"Tribüne" sprach mit Ibrahim Böhme, Mitbegründer der SPD in der DDR

Zur Versöhnung gehört die Chance zum Neubeginn

• Die beiden sozialdemokratischen Parteien beider deutscher Staaten werden sich in dieser Woche vereinigen. Was denkt Ibrahim Böhme über die kurze Entwicklung einer SPD im Osten Deutschlands?

Ich werde mich auch nach der Vereinigung Deutschlands, die ich begrüße, zur Geschichte der DDR mit all ihren Belastungen, all ihren Vorzügen bekennen. Ich habe nicht vor, einen Großteil meines Lebens über Bord zu werfen. Was die Sozialdemokratie in der DDR betrifft, möchte ich sagen: Wir sind aus zwei Linien hervorgegangen. Die eine hat seit 1988 die Gründung einer SPD ins Auge gefasst, die andere hat eine breitere Bewegung gesucht, die sich "Bewegung für einen demokratischen Sozialismus" nennen sollte. Wir hatten uns im Zeitraum vom 14. bis 31. Juli '89 geeinigt, dass wir eine Linie wollen - die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR mit Aufnahme des Begriffes demokratischer Sozialismus sowohl in Statut als auch in die Ansätze einer Programmatik. Beides wurde ja am 7. Oktober 1989, noch illegal, in Schwante angenommen. Ich bin stolz darauf, dass wir die erste Kraft waren, die sich inhaltlich und strukturell vor der Wende der Macht gestellt hat. Eine solche erste Kraft hat natürlich den Nachteil, dass sie nicht homogen in ihren Positionen ist. Kein Vorwurf. Leute sind dies, die erst mal den Weg zu eine m sozialdemokratischen Verständnis finden wollen und müssen.

• Wenn man den Umfragen Glauben schenken darf, sind nicht wenige Bürger der DDR unzufrieden mit der SPD-Regierungspolitik in der Volkskammer. Eigene, unverwechselbare politische Konturen fehlten, sagt man. Oder: Die SPD lief der CDU immer hinterher. Was denken Sie darüber?

Ich glaube, dass Sie das Recht haben. Ich bin der Meinung, um mich zu provozieren. Ich sehe in der Provokation immer etwas Positives. Wir sind eine demokratische Partei, die noch nicht die Möglichkeit gefunden hat, all das zu reflektieren, was sich in ihr selbst entwickelt. Es muss innerparteiliche Auseinandersetzungen geben über Strategie, über Taktik, über das Sich-Verhalten auf politischem Parkett. Ich bin stolz, einer Partei anzugehören, die diese Diskussionen nicht hinter verriegelter Tür führt und dass man nach außen nicht unbedingt Gefolgschaft zeigt, wie das Neu-Altparteien im Moment an sich haben, Neu-Altparteien, die auch an der Regierung der DDR beteiligt sind und die im Moment wenig tun, ihre Vergangenheit zu befragen. Ich bin prinzipiell immer zuerst Demokrat und dann parteipolitisch gebunden, so dass ich vieles ertragen muss und auch ertragen kann. Ich hätte mir gewünscht, dass die SPD beim ersten Staatsvertrag, in dem entscheidende Grundaussagen unseres Parteitages von Leipzig nicht erfüllt worden sind, aus der Koalition ausgebrochen wäre.

• Ibrahim Böhme war im Herbst 1989 Mitbegründer der SPD und ein knappes halbes Jahr Vorsitzender der DDR-SPD bis zu seinem plötzlichen Rücktritt vom Amt am 26. März. Wie beurteilen Sie diesen Schritt aus heutiger Sicht?

Als ich zurücktrat, befand sich meine Partei in schwierigen Koalitionsverhandlungen. Sie können sich vorstellen, wenn ein Fraktionsvorsitzender und ein Vorsitzender einer Partei mit so detailliert hintersetzten Beschuldigungen, für das MfS gearbeitet zu haben, Verhandlungen führen sollte, wäre die Partei in eine sehr schwierige Verhandlungsposition gelangt. Heute bedaure ich diese Position, diesen Schritt. Ich hätte auf jeden Fall versucht, unsere Wahlaussage durchzusetzen. Keine Koalition mit der PDS, keine mit der DSU und anderes auch. Die zweite Seite ist die persönliche Dimension, ungeachtet dessen, wie angeschlagen mein Gesundheitszustand damals war, nach sehr harten Monaten, fast ohne Schlaf. Es wäre für mich eine Lebenslüge gewesen, wenn ich - wie andere Politiker - gesagt hätte: „Ich habe nie und damit basta. Ich gebe keine Erklärungen." Das ist kein Vorwurf. Ich kann nur sagen, wie ich zu steinern Leben stehe. Unabhängige Leute hatten herausgefunden, dass ich nicht Observierender, sondern über Jahre hinweg Observierter war.

• Viele waren enttäuscht, denn sie galten als Hoffnungsträger innerhalb der DDR-SPD. Menschlich ist ihr Verhalten verständlich. Sie standen damals im Rampenlicht; sozusagen vor schwarzer Wand. War der Rücktritt ein Eingeständnis von Schuld?

Das können die Leute halten sie wollen, auch wenn sie das heute noch annehmen. Für mich war es wichtig, meine Akten aufbereiten zu lassen. Ich werde in ein paar Jahren sicher über diese Vorgänge schreiben.

Ich sage noch einmal, dass ich auch in Zukunft mit meinem Leben so umzugehen gedenke, wie ich es für angemessen halte. Der Ruf des Hoffnungsträgers ehrt mich ungemein. Aber ich glaube, dass ich in einen kritischen Blickpunkt geraten bin, der viele Menschen dazu veranlasst hat, meine Fähigkeiten und Möglichkeiten zu überschätzen.

• Die Stasi-Vergangenheit schlägt hohe Wellen. Lothar de Maizière sagte, persönliche Einsicht in die Akten würde zu Mord und Totschlag führen. Was meinen Sie?

Bei all meiner Hochachtung vor Lothar de Maizière - ich schätze ihn als einen konservativ integren Menschen und fairen politischen Gegner - mag ich solche Schlagzeilen nicht. Das sind Superlative im negativen Bereich, die ich für politisch unangemessen halte. Ich habe den Grundsatz verfolgt, dass jeder in einem konkreten Rehabilitierungsvorgang das Recht haben muss, seine Akten einzusehen. Dies sollte mit entsprechenden Juristen, mit unabhängigen Politikern geschehen, die nicht nur vereidigt sein müssen, sondern auch hohe Strafandrohung bekommen bei Verletzung des Datenschutzes.

Wenn mich Freunde fragen, ob sie ihre Akten einsehen sollen, sage ich prinzipiell nein. Ich war der erste Parlamentarier, der nicht nur seine Schlüsselkarten gezogen, sondern auch seine Akten eingesehen hat. Ich halte das, was aus diesen Akten hervorgeht, nicht nur für sehr belastend, ich halte das für irritierend. Wer hat das gute Gedächtnis und weiß, was er unter welchen Bedingungen wem gesagt hat? Wer kann mit Sicherheit sagen, dass er ohne Hass und Rache seine Akte zuklappt? Auch ich bin nach Akteneinsicht mit Rache- und Hassgefühlen nach Hause gefahren. Beute bin ich darüber hinweg und begegne Leuten, die ich im Verdacht habe, unvoreingenommen.

• Was muss geschehen, um einen Missbrauch dieser sechs Millionen Stasi-Dossiers zu verhindern?

Ich finde die Entscheidung richtig, dass die Akten auf dem Territorium der DDR zu verbleiben haben. Ich bin der Meinung, parlamentarische Kommissionen sollten sich aus ehemaligen DDR-Bürgern zusammensetzen. Westdeutsche Juristen und Historiker könnten beratend zur Seite stehen. Nur derjenige kann unsere Geschichte bewerten, der unsere Vergangenheit miterlebt hat.

• Uns stört, dass Parlamentsabgeordnete politische Verantwortung tragen, und möglicherweise aus Ehrgeiz so tun, als hätten sie keine Vergangenheit. Man spricht von drei- und vierfach Gewendeten. Wäre es nicht ehrlicher gewesen, sich auch zu Kontakten zum Stasi zu bekennen, zumal ohne diesen Apparat in der DDR Politik gar nicht funktionierte?

Ich halte einen Parlamentarier für verantwortungslos, der sich nicht einmal dem Ziehen seiner Schlüsselkarten gestellt hat. Ich wundem mich auch manchmal, dass von 400 Parlamentariern, von denen über 300 die einfache und doppelte akademische Würde erlangt haben, kaum einer von der Verquickung mit der Macht gewusst haben will. Aber ich beteilige mich nicht an dem Stellvertreterkrieg, den Politiker führen, die für sich das Phänomen in Anspruch nehmen, am 9. November 1909 geboren und in dieser kurzen Zeit bereits 45 oder 50 Jahre alt Geworden zu sein.

• Da ist noch die große Frage von Toleranz und Vergeben. Welche Position hat Ibrahim Böhme dazu?

Ich habe auf dem Parteitag in Leipzig bei meiner Wahl mit 91,7 Prozent der Stimmen eindeutig erklärt, dass ich für einen Versöhnungsprozess in der DDR-Gesellschaft stehe. Ich stehe dafür, dass der Demokratisierungsprozess, in dem so viele existentielle Entscheidungen für die Menschen zu treffen sind, ein therapeutisches Prozess ist. Bei jeder Demokratisierung war dies so. Ich bin kein Christ, bin alternativer Marxist. Dennoch setze Ich mich für Versöhnung ein. Versöhnung heißt für mich, dass jeder, der persönliche Schuld und Verantwortung gegenüber Menschen, Leben und Gut hat, sich einem rechtsstaatlichen Prozess stellen muss. Das setzt aber voraus, dass jeder andere, der glaubt, darüber befinden zu müssen, auch nach seiner eigenen Verantwortung fragen muss, und wenn sie auch nur darin besteht, dass er zu den Vorgängen, von denen er wusste, geschwiegen hat. Versöhnung heißt für mich, dass man dem Menschen, der schuldbeladen ist, die Chance gibt den Weg in die Demokratie an der Seite der anderen zu finden, eben gerade dadurch, dass seine Schuld konkret gemacht und nicht pauschalisiert wird.

• Die politischen Fronten sind in der DDR immer noch total verhärtet. Der Extremismus aller Schattierungen nimmt zu. Mensen, die ehrlich gearbeitet haben und an eine Staatsordnung glaubten, die zusammenbrach, werden heute angefeindet oder von politischen Gegnern ins Abseits gestellt. Wie kommen wir nun sauber raus, ohne uns vorher zu zerfleischen?

Niemand zwingt uns von außen, uns zu zerfleischen. Wir machen es selbst. Es gibt keinen christdemokratischen oder sozial demokratischen Politiker in der Bundesrepublik, der uns auffordert, uns zu zerfleischen. Ich bedauere, dass wir selbst so erbarmungslos miteinander umgehen Die Aufarbeitung unserer Geschichte braucht viel Zeit. Es ist ihr nicht gedient mit Vergleichen einer faschistoiden Vergangenheit in der DDR, wie es ein Abgeordneter äußerte. Ich halte das für unverantwortlich. Die Leute müssen darauf hingewiesen werden, dass der Post-Stalinismus in seinen Strukturen nicht der Stalinismus gewesen ist. Wir kommen aus dieser Geschichte nur heraus, wenn wir uns wieder auf alte solidarische Einstellungen besinnen.

• Zurück zur SPD. Sie bezeichnen sich selbst als Linker bei den Sozialdemokraten und sind deshalb nicht unumstritten. Stört Sie das?

Mich haben Minderheitsvoten vor der Wende nicht gestört. Dies ist heute auch noch so. Ich bin überzeugt davon, dass es gerade in der nächsten Zeit ein mehrheitliches Zuwenden zu linken Positionen geben wird. Es wird deutlich werden, welche sozialen Verwerfungen die bisherige Politik mit sich bringt.

• Was heißt für Sie, links zu sein?

Links möchte ich heute nicht mehr abdecken mit der alten parlamentarischen Sitzordnung. Der, der sich am revolutionärsten gebärdet, muss nicht unbedingt links sein. Linke Positionen sind Positionen der menschlichen Vernunft. Ich habe sehr viele Linke kennengelernt, die so vernünftig waren, links zu blinken und dann unvernünftigerweise rechts abfuhren. Für mich ist links heute eine Position, die sich mehr den Interessen der Arbeitnehmer zuwendet. Die sozialen Interessen orientieren mich, zuerst an den sozial Schwächsten. Dann erst kommt das Prinzip der Wirtschaft und Liberalität.

• Sie sind immer dialogbereit mit den Bürgerbewegungen und mit der PDS. Warum?

Man unterstellt mir sehr oft PDS-Nähe und verwechselt das mit politischer Kultur. Ich lehne keine Gespräche mit politischen Partnern oder Gegnern ab. Jeder Mensch, der bereit ist, mit mir zu reden, ist für mich ein politischer Partner. Inwieweit ich politische Gegner sehe, ist eine ganz andere Frage. Auf jeden Fall sind für mich demokratische Parteien keine politischen Feinde. Politische Feinde sind für mich nur Parteien, die für Nationalismus, Rassismus und Menschenverachtung eintreten. Natürlich weiß ich über die belastete Vorgeschichte der PDS. Die PDS ist in zunehmendem Maße eine linke demokratische Partei, indem sie das Vermögen, das sich die SED unrechtmäßig angeeignet hat, zurückgibt und indem sie in der Lage ist, sich von den politisch belasteten Altkadern zu befreien. Gysi ist mein politischer Gegner, in Gesprächen mein politischer Partner. Er hat eine Ästhetik im politischen Streit, die ich bei vielen Politikern vermisse.

• Es geht heute um Vergangenheit, um Geschichte und um Perspektive, um die Zukunft von 80 Millionen Deutschen. Wie stellen Sie sich dieses vereinte Deutschland vor?

Da habe ich selbst mehr Fragen als Antworten. Wird es ein vereintes Deutschland das den Anrainerstaaten Angst macht? Wird es ein vereinigtes Deutschland, das seine Wohlstandsgrenze nur von der Elbe an Oder und Neiße versetzt? Erkennen wir plötzlich nicht mehr, was wir Osteuropa zu verdanken haben? Wird es ein vereinigtes Deutschland, das den Dank an Michail Gorbatschow nur in platonischem Liebesbekenntnis benennt? Wird es ein vereinigtes Deutschland, in dem es soziale Verwerfungen gibt, die ein Wohlstandsgefälle zwischen Ost- und Westdeutschland heraufbeschwören? Wird es ein Deutschland, in dem die Deutschtümelei wieder zur Überhöhung führt?

• Deutschland zu gestalten ist ein Werk von Generationen. Aber mit dem Einigungsvertrag sind vielleicht Weichen in eine Richtung gesteift worden, die doch recht weit weg von sozialem Frieden und gerechtem Ausgleich führen . . .

Der Einigungsvertrag ist einer beschleunigten politischen Entwicklung geschuldet. In vielem rechtfertigt er dies, was Sie gesagt haben. Ich halte es für denkbar, dass es in der Zeit nach dem 3. Oktober Nachbesserungen geben wird. Die Sozialdemokraten werden im Bündnis mit anderen Demokraten die sozialpolitisch verantwortliche Kraft sein, diese Verbesserungen einzufordern. Ich bin froh, dass Sie nicht sagen: Es gibt viel zu tun für die nächsten Generationen. So etwas machen nämlich manche Politiker, die ihre Verantwortung auf morgen oder übermorgen verschieben.

• Ihr Abstimmungsverhalten zum Wahlvertrag in der Volkskammer löste heftige Diskussionen aus. Ex-SPD-Fraktionschef Schröder bezeichnete Sie damals als "parlamentarisches Sicherheitsrisiko". Sie erklärten, dass Sie sich auch künftig keinen undemokratischen Gepflogenheiten unterziehen, selbst wenn sie im Bundestag üblich sein sollten. Bricht nicht der Anspruch, Demokratie zu üben, manchmal auch weg durch das persönlich motivierte Streben nach Macht?

Die Beständigkeit eines vernünftigen Zustandes ist nie erreichbar. Ich weiß um die Anfechtbarkeit von Macht; ich habe sie selbst erlebt. Ich hatte Zwangsvorstellungen, wenn ich nach Hause kam und das reflektierte, was ich gesagt und getan hatte. Dazu habe ich mich immer gezwungen. Nur der ist in der Lage, sich zu seinem Verhalten offen zu bekennen, der über die Niederlage ebenso philosophieren kann wie über den Sieg. Nur derjenige kann politisch verantwortungsbewusst seine Schritte lenken, der in der Niederlage nicht etwas vordergründig Negatives sieht. Natürlich möchte man siegen mit seinem Programm, seinen Zielvorstellungen. Für mich haben DDR-Politiker in der Volkskammer zu schnell die negativen Seiten des Bundestages angenommen.

• Wie denken Sie heute über die Nacht vom 8. zum 9. August?

Ich werde mich immer gegen solche Vorgänge zur Wehr setzen, wie sie sich in der Nacht vom 8. zum 9. August abgespielt haben. Fünf Abgeordnete in unserer Fraktion hatten ihre Schwierigkeiten mit der Fünfprozentklausel im Wahlvertrag. Vor allem aber haben wir uns gegen die Prozedur gewehrt, als wir feststellen mussten, dass eine Parlamentssitzung vorsätzlich unterbrochen wurde, um die erforderlichen Mehrheiten für dieses Gesetz heranzutelefonieren und Autos losgeschickt wurden, um die Abgeordneten heranzuholen. Ich werde mich mit meinem Protest immer so verhalten, auch wenn er als kindisch und trotzig angesehen wird. Wenn mich Herr Schröder als Sicherheitsrisiko bezeichnet, dann sehe ich in dieser Bezeichnung sogar etwas Ehrenhaftes in meinem Verhalten.

• Solidarität zu üben war einmal ein ausgeprägtes menschliches Bedürfnis in der DDR. Gegenwärtig hat es den Anschein, dass in unseren Breiten ausschließlich über deutsche Probleme gesprochen, debattiert wird. Wer denkt heute schon an die Völker Osteuropas oder an den Hunger in Afrika?

Erschreckend war, dass ich im Wahlkampf zum 18. März feststellen musste, dass selbst Politiker, Newcomer, die damals an unserer Seite standen, Osteuropa oder die dritte Welt nicht mehr benannten. Selbst Freunde rieten mir, ich solle nicht immer Osteuropa und die dritte Welt er wähnen. Damit verlören wir Stimmen, sagten sie. Für mich ist es nicht in erster Linie wichtig, dass ich Wahlen gewinne, sondern dass ich den moralischen Hintergrund für Politik in mir habe und mich erkläre.

Für mich heißt Solidarität immer noch Teilen. Wenn es gegen Behinderte geht, bin ich selbst behindert. Wenn es gegen Türken geht, nur weil sie Türken sind, bin ich Türke. Wenn es gegen Russen geht, nur weil sie Russen sind, bin ich Russe. Ich solidarisiere mich mit allen Menschen, die wegen ihrer nationalen und kulturellen Zugehörigkeit und Identität angegriffen werden.

Das Gespräch führten
Roland Kähne und Ingolf Kern

Biographisches
Ibrahim Böhme wurde am 18. November 1944 geboren. Als Kriegswaise wuchs er in Kinderheimen und bei Pflegeeltern im Großraum von Leipzig auf. Nach Abschluss der 10. Klasse lernte er in Leuna Maurer. Im Fernstudium qualifizierte er sich zum Lehrer für Geschichte und Deutsch. Aufgrund seiner Haltung zu Robert Havemann wurde Ibrahim Böhme 1965 mit Berufsverbot belegt. Er arbeitete bei der Post, beim Kulturbund. Nach seinem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde der "Dissident" verhaftet. Seit Anfang der 80er Jahre fand er nirgendwo eine feste Anstellung. Ibrahim Böhme war Geschäftsführer und Vorsitzender der SPD der DDR. Heute arbeitet er als Polizeibeauftragter des Magistrats von Berlin.

Tribüne, Nr. 185, Di. 25.09.1990

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