Das erreichbare Maß an Einheit verwirklichen

Gedanken zu einer europäischen Friedensordnung

Von Professor Horst Ehmke MdB

Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag

Patriotische Gefühle und politisch Vernunft in Übereinstimmung zu bringen, ist die Aufgabe der Deutschen in dieser historischen Situation.

Zunächst zu den Gefühlen: Wir Deutschen nehmen das Selbstbestimmungsrecht für uns genauso selbstverständlich in Anspruch wie andere das tun. Wir wollen als eine Nation in Freiheit zusammenleben. Die staatliche Form dieses Zusammenlebens ergibt sich nicht aus einer Rekonstruktion der Vergangenheit sondern aus der Gestaltung der Zukunft.

Die politische Vernunft sagt uns, dass wir nur in Frieden und Übereinstimmung mit unseren Nachbarn in Ost und West zueinander kommen und zusammenleben können. Wir wollen Brücke in Europa sein, nicht wieder Störenfried.

Wir beherrschen die Geschichte nicht. Die DDR könnte in Konkurs gehen und die Konkursmasse mit schweren politischen Verwerfungen an uns fallen. Die Folgen für uns und für ganz Europa wären unvorhersehbar. Eine darauf gerichtete Politik wäre eine Katastrophenpolitik.

Vordringlichste Aufgabe ist es daher, durch Unterstützung der Reformen in der DDR diese politisch und wirtschaftlich zu stabilisieren. Bis unsere Landsleute in der DDR in der Lage sein werden, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben, haben sie und haben wir noch eine schwierige Wegstrecke vor uns.

Erst wenn das erreicht ist, können die Deutschen in der DDR und in der Bundesrepublik über die staatliche Form ihres zukünftigen Zusammenlebens in einem zusammenwachsenden Europa entscheiden. Wir können und dürfen unsere Landsleute in der DDR in dieser Frage weder bevormunden noch majorisieren. Wir werden ihre Entscheidung zu respektieren haben.

Aber auch wir Deutschen in der Bundesrepublik müssen uns im Dialog miteinander und mit den Landsleuten drüben darüber klar werden, welche Lösung wir selber wollen. Die Antwort, es käme selbstverständlich nur eine nationalstaatliche "Wiedervereinigung" in Betracht, ist ebenso ungeschichtlich wie politisch unvernünftig.

Wir Deutschen haben nur während einer sehr kurzen Zeitspanne unserer Geschichte in der Form eines Nationalstaates zusammengelebt, und die Zeit der Nationalstaaten geht zu Ende. Heute kann eine lebensfähige Lösung der deutschen Frage nur noch eine europäische Lösung sein.

Die Deutschen in der Bundesrepublik und in einer demokratischen DDR hätten, grob gesprochen, drei Optionen, die aber viel eher als eine Stufenfolge möglicher Lösungen gesehen werden sollten.

Wir könnten es bei einer strikten Trennung der zwei Staaten belassen. Dagegen spricht nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl vier Deutschen, sondern auch die Tatsache, dass durch einen kräftigen Ausbau der Zusammenarbeit auf allen Gebieten die praktische Zusammengehörigkeit immer enger werden wird.

Die Bildung gemeinsamer Kommissionen und ähnlicher Einrichtungen könnte eine Vorstufe zu einer deutschen Konföderation sein, die als Mittelstück gut in eine europäische Föderation passen würde. Die demokratischen Gesellschaftsordnungen in beiden Staaten könnten durchaus unterschiedlich sein. Westberlin und Ostberlin wären Sitz gemeinsamer Organe. Die Mitgliedschaft der DDR in der EG wäre bei dieser Lösung naheliegend, aber nicht zwingend. Erforderlich wäre in jedem Fall eine enge Assoziierung mit der Europäischen Gemeinschaft. Da eine föderative europäische Ordnung eine Politik gemeinsamer Sicherheit voraussetzt, könnte eine Konföderation der beiden deutschen Staaten als Koppelungs-Element europäischer Sicherheit wirken.

Sozialdemokratischer Pressedienst, 44.Jahrgang/223, 20.11.1989

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