterritorium machen kann: Wer sollte denn au! Dauer noch konsumieren können, wenn er keine Arbeit mehr hat? Nein, nein, das ist eine Milchmädchenrechnung, die schon aus diesem einfachen Grund nicht aufgeht. Dass andererseits das Kapital nicht gerade fein im Umgang mit Menschen ist, wenn es in irgendeiner Weise Profit wittert, das ist ja aus der Geschichte hinreichend bekannt. Da müssen entsprechende Mechanismen her, die für uns alle derzeit noch Neuland sind. Auch Schweden oder die BRD haben ihr soziales Netz - und es ist besser als es hierzulande über Jahrzehnte suggeriert wurde - nicht von heute auf morgen geknüpft. Da muss man kämpfen, wie es die BRD-Gewerkschaften tun, muss agil und aktiv sein, will man die Vorzüge dieser Gesellschaft genießen und von den Nachteilen nicht erschlagen werden.


Viele meinen, mit Währungsunion, Reisefreiheit hätten sie die soziale Marktwirtschaft erreicht. Finden Sie, wir lebten bereits nach diesem gesellschaftlichen Kriterium?


O nein, bis dahin tat es noch ein ganz großes Stück. Es wäre vermessen, angesichts der katastrophalen Situation auf dem Arbeitsmarkt und im Hinblick auf die noch zu erwartende Eskalation von sozialer Marktwirtschaft zu reden. Freie Marktwirtschaft - ja, da gehe ich mit. Dies ist eher bezeichnend für die Praktiken, die ich bei meinen zahlreichen Betriebsbesuchen in den letzten Wochen immer wieder erlebe. Das erinnert mich an den frühesten Manchester-Kapitatismus; und ich bin immer wieder entsetzt, mit welcher Kaltblütigkeit langjährige Betriebsdirektoren jetzt als Unternehmer ihre Leute an die Luft setzen. Bevor sie Programme zur Umschulung anbieten oder mit dem Territorium entsprechende Maßnahmen vereinbaren, schreiben sie gleich blaue Briefe. Das macht mich ganz krank.

Sozial sind wir dann, wenn wir den Standard Schwedens oder den der BRD erreicht haben. Doch das sind Visionen. Allerdings müssen heute Konzepte entwickelt werden, damit solche Träume eine Chance ihrer Verwirklichung haben. Die SPD fühlt sich da durchaus in der Pflicht, diese soziale Komponente - gerade auch für die Alten und Schwachen - mit zu bestreiten. Doch ich will hier keine Wahlkampfrede halten.


Sie sind Volkskammerabgeordnete, gehen für ihre Fraktion nicht mit nach Bonn, wollen im Gegenteil im Land Brandenburg fortsetzen, was Sie als Ministerin begonnen hatten. Nun lässt sich gut reden übers Soziale, wenn man selbst kaum Sorgen hat . . .


Wenn Sie damit die Volkskammer-Diäten meine, so kann ich sagen, sie stets einem guten Zweck gespendet zu haben. Ich finde es entwürdigend, in einer Zeit, da so viele Bürger dieses Landes um ihre nackte Existenz ringen, um Diäten beim Einzug oder Nichteinzug ins Bonner Bundesparlament zu streiten. Das hatte ja zum Wochenende eine Dimension angenommen, die auf die Handlungsfähigkeit der Volkskammer insgesamt ein sehr fragwürdiges Licht wirft. Es geht um den Einheitsvertrag, und wer da - voll beabsichtigt oder aus Unwissenheit falsch formuliert - den Ausgang der Abstimmung von der finanziellen Bonn-Motivation der Abgeordneten abhängig macht, der fügt der noch zu leistenden parlamentarischen Arbeit bis zum 3. Oktober allerschwersten Schaden zu. Deshalb auch hat meine Fraktion - wie inzwischen ja bekannt wurde - verlangt, dass die Volkskammerpräsidentin zurücktritt. Wir haben weiß Gott noch wichtigere Dinge zu tun, als um persönliche Pfründe zu streiten.


Es sind doch nur noch wenige Tage bis zum 3. 10. Was lässt sich denn in dieser kurzen Zeit noch einbringen ins Parlament?


Wir müssen unbedingt nochmals über die Renten reden und hier verbindliche Regelungen schaffen, ebenso zur Vorruhestandsregelung. In beiden Fällen ist nämlich passiert was ich anfangs sagte: Die Verhandlungen zu beiden Staatsverträgen wurden zwar auf verschiedenen Sachebenen geführt, doch wenn's ums Geld ging, waren wir draußen. So sind meines Erachtens beide genannten Regelungen völlig verfehlt, der Vorruhestand wäre so mit uns nicht durchgegangen. Natürlich sind die parlamentarischen Möglichkeiten jetzt schwach, noch etwas durchzusetzen - wir müssen es versuchen.


Als Ministerin haben Sie unkonventionell und direkt auf Ihr Ressort aufmerksam gemacht. Zögen Sie eine Bilanz dieser wenigen Monate, was - würden Sie sagen - haben Sie falsch gemacht?


Zwar redet man im Nachhinein offener darüber, aber es bringt eben nichts mehr. Es ist gut für die Historiker, für Politologen. Ich sah meine Aufgabe in diesem Amt noch längst nicht als erledigt an, hätte es gern weitergeführt, trotz aller Widrigkeiten. Doch das ging nach dem Koalitionsbruch nicht mehr. Ja, falsch gemacht - es gilt wohl für alle ehemaligen SPD Minister, dass sie energischer schon beim ersten Staatsvertrag hätten die Weichen stellen müssen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die finanzielle Ausstattung. Da wurden trotz erheblicher Bedenken unsererseits die Mindestrenten durchgesetzt, wurde in Kauf genommen, dass Sozialzuschläge nicht dynamisiert werden, gaben wir uns zufrieden mit den Arbeitsmarktangeboten, wo ein umfangreiches Sonderprogramm nötig gewesen wäre. Wir hätten die dafür notwendigen finanziellen Mittel und fachlichen Angebote von der BRD einfordern müssen. Ja, wir kannten die Probleme haben auch bis zur Schmerzgrenze verhandelt; heute weiß ich, dass wir darüber Mitten hinausgehen müssen.


Nun kann man aber nicht immer nur fordern, aus dem Dreck müssen wir uns schon selbst herausziehen . . .


Diese Meinung teile ich völlig. Ich bin kein Anhänger jener Lobby, die da meint, die BRD habe die moralische Pflicht, uns in den Wohlstand zu führen. Im Gegenteil. Die BRD hat eine Menge dafür getan - auch das muss man fairerweise sagen. Es sind Hunderte Millionen Mark für vielerlei Maßnahmen rübergekommen, es gab sehr frühzeitig eine sehr partnerschaftliche Hilfe zwischen den verschiedenen Ressorts. Doch man muss auch sagen aus heutiger Sicht, dass dies alles zu wenig war.

Die Kosten der Einheit auf jährlich 100 Milliarden Mark zu veranschlagen ist wohl realistischer, als weiter mit falschen Zahlen zur Beruhigung der BRD-Steuerzahler vor dem Wahlkampf zu jonglieren. Dieses historische Ereignis ist eben nicht für 'n Appel und 'n Ei zu bekommen.


Das stimmt sicherlich. Aber sind wir auch in der Lage, marktwirtschaftliches Feeling es entwickeln? Man behauptet doch, dem DDR-Bürger wurde immer alles vorgesetzt . . .


Da ist schon was dran. Ich denke, Kreativität wurde gesteuert und nur punktuell entwickelt. Das Gedröhn vom sozialistischen Menschenbild hat viel Sensibilität für die Dinge des Alltags vernichtet. Das muss nun wieder entwickelt werden. Obwohl es schon da sein müsste, wenn ich an kommende Arbeitslosenzahlen denke. Die Bürger sind es nicht gewohnt, sich selbst um Arbeit, um ihre Beschaffung, um Beschäftigung und Umschulung zu kümmern. Zu bequem liefen solche Dinge früher ab. Das rächt sich nun bitter. Dies stelle ich auch während meiner Betriebsbesuche immer wieder fest: Der Drang nach eigener Umschulung ist nicht gerade ausgeprägt. Im Raum Teltow/Stahnsdorf wo die mikroelektronische Industrie kaputtgeht, also es Arbeitslose en gros geben wird, waren die Umschulungslehrgänge zu einem Drittel ausgelastet. Das kann doch nicht wahr sein. Wer die Notwendigkeit des Umschulens für sich nicht sieht, der hat noch nichts begriffen. Jedem Kurzarbeiter, jedem Arbeitslosen muss dies eindringlich klargemacht werden. Von der Fähigkeit und der Bereitschaft zu Umschulung und Qualifizierung hängt ganz entscheidend die spätere Arbeitsvermittlung ab.


Es ist verantwortungslos, eine heile Welt vorzugaukeln - wie es hierzulande jahrzehntelang Usus war -, aber genauso schlimm oder so unerträglich ist es, immer nur von den Segnungen des Kapitals zu hören . . .


Ja, beides ist falsch. Aber wir müssen wegkommen von der These, der Arbeitsplatz sei für alle Zeiten sicher. Das Recht auf Arbeit lässt sich nicht wie bei uns früher - verfassungsrechtlich verankern. Es war ein Scheinrecht, mit dem alle damit zusammenhängenden Unbeweglichkeiten beispielsweise hinsichtlich der Produktivität kaschiert wurden. Was habe ich vom sicheren Arbeitsplatz, wenn sich über viele Jahre finanziell nichts tut, wenn die Belastungen gleichermaßen groß bleiben? Geradezu paradox, was geschah, um dieses Bild der Vollbeschäftigung immer wieder neu zu schönen. Dabei muss dem Fachmann auf einen Blick aufgefallen sein, dass unsere Produktivität - entgegen der Statistik - nur rückläufig sein konnte. Allein in der Industrie haben wir - misst man dies am westeuropäischen Standard eine Million Beschäftigte zu viel, in der Landwirtschaft sind es 250 000. Dienstleistungen und Handel wären innovationsträchtige Unternehmungen gewesen, werden es mit dem Tourismus künftig werden.


Knapp zwei Wochen bis zur Einheit. Teilen Sie Optimismus und Erwartungen, die sich auf die Zukunft beziehen?


Ich sehe eine Durststrecke. Das lässt sich nicht vermeiden. Wenn wir derzeit zusammen rund 1,8 Millionen Kurzarbeiter - von denen ja der Großteil faktisch ohne Arbeit ist - und Arbeitslose haben, so wird sich diese Zahl bei den Arbeitslosen auf gut zwei Millionen erhöhen. Wie schnell sie sich wieder verringern wird, hängt von der Fähigkeit der künftigen Länderparlamente ab, rasch Arbeitsbeschaffungskonzepte zu entwickeln, Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften zu fördern, die Gelder sinnvoll einzusetzen, schließlich auch alle gesetzlichen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Es ist nicht gerade wenig, was möglich ist, wenn man seine Rechte kennt. Was für die Kommunen gilt, gilt gleichermaßen für die Bürger. Frauen, Jugendliche und Behinderte sind jene sozialen Gruppen, die mir da besonders am Herzen liegen. Im August waren über 53 Prozent der Entlassenen Frauen, doch nur 41 Prozent von ihnen wurden wieder vermittelt - also wurden deutlich mehr Frauen als Männer entlassen. 6 400 Schwerbehinderte waren im August arbeitslos, bei ihnen wie auch bei den Jugendlichen - im August 76 100 entlassene Jugendliche - müssen die gesetzlichen Regelungen ganz schnell wirksam werden. So hat im wir noch ein Sonderprogramm zur finanziellen Stimulierung von Ausbildungsplätzen für Lehrlinge initiiert. Bei den arbeitslosen Jugendlichen baut sich ein Konfliktpotential auf, das aus meiner Sicht bald schon nicht mehr beherrschbar sein wird, wenn nicht mehr geschieht. Sie sind von einem Zustand der Reglementierung in einen der "ungeahnten Freiheiten" gekommen - mit allen positiven wie negativen Folgen. Die meisten sind orientierungslos; speziell der Rechtsradikalismus ist bedrückend. Wir müssen etwas tun, müssen alle Möglichkeiten der Arbeitsbeschaffung konsequent nutzen.


Sind für Sie am 3. Oktober alle Messen gelesen?


Ich verstehe die Erwartungshaltung vieler Bürger, die sie mit diesem Tag verknüpfen. Aber so vieles ändert sich doch gar nicht. Was soll denn anders werden? Ja, die Verantwortlichkeiten werden direkter, manches lässt sich schneller, vielleicht sachkundiger entscheiden. Aber objektiv ist vieles von dem doch schon Praxis, die Experten sind bereits seit langem da, die Gesetzlichkeit ist faktisch gegeben. Nein, gelesen sind allerdings alle Messen noch lange nicht. Die Länderparlamente haben die Aufgabe, für ein ausgewogenes soziales Klima in ihren Territorien zu sorgen. Nun, da muss noch eine Menge passieren . . .


Welche Gedanken verknüpfen Sie persönlich mit dem Tag?


Einerseits muss ich sagen, dass es mir schwer fällt, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklung diesen Tag in seiner historischen Bedeutung zu würdigen. Andererseits bin ich als Berlinerin, die viele Jahre in der Bernauer Straße direkt an der Mauer wohnte, froh zu sehen, wir Berlin wieder zusammenwächst. Ich habe diese Mauer immer als eine existentielle Bedrohung empfunden: die mit ihr verbundenen Einschränkungen an Demokratie und Freiheit kennzeichneten ein System, das die Welt falsch interpretierte - vornehm ausgedrückt. Im Grunde war es unmenschlich, auch wenn Millionen es nicht spürten, weil sie zu essen und zu trinken hatten. So betrachtet, bin ich auch wieder froh über diesen Tag, obwohl er für mich eher ein Tag der Besinnung, denn der überschäumenden Freude wird.

Jürgen Zweigert

Tribüne, Nr. 181, Mi. 19.09.1990/p>

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