SPD-Bildungspolitiker Dr. KONRAD ELMER zu Schulen in freier Trägerschaft:

Sie können lediglich das Salz in der Suppe sein

Herr Dr. Elmer, Sie stehen dem Bildungsausschuss der Volkskammer vor und haben kürzlich im Parlament in 2. Lesung das Gesetz über Schulen in freier Trägerschaft begründet. Welche Chancen sehen Sie für diese Schulen In den künftigen Ländern der DDR?

Es gehört zu den Forderungen des revolutionären Herbstes, dass unser monolithisches Bildungssystem einer pluralistischen Bildungsvielfalt weichen möchte, um so die freiere Entfaltung der Persönlichkeit zu sichern. Hierbei sollen die Schulen in freier Trägerschaft in Zukunft ihre Chance bekommen. Wir Sozialdemokraten erhoffen uns von diesen Schulen vor allem pädagogische Impulse für das öffentliche Schulsystem. Denn die Schulen in freier Trägerschaft sind in der Regel experimentierfreudiger und bringen ihre andersartigen pädagogischen Erfahrungen in unsere immer noch recht eintönige Bildungslandschaft ein. So mag auch hier ein wenig Konkurrenz der Qualität zugute kommen.

Besteht nicht die Gefahr, die allgemeine Schulbildung den Gesetzen des freien Marktes zu überlassen?

Das werden wir nicht tun. Der Vorrang der allgemeinen öffentlichen Schulen steht für uns außer Frage. Die Schulen in freier Trägerschaft sind für uns lediglich so etwas wie das Salz in der Suppe. Und nur als dieses sind sie für uns von großer Wichtigkeit. Schwierig würde es, wenn solche Schulen in einer Region die öffentlichen Schulen verdrängen sollten. Dann nämlich könnte es passieren, dass Eltern sich schon wieder gezwungen sehen, ihre Kinder auf Schulen zu schicken, deren Weltanschauung sie nicht teilen. Um dieses zu vermeiden, haben wir im Gesetz neben den Chancen zugleich auch die Grenzen zur Genehmigung solcher Schulen benannt. Es wird jedoch gewiss noch lange dauern, bis solche Schulen hier bei uns an Grenzen ihrer sinnvollen Ausbreitung gelangen.

Auf welche Schule würden Sie denn heute Ihre Kinder schicken?

Das ist eine interessante Frage. Meine große Tochter war die letzten vier Jahre bis zum Abitur auf einem Mädchengymnasium, dem einzigen in Ost-Berlin. Wir hatten uns damals dafür entschieden, weil bei dem völlig undifferenzierten Unterricht an der Einheitsschule sie einfach nicht genügend gefordert wurde. Aufs Ganze gesehen ist ihr aber diese Art von Aussonderungsschule auch wieder nicht bekommen. Jedenfalls ging die Schulmotivation am Ende ziemlich gegen Null. Insofern kann ich persönlich weniger verstehen, warum sich meine Kollegen von der CDU im Parlament so sehr für Knaben- und Mädchengymnasien stark gemacht haben.

Ein Ansinnen, das manchen belustigte, viele aber doch erschreckt hat ...

Wie auch immer, ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass eine Kombination aus Einheitsschule und Gymnasium für unsere Kinder wohl das Beste wäre. Die Kinder sollten um der Chancengleichheit und des sozialen Lernens willen möglichst lange, bis zur 10. Klasse, gemeinsam auf dieselbe Schule gehen. Sie sollten dort aber gleichzeitig so differenziert gefördert werden, dass keiner über- und auch keiner unterfordert wird.

Die Lösung dieser schwierigen Aufgabe gelingt unseres Erachtens am ehesten in der Gesamtschule, wie sie vor allem in den SPD-geführten Bundesländern existiert, aber auch in fast allen westeuropäischen Ländern weit verbreitet ist. Der große Vorteil liegt darin, dass eine frühzeitige Auslese von Kindern in verschiedenen Schultypen vermieden wird und dennoch jeder seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert werden kann. Vor allem haben Spätentwickler die Chance, jederzeit vom Grundkurs in den entsprechenden Leistungskurs zu wechseln, dass auf diese Weise die Bildungspotentiale einer Schülergeneration optimal ausgeschöpft werden. Es ist erwiesen, dass über die gymnasiale Oberstufe dieser Schule schließlich prozentual sehr viel mehr Kinder das Abitur erreichen als im dreigliedrigen Schulsystem mit Haupt-, Realschule und Gymnasium, ganz abgesehen von der für uns unvertretbar vorprogrammierten Deklassierung der Hauptschüler.

Sind Sie mit den gegenwärtigen Möglichkeiten elterlicher Mitbestimmung in den Schulen zufrieden?

Hier wurde im Rahmen der Neubesetzung von Direktorenstellen an unseren Schulen vom Bildungsministerium schon einiges auf den Weg gebracht. Dies geschah leider ohne ausreichende Abstimmung mit dem Volkskammerausschuss, sonst wären die Mitbestimmungsrechte der Eltern umfassender ausgefallen. Bisher ist hier ja keine echte Mitentscheidung vorgesehen, sondern der Schulrat entscheidet am Ende allein, wer Direktor wird. Die Eltern haben lediglich das Recht, vorher mit ihrer Meinung gehört zu werden.

Nach meiner Meinung ist das jedoch noch keine Mitbestimmung, wenn man nichts mit bestimmen kann. Freilich darf es nun auch nicht umgekehrt so sein, dass nur die Eltern entscheiden und der Schulrat bloß mal so zu Worte kommt. Vielmehr müsste es so sein, dass keiner ohne den anderen entscheiden kann, sondern ein Zwang zur Einigung, zum Kompromiss besteht.

Abschließend: Kaum öffentlich reflektiert werden zur Zeit Probleme der Berufsausbildung. Wo sieht ein SPD-Politiker da dringlichen Handlungsbedarf?

Wir müssen alles daransetzen, dass jeder Jugendliche einen Berufsausbildungsplatz bekommt. Die Ungelernten sind immer die allerersten Arbeitslosen. Jugendarbeitslosigkeit ist das letzte, was sich eine Gesellschaft leisten darf. Die sozialen Folgekosten sind erheblich höher als die Mittel, welche zur entsprechenden Berufsausbildung nötig sind. Ganz abgesehen davon, dass es unmenschlich ist, den Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass sie einfach niemand braucht. Das sollte sich jeder Betriebsdirektor hinter die Ohren schreiben, der in der Versuchung steht, seine Berufsausbildungsplätze wegzurationalisieren. Allerdings wird es auch erheblicher zentraler Mittel bedürfen, um die von uns übernommenen Berufsausbildungsgesetze der Bundesrepublik in die Praxis umzusetzen. Ich halte für den Herbst eine umfassende Aus- und Umschulungsinitiative, die uns mehrstellige Millionenbeträge kosten wird, für unausweichlich, zumal die Volkskammer das Recht auf Berufsausbildung verfassungsmäßig verankert hat.

Es fragte
BÄRBEL GRIMM

Neues Deutschland, Mi. 01.08.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 177

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