Mitteilung für die Presse
Mit Ibrahim Böhme, Geschäftsführer der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der DDR, hat das Sozialdemokratische Magazin Vorwärts für seine November-Ausgabe ein Interview geführt, das wir vorab veröffentlichen. Ibrahim Böhme hat als Lehrer im SED-Staat Berufsverbot.
Frage: Herr Böhme, das Neue Forum ist die große oppositionelle Sammelbewegung in der DDR. Warum dann noch eine Sozialdemokratische Partei?
Antwort: Erstens hat sich unsere Initiative früher gebildet, schon am 26. August, das Neue Forum erst am 9. September. Zweitens gehe ich davon aus, dass es nach vierzigjähriger Unterdrückung jeder abweichenden Meinung bald noch mehr Pluralität geben wird, und drittens unterstützen wir jede andere Bewegung, die es mit der Demokratie ernst meint - also auch das Neue Forum.
Frage: Worin unterscheiden sich Neues Forum und SDP?
Antwort: Das Neue Forum trägt wesentlich dazu bei, die Sprachlosigkeit der Bevölkerung zu überwinden, und es zieht oppositionelle Sachkompetenz an. Wir nehmen dagegen für uns in Anspruch, etwas mehr Programmatik zu bieten. So sind wir derzeit die einzige politische Gruppierung, die sich der sozialen Marktwirtschaft verschrieben hat, in Verbindung mit Sozialstaatlichkeit allerdings.
Frage: Haben Sie auch eine eindeutige Antwort auf die deutsche Frage?
Antwort: Ja. Als Fernziel streben wir ein einheitliches demokratisches Deutschland in einem entmilitarisierten europäischen Haus an. Zunächst bleibt es allerdings bei strikter Zweistaatlichkeit unter Beachtung der deutschen-deutschen humanitären Erleichterungen.
Frage: Sachsen und Thüringen waren einst ein fruchtbarer Boden für die Sozialdemokratie. Ist das heute auch noch so?
Antwort: Ich denke schon. In Jena und Umgebung etwa sind spontan die ersten Ortsverbände der SDP gegründet worden, bevor es in Berlin einen gab.
Frage: Wie viele Wähler hätte die SPD denn, wenn morgen freie Wahlen möglich wären?
Antwort: Vielleicht würden wir noch an der Fünf-Prozent-Hürde hängen bleiben. Aber wir haben Zeit und Geduld und hoffen, gemeinsam mit anderen Gruppen eine Koalition zustande zubringen.
Frage: Wie hat sich der Staat Ihnen gegenüber bisher verhalten?
Antwort: Relativ zurückhaltend. Einerseits liegt das wohl an der vorherrschenden Desorientierung der Partei- und Staatsführung, zum anderen dürfte die Furcht vor Wirtschaftssanktionen eine Rolle spielen.
Frage: Wann wollen Sie die offizielle Zulassung der SDP beantragen?
Antwort: Wir hatten das nie vor, weil wir keinen jahrelangen Prozess durch alle Instanzen hindurch führen wollten, den wir dann auch noch selbst hätten bezahlen müssen. Und am Ende hätte es dann geheißen: kein gesellschaftlicher Bedarf. Statt dessen bin ich ins Ministerium des Innern marschiert und habe einem Beamten die Konstituierung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR am 7. Oktober 1989 in Schwante mitgeteilt. Da er jedoch nicht bereit war, mir dies zu bestätigen, bin ich zum nächsten Postamt und habe dem Minister des Innern per Einschreiben und Eilpost unsere Konstituierung bekanntgemacht.
Frage: Haben Sie Erkenntnisse über einen bevorstehenden Kurswechsel der SED?
Antwort: Nein. Ich bin auch ein wenig misstrauisch gegenüber jenen liberalen Tönen, die da jetzt zu hören sind. Aber wenn sich wirklich eine Gruppe findet, die die Hardliner ablöst und sich von Militanz und Konfrontation abwendet, würde ich mich nicht gegen sie erklären. Wenn der Zug Perestroika - oder wie immer er heißen mag - durchfährt, soll meinetwegen jeder drinnen sitzen. Nur muss man aufpassen, dass diejenigen, die für die jetzige Lage verantwortlich sind, nicht in die Lokomotive vordringen. Unabhängig davon glaube ich, dass die oppositionelle Bewegung inzwischen eine Form gefunden hat, die es ihr erlaubt, nicht nur miteinander zu reden, sondern in konkreten gesellschaftlichen Projekten auch Geschlossenheit zu zeigen.
Frage: Das SPD-Präsidium hat es jetzt - so wörtlich - "begrüßt", wenn in der DDR "Menschen ihre Stimme erheben", die sich zu den Prinzipien des demokratischen Sozialismus bekennen. Reicht Ihnen das?
Antwort: Doch, wir haben uns über diese Erklärung gefreut . . .
Frage: Über frühere Erklärungen aber anscheinend weniger?
Antwort: Nun, was Karsten Voigt und Walter Momper zur Gründung unserer Initiative im August gesagt haben, hat uns schon ein bisschen traurig gemacht. Aber sie haben uns damit das Geschäft erleichtert: Sie haben nämlich deutlich gemacht, dass wir kein Ableger der SPD sind.
Frage: Hatten Sie und Ihre Freunde denn in der Vergangenheit Kontakt zu Mitgliedern der SPD-Führung?
Antwort: Persönliche Kontakte hat es immer gegeben. Den mit Risiken befrachteten Weg der offenen politischen Begegnung haben in der Vergangenheit allerdings nur die Grün-Alternativen beschritten. Daran hat es bei der Führung der SPD immer gehapert, bei allen anderen Parteien ebenfalls. Ich verstehe natürlich die Gründe: Die SPD hat seit Anfang der siebziger Jahre mit einer guten und tauglichen Politik, die erst einmal nur auf der deutsch-deutschen Schiene stattfinden konnte, viele Verkrustungen aufgebrochen. Aber sie ist meines Erachtens zu unflexibel dieser offiziellen Linie verbunden geblieben - in der Hoffnung, dass die SED sich nicht nur in kleinen Absichtenerklärungen, sondern auch in deutlichen Reformschritten von innen her erneuert. Und das war, glaube ich, eine trügerische Hoffnung. Ich bedanke mich hier zumindest für die Ehrlichkeit, die sowohl Günter Gaus als auch Egon Bahr beim Überdenken ihrer Haltung erkennen lassen.
Frage: Bezieht sich Ihre Kritik auch auf das berühmte SPD-SED-Papier?
Antwort: Nun, der Grundmangel des Papiers besteht auch hier darin, dass es nicht auf Begegnungen von Basisbewegungen und -gruppen abhebt. Trotzdem begrüße ich es. Denn es hat bei uns einigen Leuten durchaus geholfen - obwohl es nicht das bewirkt hat, was Erhard Eppler und Thomas Meyer sich erhofft hatten. Das offizielle SPD-Bild in unseren Geschichtsbüchern und Staatskundelehrbüchern etwa ist genauso düster wie zuvor.
Frage: Wünschen Sie eine Institutionalisierung der Beziehungen zur SPD? Etwa auch regelmäßige Konsultationen?
Antwort: Ich halte das für etwas verfrüht. Uns trennen schließlich vierzig Jahre unterschiedlicher historischer Entwicklung. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sich Gesprächskreise installieren lassen, wie wir sie mit den Grünen und Alternativen schon seit längerem haben.
Presseservice der SPD, 648/89, Bonn, den 13. Oktober 1989