"Die Annäherung unserer beiden Parteien war unvermeidlich"
Ibrahim Böhme, Gründungsmitglied und Geschäftsführer der SPD Ost, zur Annäherung an die Bundesgenossen und zum Bekenntnis zu einem Parteiengesetz für die Wahlen vom 6. Mai
INTERVIEW
taz: Vor vier Monaten war Ibrahim Böhme noch ganz froh über die ersten distanzierten Reaktionen der West-SPD auf eure Gründungsinitiative; damit werde euch der Nachweis eurer Eigenständigkeit erleichtert. Von diesem Willen zur Eigenständigkeit scheint nach der Versammlung vom Wochenende nicht mehr viel übrig zu sein.
Ibrahim Böhme: Die Reaktionen der bundesdeutschen SPD auf unsere Gründungsinitiative haben mich zuerst traurig gemacht. Doch dann war ich ganz froh darüber, denn so mussten wir nicht ständig dementieren, nur Anhängsel der West-SPD zu sein. Bereits vor der "illegalen" Gründung am 7. Oktober in Schwante hatte ich Kontakte zu SPD-Vertretern, die die damalige Auffassung der Partei nicht mitgetragen hatten. Allerdings war vor vier Monaten die Situation in der DDR eine völlig andere. Seitdem sind Fragen ins Bewusstsein Europas und in den Alltag der Menschen in der DDR gerückt, die den Annäherungsprozess beider Parteien beschleunigt haben, so z. B. die Frage nach der Einheit der Nation und nach der Aufhebung der Zweistaatlichkeit.
Ich hätte es gern konkreter. Die Versammlung fühlt sich in der Umarmung der Genossen aus dem Westen offensichtlich recht wohl. Wie geht es Ibrahim Böhme dabei?
Ich fühle mich nicht unwohl, aber ich bleibe nachdenklich. Ich fühle mich nicht ganz wohl, was die Schnelligkeit der Entwicklung anbelangt. Doch die Annäherung beider Parteien war unvermeidlich.
Ein wesentlicher programmatischer Dissens zur West-Partei ist hier nicht auszumachen. Habt ihr keine Angst, eingezwängt in materieller Abhängigkeit und erdrückt von der personellen Dominanz zum "Aktenkofferträger" eurer großen Schwester zu werden - wie das ein Delegierter auf der Konferenz ausgedrückt hat?
Da habe ich keine Befürchtungen. Wir hatten bislang nicht den Eindruck, dass wir vereinnahmt werden sollten. Ich glaube auch, dass ich stark genug bin, mich vor einer Erdrückung durch die Bundes-SPD wehren zu können.
Vom großen Aufbruch der letzten Monate ist hier wenig zu spüren. Man hat eher den Eindruck von Saturiertheit und Erfolgsgewissheit. Glauben Sie nicht, dass mit der schnellen Formierung in Anlehnung an die West-SPD die Spontaneität und Kreativität der Zeit des Aufbruchs verlorengegangen ist?
Ja, ich glaube, dass die schnelle Strukturierung unserer Partei die vorhandene Spontaneität, die den Menschen eigentlich besser bekommt, wegdrückt. Doch ich sehe in der Spontaneität, wie sie sich in den letzten Wochen entwickelt hat, auch Gefahren und Latenzen, deren Zielrichtung man noch gar nicht richtig ausmachen kann. Die Verantwortung gegenüber dem Land und seiner Bevölkerung erlauben es mir, Spontaneität nur soweit wie notwendig zu erhalten. Wir müssen jetzt erst einmal strukturieren, um Rechtsstaatlichkeit im System zu verankern. In der Tat habe ich es heute erlebt, dass einige Anwesenden sich saturiert zeigten. Aber von der Mehrheit hatte ich doch den Eindruck, dass sie mit dem Selbstbewusstsein aufgetreten sind, das, was sie unter sozialer Demokratie verstehen, in der nächsten Zeit durchzusetzen.
Das Neue Forum will sich, anders als die SPD, nicht als Partei etablieren, sondern Bürgerbewegung bleiben. Nur so glaubt man dort die Spontaneität und Kreativität der letzten Monate bewahren zu können. Halten Sie diese Hoffnung für berechtigt, und gibt es auch weiterhin eine gesellschaftliche Notwendigkeit für ein solches Projekt?
Ich glaube, dass die neue Demokratie in der DDR nicht nur inhaltliche Unterschiede braucht, sondern auch unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Bewegungen. Ich bin überzeugt, dass das Neue Forum, wenn es ihm gelingt, die spontane Bewegungsform zu erhalten, genauso zur neuen DDR-Demokratie gehört wie eine sich strukturierende demokratische Volkspartei SPD. Ich werde - egal, wohin sich das Neue Forum entwickeln wird - nicht vergessen, dass diese Bürgerbewegung den entscheidenden Anteil bei der Aufhebung der Sprachlosigkeit und der Mobilisierung sachkompetenter Leute für den Umbruch geleistet hat. Davon hat die gesamte demokratische Bewegung profitiert. Ich hoffe aber, die Freunde vom Neuen Forum werden uns nicht verübeln, wenn wir organisatorisch einen anderen Weg gehen.
Da braucht ihr wohl keine Bedenken zu haben. Verübeln wird euch das Neue Forum allerdings, dass ihr für ein Wahlgesetz eintretet, das nur Parteien zur Wahl zulässt. Damit wäre das Neue Forum von der Wahl ausgeschlossen.
Auch in dieser Frage gibt es bei uns unterschiedliche Auffassungen. Ich persönlich befürworte auch ein Parteiengesetz. Aber bei den Wahlen am 6. Mai bin ich für den Kompromiss, sich nicht an dem Wort Partei aufzuhängen. Ich finde, zwei Bedingungen müssen als Voraussetzung einer Kandidatur gewährleistet sein: Doppelmitgliedschaften müssen ausgeschlossen sein; dahinter verbargen sich in der Vergangenheit immer Schleppmandate für die SED. Außerdem muss sich jede Organisation, die an den Wahlen teilnimmt, ein inhaltlich und strukturell durchschaubares Statut geben. Für diesen Kompromiss streite ich innerhalb meiner Partei.
Gemessen an der Stimmung in dieser Versammlung, werden Sie da wenig Chancen haben.
Im Vorstand gibt es dafür eine Mehrheit. Heute jedoch habe ich erfahren, dass die Basis aus den unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Neuen Forum in den Regionen der DDR mehrheitlich für ein Parteienwahlgesetz eintritt.
Damit würde ja die oppositionelle Solidarität, die Sie immer propagieren, im Konkreten scheitern. Auch der Beschluss, der heute zum möglichen Wahlbündnis gefasst wurde, hört sich sehr lau an, viel lauer als das Wahlbündnis, das die Opposition am 4.Oktober und dann vor zwei Wochen am runden Tisch beschlossen hat. Ihr wollt "engen Kontakt", aber "keine gemeinsamen Listen". Was bleibt denn nun übrig vom Wahlbündnis?
Man darf nicht vergessen, dass wir bereit sind, bekannte, glaubwürdige Personen der demokratischen Opposition auf unseren Wahllisten zu übernehmen.
...auf euren Listen kandidieren zu lassen. Aber das war doch nicht der Sinn des Wahlbündnisses. Auch die kleineren Gruppen wollten eigenständig kandidieren und nicht auf eurem Ticket fahren?
Da sollte man sich nicht täuschen und die nächsten Tage und Wochen abwarten.
Wie lautet denn Ihre Prognose für den 6. Mai?
Die SPD hat die Chance, aus den Wahlen als stärkste Partei hervorzugehen.
die tageszeitung, Mo. 15.01.90, Ausgabe 3007