Fortbildung und Umschulung für zukünftige Wirtschaft

NEUE ZEIT-Gespräch mit der Ministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Regine Hildebrandt

Gegenwärtig gibt es in der DDR 223 000 arbeitslose Menschen. Trotz aller Bemühungen der Regierung ist angesichts nicht ausreichender Investitionsbereitschaft aus dem Westen und fehlender Konzeptionen in vielen DDR-Unternehmen weitere Arbeitslosigkeit zu befürchten. Viele Bürger sorgen sich um das Auskommen in der Zukunft. Wir befragten die Ministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Regine Hildebrandt (SPD), nach den Aussichten auf dem Beschäftigungsmarkt.

Die Anzahl der Arbeitslosen stieg in den letzten Monaten in der DDR besonders stark an. Worin sehen Sie die Ursachen?

Sie liegen eindeutig in der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion begründet. Es müssen von allen Industriebetrieben jetzt Konzepte für den Erhalt von Liquiditätskrediten vorgelegt werden sowie Sanierungskonzepte akzeptiert und verworfen werden. Das bewirkt, dass der Druck auf die rentable Gestaltung der Arbeitskräftesituation enorm groß ist. Wir haben außer diesen Arbeitslosen jetzt auch eine halbe Million Beschäftigte, die Kurzarbeitergeld erhalten.

Man sieht, dass die Umstellung auf die soziale Marktwirtschaft der Anlass für diese Situation ist. Damit haben wir auch gerechnet. Deswegen lag uns so sehr daran, die Kurzarbeiterregelung schnell bekanntzumachen, vor Ort die Information darüber zu ermöglichen. Wir hatten es zuerst durch Informationsmaterialien versucht, aber der eigentliche Durchbruch kam meines Erachtens dadurch, dass die Arbeitsämter gemeinsam mit den Konsultanten aus der Bundesrepublik in der ersten Woche nach dem 1. Juli direkt vor Ort waren, diesen Kontakt gesucht sowie Informationen eingeholt haben.

Gibt es schon erste greifbare Ergebnisse der Arbeitsförderungsmaß- nahmen der Regierung?

Zur Arbeitsförderung gehört ja das Kurzarbeitergeld. Da haben wir den größten Erfolg zu verzeichnen, insofern, dass es schnell bekanntgemacht, akzeptiert und genutzt wurde. Die Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen, die jetzt unbedingt auch kommen müssen, laufen nicht so schnell an, wie ich es erhofft hatte. Nach etwas älteren Angaben, neuere habe ich noch nicht, gibt es 69 000 Qualifizierungsmaßnahmen. Sie betrafen vor dem 1. Juli nur 14 000 Arbeitslose. Das ist wesentlich zu wenig. Hier besteht ein ganz großer Nachholebedarf.

Ich kann nur sagen, dass wir auf vielen Wegen versucht haben, direkte Kontakte herzustellen oder zu vermitteln. So erinnere ich an den Kongress "Deutsch-deutscher Bildungsmarkt" in West-Berlin, zu dem an zwei Tagen eine Bildungsträgermesse stattfand und über 2 000 Besucher aus der DDR die Möglichkeit hatten, sich zu informieren, zu fragen und Kontakte zu knüpfen.

Wir haben - nur als Beispiel - Beziehungen zur BDJ-Consult, die uns jetzt für verschiedene Betriebe modellartig Projekte im Rahmen von Beschäftigungs- und Qualifizierungs-GmbH erarbeitet hat, aufgenommen. Wir haben in der abgelaufenen Woche im Berliner Betrieb Dampferzeugerbau einen guten Start mit einer solchen GmbH gehabt.

Mein Ziel ist, dass die freien Bildungsträger in die Betriebe gehen. Ein weiteres Beispiel haben wir jetzt mit der Firma OBZ, einem Beratungsunternehmen aus Düsseldorf, die versucht, für uns Modelle für vier Betriebe zu erarbeiten, in denen ein weiter Teil der Belegschaft in einer Beschäftigungsgesellschaft mit Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen, auch mit von dieser Gesellschaft organisierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und auch in Kurzarbeit tätig ist.

Sind neue Maßnahmen der Regierung vorgesehen, falls die bereits beschlossenen in der Arbeitsförderung nicht fassen?

Es sollte erst mal klar sein, dass der Weg der Qualifizierung und Weiterbildung fortgesetzt werden muss. Die Konzepte auf diesem Sektor sind sehr breit gefächert. Wir sind in der Vorbereitung zur Modifizierung der Gesetze über die GmbH und die Aktiengesellschaften in Hinblick auf ein gestrecktes Konkursverfahren. Vor dem Konkurs soll ein vorgerichtliches Verfahren installiert werden. Das ist die Voraussetzung für das Wirksamwerden von Beschäftigungs- oder Abwicklungsgesellschaften. Wir wollen also zwei Modelle einführen. Die Beschäftigungsgesellschaft für sanierungsfähige Betriebe, aber nur bei sehr starker Reduktion der Arbeitnehmerschaft, gibt es als ähnliches Vorbild schon in der Bundesrepublik. Wir haben im Ministerrat zwei Konzepte für die Stahl- und Automobilindustrie beraten. Hier ist bei weiterführender rentabler Arbeit der gesamten Branche mit einem ganz erheblichen Abbau der Beschäftigung zu rechnen.

Für solche Fälle wollen wir also Beschäftigungsgesellschaften installieren, die als GmbH innerhalb der Betriebe weiterarbeiten und den Arbeitnehmern Fortbildung, Umschulung und andere Angebote vor Ort ermöglichen, solange, bis neue Arbeitsplätze vorhanden sind.

Die Abwicklungsgesellschaft ist dagegen ein Modell, das wir entwickelt haben für Betriebe ohne gesicherte Weiterexistenz. Hier geht es um die Vorbereitung der Arbeitnehmer für neue Tätigkeiten mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die auch gemeinnützigen Charakter haben. Diese beiden Konzepte müssen jetzt erst einmal zum Tragen kommen. Was im Parlament angesprochen wurde, wäre als nächstes eine tatsächliche finanzielle Förderung breiter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Strukturanpassung, für die Umwelt, für den Baubereich und andere Möglichkeiten. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sehen bei uns laut Arbeitsförderungsgesetz so aus, dass die Lohnkosten, wenn es sein muss, bis zu hundert Prozent zu tragen sind. Da die Kommunen im Moment nicht in der Lage sind, solche Mittel zur Verfügung zu stellen, gibt es Probleme. Andere gemeinnützige Träger sind zu solchen Finanzierungen nicht in der Lage. Hier besteht noch ein Tätigkeitsfeld. Wenn wir die Möglichkeit hätten, dies auch noch staatlich zu unterstützen, diese Kosten tatsächlich zu finanzieren, hätten wir ein sehr starkes, breites Feld von Aufgaben vor uns. Das wäre also das Notprogramm, das wir einbringen würden, wenn alles andere nicht greift.

Haben Sie zur Zeit schon einen Überblick über die Struktur der Arbeitslosen?

Den haben wir nicht nach dem Alter, sondern nach der Qualifizierung. Es ist so, dass die Facharbeiter den weitaus größten Teil darstellen. 50 Prozent der Quote sind An- und Ungelernte. Etwa ein Achtel von der Facharbeiterquote sind Fachschulkader, etwa ein Zehntel mit Hochschulabschluss.

Es ist mit der Vermittlung von Jugendlichen insofern schwierig, da wir sehr wenig offene Arbeitsplätze haben. Man muss davon ausgehen, dass bei 223 000 Arbeitslosen und 30 000 freien Stellen jede Vermittlung von vornherein stark eingeschränkt ist. Außerdem ist bei unseren jugendlichen Arbeitslosen zu sehen, dass ein Viertel von ihnen selbst gekündigt hat. Sie sind an einem Arbeitsplatz, wie bisher gewohnt, nicht interessiert. Sie suchen andere Möglichkeiten der Betätigung. Das ist für uns ein neues Phänomen, dass wir nicht nur vermittelnd und ausgleichend tätig sein müssen, sondern uns auf dieses Problem einstellen müssen, dass die Jugendlichen von sich aus die Arbeits- und Ausbildungsplätze kündigen. Über 2 000 Jugendliche nehmen ihre Ausbildungsplätze nicht mehr in Anspruch.

Welche Gründe kann man dafür sehen?

Es ist hier ganz unterschiedlich. Verschiedene Jugendliche versuchen sich am westdeutschen Bildungsmarkt, wo relativ viele freie Plätze vorhanden sind, zu etablieren. Dort sind auch die Vergütungen höher. Es gibt aber auch sicher viele, die die Freiheit genießen wollen, die sich erst einmal in der Sommerzeit unter den neuen Verhältnissen auf Reisen umsehen wollen. Es gibt sicher auch einige, die es aus Bequemlichkeit tun, weil es ihnen günstiger erscheint, zur Hausbesetzerszene oder anderswohin überzuwechseln und sich nicht um produktive Arbeit zu bemühen.

Sind Ihnen Zahlen über Pendler zu Arbeitsstätten in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin bekannt?

Das könnten zwischen 80 000 und 200 000 sein. Das sind aber Spekulationen.

Die ausgeschriebenen freien Stellen werden sich wahrscheinlich wieder erhöhen, wenn die Betriebe mit der D-Mark Fuß fassen. Sind Sie ähnlicher Überzeugung?

Ich denke, dass die Zahl der angebotenen Stellen steigen wird. Sie wird zweifelsohne über lange Zeit nicht in dem Maße anwachsen, wie wir es angesichts der steigenden Arbeitslosenquote benötigen.

Gibt es durch Erhebungen schon Erkenntnisse über die Dauer der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit?

Wir haben jetzt schon Zeiten bei der Arbeitslosigkeit von über einem halben Jahr. Aber die meisten Personen sind nur wenige Wochen arbeitslos.

Wer ist besonders schwer vermittelbar?

Fast jeder ist schwer vermittelbar. Besonders trifft das auf die sozial gefährdeten Gruppen, die Schwerbehinderten, die alleinerziehenden und älteren Frauen zu. Auch Hochschulkader sind schwer zu vermitteln. Da kommen auf einen Platz 16 Anwärter.

Werden die Mittel für die Arbeitslosenunterstützung und das Kurzarbeitergeld ausreichen? Liegt hier eine große Gefahr?

Das ist sicher eine große Gefahr. Wir müssen aber davon ausgehen, dass wir hier schon eine Unterstützung von zwei Milliarden DM für dieses Jahr haben. Darüber hinaus gilt ab 1. Juli die Arbeitslosenversicherung, wonach alle Arbeitnehmer einen Beitrag von 2,15 Prozent des Bruttolohns, der Arbeitgeberanteil liegt bekanntlich ebenso hoch, zahlen, so dass wir auch aus dem eigenen Topf finanzieren. Zunächst ist also die Finanzierung gesichert und auch die Deckung für die Zukunft garantiert.

Wenn aber jetzt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit auftritt, wo könnte die Grenze sein, bei der die verfügbaren finanziellen Mittel nicht mehr ausreichen?

Die kritische Grenze für die Bereitstellung des Arbeitslosengeldes wird mit Sicherheit nicht erreicht. Wir haben Finanzkalkulationen gemacht, die eindeutig belegen, dass dieser Zustand nicht eintritt. Wir wollen aus dem gleichen Topf ja auch die sonstige Arbeitsförderung bezahlen. Da wird sicher bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die notwendigenfalls so breit zum Tragen kommen, wie ich das anstrebe, und bei der Qualifizierung ein Limit auftreten. Wir wollen Qualifizierung und Umschulung bestreiten. Dabei sind Bildungsmaßnahmen zu bezahlen. Wir finanzieren hier nicht nur das Unterhaltsgeld, sondern auch die Maßnahmekosten, die Lehrkräfte, Materialien sowie die institutionelle Förderung des Bildungsträgers.

Die Bildungsmaßnahmen zeichnen sich durch sehr unterschiedliche Kosten aus. Da wird die Grenze der Möglichkeiten gegebenenfalls berührt. Wir können uns derzeit sehr teure Bildungsmaßnahmen nur in beschränktem Umfang leisten.

Es gibt in der Bundesrepublik Forderungen, dass die künftigen Länder der DDR auch Aussiedler aufnehmen sollen. Wie sehen Sie die Beschäftigungsmöglichkeiten für diese Einwanderer? Verschärft das nicht noch die Arbeitslosigkeit?

Es ist zweifelsohne das Gebot der Stunde, dass wir unsere Solidarität bekunden, indem wir beispielsweise jetzt Möglichkeiten schaffen, die fünfhundert jüdischen Menschen, die von Pogromen bedroht aus der Sowjetunion gekommen sind, zu beschäftigen. Wir wollen auch unsere Verantwortung gegenüber den 90 000 Gastarbeitern aus Vietnam, Angola und Mocambique wahrnehmen, die auf Grund von Regierungsabkommen hier sind. Wie es die Vertrage für die vereinbarte Zeit vorsehen, wollen wir sie zu den gleichen Bedingungen, wie sie DDR-Bürger haben, integrieren.

Darüber hinaus besteht die Notwendigkeit, sich auch für die Bulgaren, Sinti und Rumänen verantwortlich zu fühlen. Das ist nur in begrenztem Maße möglich. Wir müssen also sehen, dass wir die noch ärmeren Nachbarn nicht vergessen. Wir sind derzeit aber nicht in der Lage, hier in größerem Maße einzuspringen, zu integrieren und zu finanzieren.

Wird nicht in absehbarer Zeit, in wenigen Monaten unsere Wirtschaft wieder prosperieren, so dass es zu einem Arbeitskräftemangel kommen könnte?

In wenigen Monaten? Das ist wirklich gänzlich ausgeschlossen. Aber wenige Jahre, das würde ich akzeptieren. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Wirtschaft mit ihren gut ausgebildeten, sehr motivierten Menschen - mit 90 Prozent Fachschulabschlüssen haben wir in der EG überhaupt den höchsten Anteil - wieder vorankommen kann. Durch Qualifizierung und Umschulung können unsere Arbeitskräfte wieder schnell auf den neuesten Stand gebracht werden. Sie werden es mit den Investoren und den Impulsen aus dem mittelständischen Bereich schaffen, eine zukunftsträchtige Wirtschaft zu installieren, die wieder nach Arbeitsplätzen verlangt.

Wird es also zu einem "heißen Herbst", wie Wirtschaftsminister Pohl es sah, kommen?

Ich glaube dies nicht. Wir wollen versuchen, durch breite, schon jetzt eingeleitete Aktivitäten unseren Arbeitnehmern Perspektiven zu schaffen. Das muss uns gelingen. Dann wird es keinen "heißen Herbst" geben. Es wird aber viele Menschen geben, die ihren Arbeitsplatz verlieren, die in motiviertem Zustand, möglichst bei Erhöhung und Erreichen einer zukunftsträchtigen Qualifikation auf einer Warteschiene gehalten werden müssen, die in Kürze wieder zu einem neuen Arbeitsplatz kommen können.

Wie werten Sie die bereits erreichten und angestrebten Forderungen der Gewerkschaften in den gegenwärtigen Tarifverhandlungen?

Wir hatten schon relativ frühzeitig versucht, obwohl wir als Ministerium für Arbeit und Soziales damit nichts mehr zu tun haben - doch auf Grund unserer Herkunft als Staatssekretariat für Arbeit und Löhne gibt es in diesem Bereich Erfahrungen - Tarifmoderation zu üben und zu appellieren, dass die Partner den Blick auf das Ganze wenden. Die Aktivitäten und Verhandlungen sollten davon geprägt sein, Arbeitsplätze zu erhalten. Ich habe leider jetzt oftmals nicht den Eindruck, dass dies im Mittelpunkt der Verhandlungen steht. Ich bin der Meinung, dass wir den extrem großen Lohn- und Gehaltsunterschied zur Bundesrepublik in einigen Jahren überwinden werden. Es geht mir aber um das Steigen der Produktivität unserer Wirtschaft. Ich begreife nicht, wie manche Tarifverträge Zustandekommen. Meine Meinung ist, dass wir noch eine Weile mit niedrigeren Löhnen leben müssen. Die Gewerkschaften sollten sich meines Erachtens stärker mit dem Arbeitsförderungsgesetz beschäftigen, als die Budgets der Betriebe zu belasten. Ich habe nicht den Eindruck, dass die jetzt abgeschlossenen Verträge der Erhaltung von Arbeitsplätzen dienen.

Könnte die Haltung der Gewerkschaften nicht von dem Einfluss ihrer starken Partnerorganisationen aus der Bundesrepublik, die ihre Positionen ausbauen wollen, geprägt sein? Geht es da nicht um ein Muskelspiel?

Es hört sich vielleicht etwas hart an, wenn ich die Frage so höre. Unsere Gewerkschaften müssten tatsächlich erst einmal vermitteln. Die bundesdeutschen Berater sollten soviel Insiderkenntnisse erwerben, dass sie die Probleme wirklich so sehen, wie unsere Gewerkschafter und unsere Belegschaften vor Ort. Dann wäre die Beratung optimal. Ich bin für diese Form von Beratung. Ich nutze sie selbst in meinem Ministerium, in den Arbeitsämtern. Ich habe die erfahrensten Arbeitsmarktpolitiker hergebeten, Olaf Sund aus Nordrhein-Westfalen und Herbert Ehrenberg, die über gute Kenntnisse verfügen. Sie beraten mich hier, wie es meiner Meinung nach für unser Volk günstig ist. Ich hoffe nur, dass die Gewerkschaften sich auch immer in dieser Hinsicht ebenfalls beraten lassen.

Das Gespräch führte
Dr. Norbert Schwaldt

Neue Zeit, Mo. 23.07.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 169

Δ nach oben