DDR 1989/90 Brandenburger Tor

Erklärung des Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Hans Modrow, über die Lage in der DDR, abgegeben vor der Volkskammer am 29.01.1990

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst einige Ausführungen zur Lage in unserem Land machen in Verbindung mit einer Veröffentlichung, die am heutigen Tag in allen Zeitungen zu finden ist. Wahlen zur Volkskammer für den 18. März seien vereinbart. Sie sind, das ist klar, durch die Volkskammer selbst zu entscheiden. Ich möchte damit zugleich die Begründung und Vorschläge geben, über die Sie zu entscheiden haben ganz allein in Ihrer Verantwortung als Abgeordnete dieses Hohen Hauses. Es sind Vorschläge, die allen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik die Möglichkeit eröffnen sollen, in freier Entscheidung die Situation in unserem Land zu bessern, zu beruhigen und zu stabilisieren.

Ich darf besonders auf die folgenden Probleme hinweisen:

Die gegenwärtige Regierungskoalition erweist sich, wie Sie selbst wissen, zunehmend als zerbrechlich. Die ökonomischen und sozialen Spannungen in der Gesellschaft haben zugenommen und berühren bereits das tägliche Leben vieler Menschen. In wachsendem Maße werden Forderungen nach Erhöhung der Löhne und Gehälter, nach Verlängerung des Urlaubs, nach Erhöhung der Renten und nach weiteren sozialen Verbesserungen erhoben.

Allein die bisher bekannten Forderungen würden Mittel in Höhe von mehr als 40 Milliarden Mark voraussetzen. Das wäre wertmäßig etwa ein Drittel des gesamten Einzelhandelsumsatzes der DDR. In diesem Vergleich können wir bereits erkennen, dass diese Forderungen die Möglichkeiten des Staates bei weiten übersteigen und, wenn ihnen nachgegeben wird, die Existenz der DDR gefährden. Ich muss in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass der Fehlbetrag im Staatshaushalt bereits 17 Milliarden Mark beträgt. Sie kennen diese Situation bereits aus den Beratungen des Hohen Hauses. Voraussetzung für umfangreiche Lohnmaßnahmen und andere soziale Leistungen können nur durch effektiveres Wirtschaften geschaffen werden.

Tatsächlich verschlechtert sich aber die ökonomische Lage besorgniserregend, weil Streiks und befristete Arbeitsniederlegungen, langsameres Arbeiten und andere Störungen zu erheblichen Produktionsausfällen führen. Diese Ausfälle haben Kettenreaktionen für viele Betriebe, für die Versorgung der Bürger sowie für die gesundheitliche Betreuung zur Folge. Daraus erwachsen weitere soziale Spannungen, die mit den vorhandenen politischen Strukturen immer weniger beherrscht werden können. In einer Reihe von Kreisen haben sich örtliche Volksvertretungen nahezu aufgelöst oder sind nicht mehr beschlussfähig. Die bestehenden örtlichen Volksvertretungen widerspiegeln nicht in jedem Fall die im jeweiligen Territorium vorhandenen politischen Interessen, zum Teil werden auch die Abgeordneten nicht mehr anerkannt. Überprüfungen von Wahlmanipulationen während der Kommunalwahlen im vergangenen Jahr beschleunigen diesen Prozess der Demontage von örtlichen Volksvertretungen. Er führt auch zur Unsicherheit im gesamten Staatsapparat. Rechtsstaatlichkeit und Rechtsordnung werden zunehmend in Frage gestellt. Geltende Rechtsvorschriften werden von verschiedenen Interessengruppen oder einzelnen Bürgern gröblichst verletzt. Der Schutz der Bürger ist nicht mehr im vollen Umfang gewährleistet. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Wort des Dankes und der Anerkennung allen Angehörigen der Volkspolizei sagen, die sich bemühen, Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten.

Sie verdienen dabei die Unterstützung aller rechtschaffenen Bürger, aller Parteien und politischen Gruppierungen. Ich möchte herzlichen Dank all jenen sagen, die als Unruhige in den Oktobertagen in unserem Land begonnen haben, Veränderungen einzuleiten, den Kirchen, all denen, die nun auf Besonnenheit orientieren und diese von allen Bürgern im Lande erwarten. Die Radikalisierung der politischen Szene in der DDR zeigt sich in der zunehmenden Anzahl anonymer Bombendrohungen gegen Betriebe, örtliche Räte, öffentliche Einrichtungen und Wohngebäude. Die notwendige Räumung einer Kinderklinik oder von Feierabendheimen ist nur eines von zahlreichen anderen Anzeichen für die Gefährlichkeit des Radikalismus. Es gibt auch tätliche Angriffe auf Bürger, Zerstörung von Wohnungseinrichtungen, Zerstörung von gesellschaftlichem Eigentum. Damit wächst unter der Bevölkerung die Unsicherheit. Die Ausreisewelle hält unvermindert an. Alle Maßnahmen und Appelle der Regierungen haben es bisher nicht vermocht, diesen Aderlass aufzuhalten, der die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in besonderem Maße schmälert, ganz abgesehen von der außerordentlich sozialen Tragik, die mit dieser Ausreisewelle verbunden ist.

Dies ist kurz ein Blick auf die Situation, ein Blick auf die Situation im Land, und jeder von Ihnen, verehrte Abgeordnete, kann dem sicherlich aus eigener Erkenntnis und aus eigenem Erleben weitere Fakten hinzufügen und die analytischen Bemerkungen auch aus seiner Sicht weiterführen und bestätigen.

Ich glaube, dass ich hier nichts dramatisiere, sondern dass ich hier bemüht war, die reale Lage und Situation, in der wir uns befinden, in aller Knappheit und Kürze Ihnen noch einmal vor Augen zu führen.

Aus der Erkenntnis dieser Lage und eingedenk der Verantwortung, die ich als Ministerpräsident mit Ihrer Zustimmung übernommen habe, hat auf meine Einladung gestern bis Mitternacht eine Beratung mit den verantwortlichen Vertretern aller Parteien und politischen Gruppen stattgefunden, die den Runden Tisch bilden.

Nach siebenstündiger intensiver Diskussion, unterbrochen von zwei gesonderten Beratungen, wurde ein Konsens erreicht, der uns geeignet scheint, jedenfalls nach Einschätzung der Beteiligten und meiner eigenen Einschätzung, eine Beruhigung und allmähliche Stabilisierung der politischen Situation zu erreichen und dieser zu dienen.

Dieser Konsens besteht

1. darin, dass der Volkskammer vorgeschlagen wird, die Wahlen für die Volkskammer auf den 18. März vorzuziehen.

2. besteht der Konsens darin, dass vorgeschlagen wird, die Wahlen zu den Volksvertretungen sämtlicher Städte und Gemeinden wie vorgesehen am 6. Mai abzuhalten. In dieser Situation wird auch von einigen die Frage gestellt, ob darin die Wahl der Kreistage einzubeziehen wäre, da die Situation vieler Kreise auch ein solches Erfordernis in die Betrachtung wahrscheinlich mit einbeziehen lässt.

3. wurde Einigkeit darüber erzielt, dass eine Regierung der nationalen Verantwortung geschaffen werden sollte. Dies kann dadurch erreicht werden, dass die bisher in der Regierung nicht vertretenen Parteien und politischen Gruppen des Runden Tisches jeweils einen Vertreter in die Regierung entsenden, der als Minister ohne Geschäftsbereich Sitz und Stimme im Ministerrat erhält und auf weitere geeignete Weise aktiv in die Arbeit des Ministerrates, insbesondere bei der Vorbereitung wichtiger grundlegender Entscheidungen, einbezogen wird.

4. wurde Übereinstimmung dahingehend erzielt, dass die Regierung einen ständigen Vertreter im Range eines Ministers an den Runden Tisch entsendet, um die Zusammenarbeit auch auf diese Weise zu vertiefen.

Ich habe von den betreffenden Parteien und Gruppierungen die personellen Vorschläge bis zum kommenden Mittwoch erbeten, und ich möchte, sofern die Volkskammer dem zustimmen wird, auf der nächsten Tagung der Kammer die Persönlichkeiten zur Wahl vorstellen, die als Minister meine Regierung ergänzen und sie zu einer Regierung der nationalen Verantwortung in dieser so schicksalhaften Situation unseres Landes machen sollen.

Jetzt ist es an Ihnen, verehrte Abgeordnete, Ihr Wort zu diesen Vorschlägen zu sprechen. Ich bitte Sie, bei Ihrer Entscheidung gewiss zu sein, dass die Bürger im ganzen Land auf Sie blicken, die Bürger, die von uns allen erwarten, dass in der DDR geordnete Verhältnisse einziehen, Rechtsstaatlichkeit gewährleistet wird, das tägliche Leben nicht als Last empfunden werden muss, jeder wieder Vertrauen in die Zukunft gewinnen kann.

Denken Sie bitte auch daran, dass die Entwicklung in der DDR von ganz Europa, ja auch darüber hinaus, mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wird. Die Länder Europas erwarten, dass die DDR in ihrer demokratischen Entwicklung den Prozess der europäischen Einigung fördert.

Wenn wir eine stabile DDR gestalten und dafür sorgen, dienen wir einem übergeordneten nationalen Interesse, schaffen wir Voraussetzungen für eine Vertragsgemeinschaft und eine weitergehende Annäherung beider deutscher Staaten, erweisen wir uns aber zugleich der europäischen Verantwortung würdig.

Wir alle stehen jetzt und heute in dieser Verantwortung vor den Bürgern unseres Landes, und wir sollten uns dieser Verantwortung gemeinsam würdig erweisen.

Neues Deutschland, Di. 30.01.1990.

Δ nach oben