"Sozialdemokratische Tradition und Perspektiven"
Rede Ibrahim Böhme, Geschäftsführer
Verehrte Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde,
da ich von Versammlungsdemokratie viel halte werde ich mich also kurz fassen müssen Trotzdem, ich mochte im Namen der Erstunterzeichner der Initiative zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR, Markus Meckel, Martin Gutzeit, Arndt Noack und meiner Person sagen, dass wir heute glücklich sind. Wir sind glücklich, dass ihr nach dem 7. Oktober, also nach einem reichlichen Vierteljahr so zahlreich erschienen seid und erscheinen konntet. Dass ihr hier seid und dass wir anfangen einen Weg zu diskutieren, der bedeutet, nicht nur eine Schneise für die Demokratie zu bahnen, sondern eine breite Straße, in der jeder Mensch die Teilhabe an Macht erhält in demokratischen Wahlverfahren, die er sich in Kompetenz und in Glaubwürdigkeit erarbeitet, erwirkt hat.
(Beifall)
Zum zweiten sind wir glücklich, dass bereits die Geschäftsordnungsdebatte zeigt, dass eine sozialdemokratische Partei, die eine Volkspartei sein will, sich nicht nur an die Vorgaben eines Vorstandes, egal wie demokratisch oder undemokratisch er sich wählen lassen konnte oder musste, hält, sondern diskutiert. Ich hoffe, oder wir hoffen, dass wir uns in den nächsten Jahrzehnten auch zu inhaltlichen Fragen und Aussagen so verhalten. Wir wären eine schlechte Volkspartei, wenn wir uns nur orientieren würden an den Grundwerten, Grundaussagen und Grundsätzen, die eine vom Vorstand - Verzeihung -, "dirigierte" Grundsatzkommission festlegt, so wie wir das in den letzten vierzig Jahren in der DDR erfahren haben.
Und zum Dritten sind wir glücklich, dass wir es noch schaffen konnten, einen Zeitraum zu erreichen, der es ermöglicht, dass unter uns Freundinnen und Freunde sitzen, die der sozialdemokratischen Partei angehört hatten in einer Zeit, in der es schwieriger war sich zu bekennen zum Gedanken der Sozialdemokratie und des Demokratischen Sozialismus.
(Beifall)
Symbolisch für sie - und sicherlich auch bildhaft für viele der Generationen, die die Zeit nach '45 und die Zeit vor '45 nur aus dem Geschichtsunterricht kennen - wird es sein, was unseren Freunden aus Rostock, unsere Freunde aus der DDR zu berichten, haben werden.
Liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Gäste, meine Damen und Herren, lieber wäre es mir, ich könnte ihnen alle, eine vorgedruckte Rede vorlegen, aber die meisten Mitglieder des sich in Schwante gebildeten Vorstandes besonders Markus Meckel, Martin Gutzeit, Arndt Noack, Stephan Hilsberg, Angelika Barbe, Gerd Döhling und viele viele andere sind in den vergangenen Wochen und Monaten so beansprucht durch dringende Termine, dass sie sich die Pflicht teilen müssen, die ihnen nicht die persönliche Eitelkeit diktiert, sondern die Verantwortung für das Land und seine Menschen, vor allem der moralische Hintergrund für eine Politik, von der wir meinen, sie im Interesse menschlicher Gemeinschaft wahrnehmen zu müssen.
In den letzten Monaten ist in unserem Land die unblutigste Revolution verlaufen, die die europäische Geschichte kennt. Eine Revolution, getragen von Menschen unterschiedlicher sozialer Bindung und unterschiedlicher Weltanschauung. Sichern wir, dass diese Revolution eine friedliche bleibt - dass sie aber eine radikale Demokratisierung anstrebt, die sich in den bestimmenden Forderungen sozialdemokratischer Traditionen und Perspektiven bündelt: Freiheit für alle, Demokratie für alle, Gerechtigkeit für alle und Wohlstand für alle.
(Beifall)
In diesem Sinne hat die europäische Sozialdemokratie immer den Weg für die menschliche Gemeinschaft gesucht der eine Verbindung sozialer kollektiver Gerechtigkeit mit individueller Selbstbestimmung verband. Für diesen Weg müssen wir einstehen, u. a. weil wir am 07.10.1989 in Schwante auch behaupteten, dass wir in den internationalen, europäischen und deutschen Traditionen der Sozialdemokratie stehen. Wenn man etwas Neues will nach diesen vierzig Jahren, sollte man den Menschen die Angst vor dem Neuen nehmen, indem man ihnen erklärt, vor Sozialdemokraten hat noch nie ein Mensch Angst haben müssen, so er sich nicht persönlich schuldig gemacht hat an Gesundheit, Leib und Leben von Menschen. Vor uns braucht auf dem Weg in die Demokratie niemand Angst zu haben.
(Beifall)
Und weil vor uns niemand Angst zu haben braucht, spielen wir auch nicht mit der Angst. Weder mit einer Angst, die den Finger nach rechts, noch mit der Angst, die mit dem Finger nach links zeigt.
(Beifall)
Wer mit der Angst spielt in dieser Zeit in der DDR - Angst beschreibt immer die Reaktion von Menschen auf einen Ausnahmezustand, den wir weder rechts noch links haben - der macht Menschen Angst, der verunsichert sie auf dem Weg in die Demokratie.
Europa, liebe Freundinnen und Freunde, hat sich in Monaten grundlegend geändert. Unser Freund Thomas Krüger vom Bezirksvorstand Berlin hat recht, wenn er gesagt hat, in Tagen vergehen Jahre. Der Umbruch der stalinistischen und poststalinistischen Machtstrukturen zugunsten demokrativerständlicher Übergangsstrukturen Osteuropas vollzieht sich sehr schnell, manche von uns meinen etwas zu schnell. Aber gehen wir einmal davon aus, dass die Wahrheit, dass die Wirklichkeit unsere moralische Theorie auch in Zukunft überholen wird. Unsere Politik wird auch in Zukunft bestimmt werden, von der Verbindung moralischer Theoreme, mit der Analyse der Wirklichkeit.
Bei uns ist dieser Umbruch friedlich verlaufen. Ich sagte bereits er sollte friedlich bleiben. In Rumänien wurde er mit Blut bezahlt. In der Tschechoslowakei sitzt ein Präsident im Präsidenten-Palais, der einige Jahre hart dafür bezahlen musste, dass er sich seit 1968, seit den Reformansätzen Alexander Dubceks für Reformen eingesetzt hat. Ich möchte in diesen Tagen die Übereinstimmung vor allem mit den Freunden, die in Schwante die SDP aus der Taufe gehoben haben und die Übereinstimmung mit euch hervorheben, die ihr euch zu dem sozialdemokratischen Gedanken bekannt habt und viele von euch waren ja schon immer Sozialdemokraten. ich möchte in diesen Tagen Dank sagen den polnischen Freunden, die bei uns weilen und die eigentlich in den mittsiebziger Jahren, mit diesen kleinen Anfängen von Wohnungsakademien und dann in den endsiebziger Jahren mit der Bewegung der Solidarność diesen osteuropäischen Prozess mit der Straße, mit dem Streik, mit dem Votum des Volkes in Gang gesetzt haben.
(Beifall)
Ich möchte mich auch bedanken bei Politikern in Osteuropa, an ihrer Spitze bei Herrn Gorbatschow, der mit einem mutigen Reformweg im Grunde genommen die Absicherung für diesen Demokratie-Prozess versucht hat zu gewährleisten.
(Beifall)
In diesen Stunden hat sich in Aserbaidschan eine Bürgerbewegung mit einem Putschversuch - so die erste Mitteilung der DDR-Nachrichten gegen die Zentralgewalt aus Moskau gewandt. Wir stehen für die nationale Bewegung der Völker, die von Zarismus und ab 1922 nach der Verfassungsbegründung in der UDSSR durch die stalinistischen Strukturen vereinnahmt wurden. Wir stehen für sie! Wir wünschen aber auch Herrn Gorbatschow viel Glück bei der Durchsetzung seiner Reformen.
(Beifall)
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
unsere Bewegung, wie die gesamte Demokratiebewegung in der DDR steht im Zusammenhang mit den Möglichkeiten für Frieden, Entspannung und Demokratisierung für ganz Europa. Wir wollen nicht vergessen, dass dieser Prozess auch durch außenpolitische Verantwortung der sozialdemokratischen Parteien Anfang der siebziger Jahre eingeleitet wurde, dass diese Reformen diese Bewegung mitausgelöst haben, wie beispielsweise die Ostverträge der sozialliberalen Koalition in der BRD, an der Spitze Willy Brandt und Walter Scheel.
(Beifall)
Oder durch die Politik eines Olof Palme, der auch in unserem Land seine Symbolkraft nie verlieren wird.
(Beifall)
Diese Politik, die sich verständigungsbereit nach Osten gewandt hat, die in der Bundesrepublik vor allem durch die Personen Willy Brandt und Egon Bahr vertreten wurde, getragen von der europäischen Sozialdemokratie und der europäischen Bewegung für einen demokratischen Sozialismus, mündete in wichtige internationale und europäische Entspannungsprojekte, wie den KSZE-Prozess, der eine positive Rückwirkung auf die innenpolitische Situation auch in der DDR zuließ. Dass diese Rückwirkung erst jetzt so deutlich möglich wird, hängt nicht nur zusammen mit der Unmündigkeit unserer Menschen, sondern hängt vor allem damit zusammen, dass die Menschen eine Last ertragen mussten, die Mündigkeit unterdrückte. Aber, liebe Freunde, wir sollten unsere politische Herkunft nicht nur aus den politischen Strömungen der letzten Jahrzehnte herleiten. Ich bin froh, dass viele unserer heutigen Mitglieder sich bereits in der illegalen Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiearbeit mit der Entwicklung der Sozialdemokratie so beschäftigt haben, dass sie einen für andere Freunde glaubwürdigen Übergang fanden von ihrer Bewegung für einen demokratischen Sozialismus. Zu einer sozialdemokratischen Partei, die sich bewusst in einen gesamteuropäischen Kontext stellt.
(Beifall)
Das "Positive", dass die Staatssicherheit "geleistet" hat in den letzten Jahrzehnten ist, dass wir uns aus der illegalen Ökölogie-, Menschenrechts- und Friedensbewegung einander kennen und dass wir gelernt haben, bereits in dieser Zeit miteinander umzugehen.
Und ich möchte es ausdehnen von den Freunden, die in der Sozialdemokratie der DDR eine Heimat gefunden haben oder finden werden, auf viele Freunde, die in anderen demokratischen oppositionellen Bewegungen stehen, ob bei der Initiative "Frieden und Menschenrechte", ob beim "Demokratischen Aufbruch", bei "Demokratie jetzt", bei vielen vielen anderen Bewegungen, die man jetzt im Moment gar nicht alle benennen kann. Ich möchte es ausdehnen und sagen, ich bin gewiss, dass wir in diesen Freunden, egal, ob wir mit ihnen irgendwann koalieren werden, egal, ob wir mit ihnen immer in Übereinstimmung sind. Wir haben mit ihnen gemeinsam Lasten getragen und ich bin gewiss, dass wir von ihnen die gleiche Fairness erfahren, wie wir bereit sind, sie ihnen in einem demokratischen Entwicklungsprozess entgegenzubringen.
(Beifall)
Natürlich ist das Problem in der Opposition im Moment - so wie sie sich bereits nennt - das Problem der unterschiedlichen Profilierung. Aber ausgehen müssen wir davon, wenn wir uns mit den sozialdemokratischen Traditionen und Perspektiven beschäftigen, dass jetzt aus einem bislang unterdrückten oppositionellen Verständnis verschiedene Säulen erwachsen müssen, die von links über die Sozialdemokratie bis hin zu nationalkonservativen und wertkonservativen Bewegungsformen in eine parlamentarische Demokratie münden. Wir müssen den Meinungsstreit zulassen, der dann zu dem entsprechenden Wahlergebnis führt. Und ich verwahre mich dagegen, dass jeder der Wiedervereinigung nennt, von uns oder von anderen als rechts bezeichnet wird.
(Anhaltender Beifall)
Wir haben durchaus eine, sehr sensible Aufmerksamkeit für rechte Tendenzen. Aber diese entwickeln sich nicht erst seit dem 9. November, diese Rechtstendenzen lebten mit der Duldung unserer Sicherheitsorgane oder zumindest durch die Unterschätzung der Sicherheitsorgane die ganzen letzten Jahre seit 1979 und alle Hinweise darauf wurden unterdrückt, während man sich mit den Menschenrechts, Friedens- und Ökologiebewegung sehr deutlich zu beschäftigen verstand. Aber wir, haben keine Angst vor Rechtstendenzen und auch keine vor linksradikalen Tendenzen, weil wir wissen, dass die Mehrheit unserer Bevölkerung ihnen keine Mehrheitschance geben wird.
(Beifall)
Unsere Bevölkerung hat am eigenen Leibe die Radikalität der Macht, die sich links nannte und am Ende gar nicht mehr wusste, wo sie wirklich steht, so deutlich erfahren, dass sie sich deutlich zu wehren weiß gegen Links- und Rechtsradikalismus.
(Beifall)
Ich möchte - und ich betone das hier als alternativer Marxist - die Quellen unserer Sozialdemokratie in der DDR benennen. Ich weiß, dass ich damit nur eine Bündelung vornehmen kann:
Erstens, die christlichen Verantwortungslehren für die Menschheit, besonders hinsichtlich moralbewusster Solidargemeinschaften, zweitens die demokratischen Traditionen der europäischen und internationalen Entwicklung, vor allem seit der französischen, bürgerlichen Revolution. Und es kam nicht von ungefähr, dass wir das noch illegale Menschenrechtsseminar am 26. August aus Anlass des 200. Jahrestages der Verkündigung der Menschenrechte in der französischen, bürgerlichen Revolution dafür benutzten, um den Aufruf der Initiative zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR öffentlich zu machen. An dieser Stelle möchte ich dem Mitglied der SDP, Pastor Hilsberg, herzlich danken, der uns an diesem Tag die Möglichkeit für das Seminar gab, sowie die Möglichkeit der Verkündung einer solchen Initiative.
(Beifall)
An dieser Stelle, bei diesem Punkt 2 der Quellen möchte ich die Gelegenheit als Nichtchrist nutzen, all den Kirchengemeinderäten, Kirchenleitungen zu danken, die uns in den letzten zwölf Jahren eine Heimstatt gegeben haben für alternative Diskussionen gegen den Allmachtsanspruch, der in unserem Staat obwaltete.
(Anhaltender Beifall)
Als Drittes gehören zu den Quellen der Sozialdemokratie in der DDR die Bestandteile der marxistischen Kritik an den sozialökonomischen Zuständen seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Und viertens möchte ich die Auseinandersetzung mit den stalinistischen und den post-stalinistischen Strukturen des Lagers der sogenannten sozialistischen Staaten benennen und die Erkenntnisse, die wir daraus gewonnen haben und gewinnen werden für unseren demokratischen Weg. Aber liebe Freunde, lasst uns aus diesen Quellen keine neue Ideologie machen.
1. Ideologie darf nie wieder Institution werden.
(Beifall)
2. Lasst uns so utopiezugänglich sein, dass wir die Träume aller unserer Menschen aufnehmen können in einen Katalog praktischer, politischer Vernunft.
(vereinzelt Beifall)
3. Lasst uns in ökologischer und sozialer Verantwortung - das ist hart, was ich jetzt sage - lasst uns in ökologischer und sozialer Verantwortung ökonomisch so effizient sein, dass wir überhaupt mit ökonomischem Hintergrund sozial handeln können.
Unser politisches Selbstverständnis lebt aus verschiedenen Phasen: Sowohl aus der Phase der Zeit vor der Verkündung des wissenschaftlichen Sozialismus, vor allem durch Marx und Engels, die die Politik der Sozialdemokratie und auch der Gewerkschaftsbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein bestimmten.
Wir kennen alle die Geschichte des Bundes der Geächteten, der Gerechten und des Bundes der Kommunisten. Die Tradition der Sozialdemokratie lebt von einem so herrlichen Werk, wie Wilhelm Weitlings Evangelium des armen Sünders, das, wie selten ein Buch am Anfang des Jahrhunderts, die Sehnsucht nach sozialer Verantwortung und nach sozialer Gerechtigkeit mit dem ewigen christlichen Traum oder dem ewigen Traum überhaupt der Menschen, in einer Solidargemeinschaft leben zu können, verbindet. Unser politisches Selbstverständnis lebt in der gleichen Weise, von der vor allem von Marx und Engels verkündeten Utopie der befreiten Gesellschaft. In dieser Utopie müssen wir uns von vielen moralischen Theoremen verabschieden. Das Kommunistische Manifest ist eines der schönsten Dokumente der politischen Literatur. Aber es ist zum großen Teil ein Traum gewesen. Ein Traum, der vor allem deshalb an Wertsubstanz verloren hat, weil er auch bewusst missbraucht wurde von Menschen, die ihre Macht aufzubauen verstanden auf moralischen Positionen, die sie selbst pervertierten.
(Beifall)
Unser politisch-historischer Hintergrund lebt genauso von einem Ferdinand Lassalle und dessen Nonchalance eines gutbezahlten Rechtsanwalts, der vorwiegend politisch Verfolgte verteidigte. Wir kennen auch aus unserer Geschichte einige Rechtsanwälte, die glaubwürdig politisch Verfolgte in schlimmen Zeiten verteidigt haben. Erlebt genauso von einem Ferdinand Lassalle, der im Jahre 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gründete, wie von den hervorragenden Persönlichkeiten Wilhelm Liebknechts und August Bebels.
Vergessen wir eines nicht: Die Sozialdemokratie lebt nicht nur von diesem Profil. Sie lebt vor allem vom Profil einer großen, einer mächtigen - "mächtig", das ist auch pervertiert worden hier – einer großen Volkspartei, die vielen Menschen die Möglichkeit gibt, entlang der Grundaussagen, der Grundsätze miteinander inhaltlich zu diskutieren.
Sie lebt auch davon, dass ein August Bebel im Jahre 1871 nachdem Sieg der Deutschen in Sedan über die französischen Armeen sagte: Jetzt sind die Franzosen geschlagen, jetzt wird der Krieg, wenn wir auf Paris marschieren und die Commune niederschlagen, denn die Commune ist eine Angelegenheit des französischen Volkes, ein Krieg der Eroberer. Der sich in seiner Minderheitsposition von einem Abgeordneten im damaligen deutschen Reichstag sagen lassen musste, die Menschen auf der Straße werden Sie mit einem Knüppel erschlagen. Er hat es getragen. Er hat dafür in der Minderheit gestanden, eine Festungshaft auf sich genommen. Auch das gehört zur sozialdemokratischen Tradition.
(Beifall)
Und wenn sich der ADAV, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, dann unter Jean Pierre Schweitzer im Jahre 1875 in Gotha mit den Eisenachern, die sich 1869 gegründet hatten, vereinigte, dann in dem Wunsch, dass es eine deutsche Einheit, eine Einigkeit der deutschen Arbeiterklasse gibt.
Ich betone, in den Dokumenten von Gotha steht vor allem das Wort Einigkeit und erinnere an das Wort von Willy Brandt, Einigkeit der Menschen geht vor Einheit. Die Sozialdemokratie hat niemals eine Zwangseinheit gemeint, in dem irgendeine Seite in einem sogenannten Kompromiss die eigenen moralischen und politischen Grundsätze aufgeben muss. Die Sozialdemokratie hat auch in der Zeit des Faschismus in den Konzentrationslagern dafür die Stimme erhoben, dass man die Einigkeit der deutschen Arbeiterbewegung wieder herstellt.
(Beifall)
Aber sie hat eine,andere gemeint, als sie ihr dann in der sowjetischen Besatzungszone am 21./22. April [1946] gegen die Mehrheit der sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen aufdiktiert wurde!
(Beifall)
Es gibt in der Geschichte der europäischen Demokratie und der Arbeiterbewegung kein weiteres Beispiel dafür, dass eine Partei nach zwölf Jahren Unterdrückung durch ein in diesem Falle Sozialistengesetz bei den darauf folgenden Wahlen die stärkste Partei wurde. Es ist Bismarck mit dem Sozialistengesetz von 1878 bis 1890 nicht gelungen, den sozialdemokratischen Gedanken zu unterdrücken. Im Gegenteil, er hat damit dafür gesorgt, dass die Sozialdemokraten ohne den politischen Streit zwischen Singer, Bracke und Bebel und Wilhelm Liebknecht aufzugeben, ohne diesen Streit aufzugeben, nach 1890/91 im Deutschen Reichstag zur stärksten Partei wurde.
Es ist der Sozialdemokratie gelungen, zu einer Programmatik zu finden, die sich a) lösen konnte von der Utopie der befreiten Menschheit und b) von einem Opportunismus, der vor 1878 im Grunde genommen begann, die sozialdemokratischen Gedanken zu verwässern. Nach 1890 haben wir es mit einer Sozialdemokratie zu tun, die, vor allem diktiert von den Theoretikern Bernstein und Kautsky, durchaus den Marxismus als Soziallehre einzurechnen versteht, aber vor allem damals schon auf dem Weg gewesen ist, eine Volkspartei zu werden. Das zeigen eindeutig die politischen Bewegungen vor allem in Preußen, in Thüringen und Sachsen in den Jahren von 1891 bis 1910. Marx, Lassalle und Bebel gehörten in dieser Zeit gleichberechtigt zu dem Stammvätern der Sozialdemokratie.
Die Sozialdemokratie hat sich nicht erst dann, als man die ökologische Gefahr sah, mit der Ökologie beschäftigt. Wenn Sie Aussagen beispielsweise lesen, verehrte Freundinnen und Freunde, von Singer, diesem großen Berliner Sozialdemokraten, aus dem Jahre 1892, dann werden Sie viele Gedanken darin finden, in denen er zum Umgang mit der Natur etwas sagt. Ich empfehle den Berlinern, die Schriften von Singer und Bracke, die ja zum Glück in den Bibliotheken der DDR nicht vernichtet, leider aber auch von zu wenigen Menschen in den letzten Jahren gelesen worden sind. Jetzt sollten wir uns darauf besinnen, die Bibliotheken durchzustöbern. Hoffentlich war das kein Hinweis an das Zentralinstitut für Bibliothekswesen, jetzt wieder sogenannte Null-Listen herauszugeben und die Schriften zu vernichten. Aber da sind wir ja schon weit ab davon.
Die Sozialdemokratie in Deutschland hat wie selten eine andere linke oder demokratische Partei einen Führer wie August Bebel gehabt, der bereits um die Jahrhundertwende herum die Frauenfrage stellte und der wie später Karl Liebknecht noch deutlicher eindeutig erklärt, die Frauenfrage und die Jugendfrage. Ich zitiere Bebel: "Die Frauenfrage und die Jugendfrage sind nicht schlechthin soziale Fragen. Wir müssen sie komplex lösen und die Kultur der Menschen im Umgang miteinander dabei verändern."
Die SPD hat nie eine Friedenspolitik gemacht, die so dargestellt wird wie im Geschichtsunterricht des von der SED vierzig Jahre diktierten Volksbildungssystems, in dem man ja sehr rüde mit der Sozialdemokratie umging und trotz des Meinungsstreit-Papieres, das Erhard Eppler und Otto Reinhold unterschrieben haben, auch nach 1987 nicht verändert hat. Die Sozialdemokratie hat sich immer der Friedensfrage gestellt. Natürlich ist sie in vielen Punkten auch belastet, in einigen Punkten durch Persönlichkeiten und Führer.
Ich möchte hier sagen, eine Partei, eine Volkspartei, in der es nicht auch menschelt, wäre für mich eine langweilige Partei und keine Volkspartei. Eine Partei aber, die die demokratische Kraft hat, dem Menschelnden auch zu widerstehen, wie es die deutsche Sozialdemokratie in den meisten ihrer Phasen immer verständen hat - das ist eine Volkspartei.
(Beifall)
Es gab in Deutschland keine Partei, die sich so zur Bildungspolitik gestellt hat, wie die Sozialdemokratie bereits im Jahre 1902. Oder zur Kolonialpolitik des Deutschen Reiches auf dem Jenaer Parteitag 1905. Oder zur sozialistischen Befreiungsbewegung in Osteuropa. Die SDAPR beispielsweise, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, konnte nur drucken, weil sie in Leipzig die Solidarität erfuhr, ihre Istra - ihre Zeitung - herauszugeben. Es waren deutsche und österreichische Sozialdemokraten, die dieses den Osteuropäern ermöglicht haben.
Es waren auch die deutschen Sozialdemokraten, die im Jahre 1907, 1910 und 1912 in Stuttgart, Kopenhagen und Basel die Parteikonferenzen der Europäer zu Friedenskongressen machten. Es waren, das betone ich hier, zuerst Sozialdemokraten, wenn auch linke, die im Jahre 1914 gegen die Kriegskredite gestimmt haben und die wussten, wir sind im Moment die Minderheit unseres Volkes, denn der Hurra-Patriotismus grassierte überall. Es war ein Sozialdemokrat in Frankreich, der sich lieber erschießen ließ, als im französischen Parlament seine Ja-Stimme für die Kriegskredite zu geben, Jean Jaures.
Natürlich stand die Sozialdemokratie 1918/1919 am Scheideweg bei der Frage: Kampf der Volksrevolution um die Demokratie oder aber parlamentarische Demokratie. Und ich meine, bei all meinen Vorbehalten gegen Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann in dieser Zeit in der Entscheidung dieser Frage, unter all meiner Ablehnung des sich sozialdemokratisch nennenden Noske, meine ich, dass die Sozialdemokratie richtig entschieden hat in diesem Zeitraum, wenn sie sagte, wir müssen die Volksrevolution mit der parlamentarischen Demokratie verbinden, wenn wir nicht eine Diktatur errichten wollen.
(Beifall)
Und wenn wir in dieser revolutionären Nachkriegskrise von 1918 bis 1923, vom roten Thüringen, vom roten Sachsen, vorn roten Preußen unter Otto Braun und Karl Severing sprechen, dann müssen wir erkennen und dürfen wir nicht vergessen, dass das vor allem sozialdemokratisch gewählte Länder gewesen sind. Die SPD stand zu dieser Weimarer Demokratie, die sich seit Januar 1919 etablierte - leider nicht stabilisierte: Ich bin nicht so ein vollmundiger Ablehner weimarer Traditionen. Ich glaube auch, dass sich die sozialdemokratischen Diskussionspartner im Parlamentarischen Rat in den endvierziger Jahren durchaus auf die Weimarer Tradition bezogen haben. In der Weimarer Demokratie stand die Sozialdemokratie zwischen dem Wunsch nach einem rechtsstaatlichen Rahmen und dem Wunsche nach einer revolutionären Entwicklung. Es ist in den einzelnen Ländern und Gebieten leider erst am Ende der Weimarer Demokratie gelungen, das miteinander zu verbinden. Aber mittlerweile hatten sich die reaktionären Kräfte so etabliert, dass die Sozialdemokratie überhaupt keine Chance mehr hatte, diese Vereinigung von rechtsstaatlichem, Rahmen und revolutionäre Entwicklung zum Tragen zu bringen. Die Wirtschaftskrise ab 1929 sorgte dafür, dass die Menschen sich nach links und rechts sehr deutlich polarisierten, so dass die Sozialdemokratie nicht mehr mehrheitsfähig gewesen ist. Die Wirtschaftskrise allein allerdings, auch das dürfen wir nicht vergessen, hat nicht die Weimarer Republik und die Sozialdemokratie geschwächt, sondern auch das mangelnde Demokratieverständnis und Demokratiebewusstsein von Menschen.
Ich meine auch, dass dieses Regime in der Deutschen Demokratischen Republik und in anderen osteuropäischen Staaten sich nicht allein deshalb halten konnte, weil es die Machtinstrumente in Händen hielt, sondern weil viele auch von uns, zu lange dazu geschwiegen haben. Auch das dürfen wir jetzt nicht vergessen.
Wir alle haben uns bei dem, was wir für die Bevölkerung tun wollen und müssen auf unserem sozialdemokratischen Weg jeder für sich zu fragen, welchen Teil Verantwortung habe ich gehabt. Aber ich betone noch einmal, nur derjenige der deutlich Schuld auf sich genommen hat, muss vor Sozialdemokraten Angst haben. Jeder, der sein Maß Verantwortung erkennt und sich auf den neuen Weg besinnt ist an unserer Seite.
Er ist, so er die Grundaussagen der Sozialdemokratie und überhaupt der jetzt noch oppositionell demokratischen Bewegung akzeptiert und anerkennt, herzlich willkommen.
Die Straße in Deutschland wurde auch 1929 frei für den roten Frontkämpferbund, für die SA und für andere paramilitärische Organisationen. Ich möchte nicht richten zwischen dem roten Frontkämpferbund und der SA und möchte durchaus einrechnen, dass der rote Frontkämpferbund sich durchaus mehr in der Verteidigungsposition befand, als de provozierende SA. Aber wenn jemand von beiden Seiten angegriffen wurde, dann war es das Schutzbündnis der Sozialdemokratie, der Reichsbanner und ich freue mich, dass es in der Berliner Organisation Genossinnen und Genossen gibt, die nicht nur ihren Parteiausweis, ihre Mitgliederkarte von 1933 zeigen können, sondern auch das, was sie an Schwielen mitbekommen haben als Mitglieder des Reichsbanners, der nur da war als ein Bündnis, um die Sozialdemokratie zu schützen.
(Beifall)
Natürlich haben sozialdemokratische Politiker wie Braun und Wels den Faschismus auch unterschätzt. Aber ihnen war gar nicht die Möglichkeit gegeben, sich einheitlich in der Arbeiterklasse gegen den Faschismus zu stellen, weil sie mit Befehlsrichtung aus der Komintern aus Moskau und von der KPD als Sozialfaschisten bezeichnet wurden. Die SPD war es vor allem, die im antifaschistischen Widerstandskampf im Exil die Gemeinsamkeit mit den Kommunisten suchte. Wenn sie sich mit Aussagen über die Entwicklung im Saarland vor der Angliederung des Saarlands an den Faschismus; an das faschistische Deutschland beschäftigen oder mit der Exilantenbewegung in Prag, werden sie vorfinden, dass es vor allem die Sozialdemokraten waren, die Mitglieder der SPD und die etwas links von ihr stehenden SAP, die die Geschlossenheit suchten.
Ich möchte auch betonen, dass sozialdemokratische Persönlichkeiten wie Adolf Reichwein und Julius Leber in ihrem Widerstandskampf deutliche Aussagen trafen, dass sie, die zum Kreisauer Kreis des Grafen von Moltke gehörten, bereit sind, nach der Niederringung des Faschismus mit allen demokratischen Kräften in Deutschland gegen jede Polarisierung, die in Terror endet, zu koalieren. Nach dem Ende des Krieges beginnt der Abrufwert der Sozialdemokratie neu, beginnt deshalb neu, weil viele Menschen in der deutschen Arbeiterschaft und den deutschen Angestellten erkannten, dass es die Sozialdemokratie gewesen ist, die vor dem Faschismus gewarnt hatte in einer Art, die niemanden ausgrenzte. Dass es die Sozialdemokratie gewesen ist, die im antifaschistischen Widerstandskampf die Geschlossenheit mit allen Demokraten suchte.
Es gab durchaus auch in den heutigen Bundesländern Bewegungen, die nach einer Einigkeit der deutschen Arbeiter suchten. Es war der Wunsch der Sozialdemokraten, Einigkeit der Arbeiter in einem langen Diskussionsprozess, in einem Sich-Besinnen auf die langen Traditionen der deutschen Arbeiterklasse und nicht nur auf die, die 1917/18/19 entstanden waren. Aber diese sozialdemokratischen Freunde mussten verschreckt sein davon, was sich in einem kurzen Zeitraum vom 9.-Mai- oder besser gesagt vom 11.-Mai-Aufruf 1945 bis zum 21./22. April 1946 in der Kroll-Oper vollzog. Das gegen die Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter, Angestellten, Gewerbetreibenden, Handwerkern und anderen Angehörigen der SPD diese Einheit vollzogen wurde.
Ich habe nicht das Recht über antifaschistische Persönlichkeiten wie Otto Buchwitz und dergleichen ein Negativurteil zu sprechen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass eine Persönlichkeit wie Otto Buchwitz in Dresden es ehrlich gemeint hat. Aber wir alle haben das Recht aus historischer Kenntnis zu sagen, dass diese Vereinigung gegen die Mehrheit der deutschen sozialdemokratischen Arbeiter und Mitglieder beschlossen und vollzogen wurde.
(Beifall)
Und das Märtyrium, das viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, ihre Familien in den Jahren danach ertragen haben, verpflichtet uns, das zu sagen. Es war ein langer Weg der sozialdemokratischen Partei in der Bundesrepublik bis Bad Godesberg. Ich möchte mich hier auch nicht unbedingt über das Programm von Bad Godesberg 1959 auslassen. Da wird es sicherlich noch eine ganze Reihe von Streitsituationen in unserer Partei geben, und es ist notwendig, darüber zu streiten, denn es beschreibt einen neuen Weg für die Sozialdemokratie von einer Arbeiterpartei über eine Volkspartei bis hin zu einer Staatspartei zu gelangen. Ich glaube aber, dass die Begründer des Bad Godesberger Programms durch die Erfolge der Sozialdemokratie in den Jahren nach Bad Godesberg grundlegend Recht bekommen haben. Ich glaube auch, dass die Entspannungserfolge, die deutsche und europäische Sozialdemokraten - in dem Falle meine ich vor allem die deutschen - nach 1971 in Europa erreichen konnten, zu einem großen Teil auf dem Programm von Bad Godesberg fußt.
Hier an dieser Stelle sollten wir all den Sozialdemokraten Dank sagen, die bis 1961 in Berlin ihre Partei hochgehalten haben, die auch Bad Godesberg mitgetragen haben.
(Beifall)
Wir sollten allen Sozialdemokraten, ob in Dresden, Leipzig, Thüringen, Berlin oder sonst wo in der DDR Dank sagen, die den sozialdemokratischen Gedanken nicht aufgegeben haben. Und wir möchten die alten sozialdemokratischen - das hören sie gern das Wort, viele werden es noch nicht so gern hören - die alten sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen bitten, findet zu uns und gebt uns etwas von dem, was ihr gelernt habt, was wir noch nicht lernen konnten und hoffentlich nie gezwungen sind, lernen zu müssen.
(Beifall)
Liebe Freundinnen und Freunde, da meine Zeit abläuft, werde ich mich kurz fassen.
Aus den Traditionen der Sozialdemokratie bestimmen sich die Perspektiven auch der Sozialdemokratie in der DDR in einem außenpolitischen und abrüstungspolitischen Entspannungsprofil. In dem Wunsch, dass Europa im Verbund des sozialdemokratischen Traumes einer europäischen Konföderation, vor allem aus dem Jahre 1922, allen Menschen, allen Völkern soziale Gerechtigkeit und Freiheit gewährt. Unsere Solidarität mit Osteuropa war ein moralisches Theorem, das vor allem noch unter der Situation des 7. Oktober, in einer anderen Situation, geschrieben war. Ich bitte uns alle, verlassen wir diese Solidarität nie, denn wer die Solidarität, egal mit welchem Menschen, der jemals an seiner Seite gestanden hat, verlässt, verlässt am Ende seine eigene Familie.
(Beifall)
Lasst uns aber auch nicht zu einfach vordergründig moralisch sein und sagen, wir sind für die Solidarität mit den osteuropäischen Freunden, sondern lasst uns so radikal demokratisch sein zu sagen, die Offenlegung der wirtschaftlichen Situation der osteuropäischen Staaten, auch unseres Landes ist nötig, dass wir moralisch sozial handeln können für unsere osteuropäischen Schwestern und Brüder, wenn wir es ertragen, uns ökonomisch so effizient zu gestalten in der nächsten Zeit, dass wir eine Transmission für Osteuropa sind.
(Beifall)
Wir wissen alle, wie schwer es sein wird, einen Wahlkampf zu führen, in dem man bei den alten oder bei den einmal gefassten moralischen Theorien bleibt: Wir sind für die Solidarität mit den ärmeren Ländern in dieser Welt. Auch das dürfen wir nicht verlassen.
(Beifall)
Wenn wir dieses Theorem einfach verlassen, haben viele unserer Freundinnen und Freunde bis zur sogenannten großen Wende Vertriebensein, Haft, Verfolgung, Berufsverbot usw. umsonst auf sich genommen. Denn die demokratischen Bewegungsformen vor der großen Wende haben alle mit von dem moralischen Prinzip gelebt, dass wir die Verantwortung für alle Menschen der Welt als für unsere eigene tragen. Vor allem die Verantwortung mit den Menschen in ärmeren Ländern. Aber lasst uns auch hier nicht nur bei den moralischen Theorien bleiben und lasst uns sagen, wie wir es machen wollen, dass es uns möglich ist, zu helfen. Denn das, was wir an Solidaritätsausübung kennen, hat ja diesen Menschen, in der Dritten Welt mehr geschadet als genutzt. Ich glaube, hier können wir auf einen der schönsten und jüngsten Traditionen der deutschen Sozialdemokratie zurückgreifen. Es waren keine anderen als Willy Brandt und Olof Palme, die bereits Anfang der siebziger Jahre im Nord-Süd-Dialog genau diese Fragen aufgriffen und stellten.
(Beifall)
Wenn es um die Bündnisfragen geht in der nächsten Zeit, werden diese sehr hart diskutiert und gestellt. Ich hoffe, wir diskutieren darüber, ohne gegenseitig Redeterror auszuüben - das wird es in der sozialdemokratischen Partei in der DDR nie geben. Wenn es um die Aussagen über Bündnisse geht, lasst uns immer eines sagen, wir wollen uns mit allen Menschen verbünden, die zuerst für Demokratie sind und sich dann links, rechts, wertkonservativ, nationalkonservativ oder sonst wie profilieren.
(Beifall)
Menschen, die zuerst ihr sogenanntes Seitenprofil angeben, neigen meistens dazu, ihre Demokratie nur als einen Fetisch zu benutzen. Nur wer Demokratie als erstes Prinzip erkennt, kann auch in seiner eigenen Partei tolerant sein.
(Beifall)
Unsere Bündnisaussagen sollten sich davon herleiten, dass es die Sozialdemokratinnen in der SPD gewesen sind die zumindest ein moralisches Bündnis mit Bertha von Suttner geschlossen haben. Ich erinnere an die Briefe der jungen Luxemburg an Bertha von Suttner, die bürgerliche und aristokratische Friedenskämpferin. Ich erinnere daran, dass es der Sozialdemokrat, damals noch Sozialdemokrat, Franz Mehring gewesen ist, der den Begründer des Internationalen Roten Kreuzes nach der Schlacht von Solverino, Henri Dunant, überhaupt entdeckte. Und dass er einen Briefwechsel anschob, der Henri Dunant den ersten Friedensnobelpreis einbrachte.
Wenn es um Bündnisaussagen geht, sollten wir uns in erster Linie davon leiten lassen, dass die Mitbestimmung aller Menschen in einem gesellschaftlichen Prozess und ihre größt möglichste Teilhabe an Macht das erste Prinzip von Politik sein muss. Ich möchte an unsere Freunde in West- und Osteuropa und an die, die es noch nicht sind, an unsere Anrainernationen eindeutig gewendet erklären, vor der Sozialdemokratischen Partei in der DDR braucht auch in Beziehung niemand Angst zu haben, dass jemals bei uns die Forderung von Grenzveränderung nach dem Ergebnis des Zweiten Weltkrieges mehrheitsfähig sein wird.
(Beifall)
An die polnischen, an die tschechischen, an die französischen Freunde, an die Freunde aus den Beneluxstaaten, die dänischen Freunde und alle anderen, die heute unter uns sind oder morgen sein werden, möchte ich eindeutig sagen: Die Sozialdemokratie in Deutschland hat sich immer gegen den Schwester- und Brudermord ausgesprochen! Und wir haben nicht umsonst, unsere Väter und Großväter, so schlimme Kriege führen müssen, dass jemand in der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, auch wenn er das von mir nicht mitgetragene Wort "Wiedervereinigung" aussprechen sollte, dabei an Grenzlegungen nach Osten, Westen, Norden oder Süden denkt. Ich danke für die Aufmerksamkeit.
(Anhaltender lebhafter Beifall)
Protokoll der Delegiertenkonferenz der Sozialdemokratischen Partei in der DDR 12.1-14.1.1990 Berlin, Kongresshalle Alexanderplatz, Seite 22-36
Ibrahim Böhme hielt die Rede am 12.01.1990