Originelle Konzepte gegen die Angst

Dafür spricht sich Dr. Regine Hildebrandt, Ministerin für Arbeit und Soziales aus

• Welche Chancen geben Sie dem Verfassungsentwurf, der vom Runden Tisch ausgearbeitet wurde? In der Volkskammer gab es dazu ja recht kontroverse Meinungen . . .

Er ist im Prinzip eine phantastische Sache, aber der Aufwand, um ihn durchzubringen, rechtfertigt ihn nicht. Wichtig ist, dass das Recht auf Arbeit und Arbeitsförderung fixiert ist. Die Werktätigen sollten, ehe es zur Arbeitslosigkeit kommt, bereits wieder gebunden werden. In puncto Arbeitslosigkeit müssen wir alle umdenken. Wir gehen davon aus, dass wir Arbeit für jeden gegenwärtig nicht sichern können. Jahrzehntelang haben wir gehört, dass der Kapitalismus soziale Unsicherheit bedeutet. Doch wir brauchen Optimismus. Ich denke, dass wir es schaffen können, vielen eine Perspektive zu geben.

• Das klingt optimistisch. Doch Arbeitslosigkeit ist bereits für viele hierzulande real. Wie gehen Sie an dieses Problem heran?

Ich habe inzwischen gelernt: Wenn die Wirtschaft einigermaßen funktionieren soll, muss es auch Arbeitslosigkeit geben. Wir können nicht Arbeitsplätze, die unrentabel sind, durch Subventionen aufrechterhalten. Doch damit sollen nicht die Plätze von Behinderten gefährdet werden. So ist das nicht gemeint. Wir müssen über Weiterbildungsmaßnahmen neue Arbeitsplätze anbieten und auch bei großen Entlassungswellen über Umschulungen Lösungen finden.

• Im Moment läuft da noch nicht viel . . .

Das ist eine Frage der Mobilisierung der entsprechenden Einrichtengen. Jeder vierte Betrieb bei uns hat eine Bildungseinrichtung, viele davon werden jetzt einfach abgeschafft. Aber wir müssen dafür sorgen, dass sie ausgebaut werden. Nötig sind Konzepte in Größenordnungen. 26 Prozent der Arbeitgeber hatten sich beispielsweise schon im Januar bereit erklärt, Ausbildungsmaßnahmen zu finanzieren. Es gibt auch sogenannte Beschäftigungsgesellschaften, die direkt in den Betrieben, deren Produktion zusammenbricht, Ausbildungsmaßnahmen organisieren. Mein Trost im Ungemach sind auch die mittelständischen Betriebe. Wir brauchen ein Investitionsklima. Ist das geschaffen, kann man viele Arbeitskräfte binden.

• Gibt es Studien über die ökonomische Situation der DDR, auf die Sie sich als Ministerin stützen können?

Dazu braucht man keine Studien, obwohl es natürlich Erhebungen gibt. Aber man sieht ja, wo jetzt die Leute entlassen werden. In mein Ministerium kommen viele Anträge von Betrieben, die ihre Ausländer loswerden wollen, die auf der Grundlage von Staatsverträgen in der DDR arbeiten. Dadurch wissen wir, wo es zur Zeit besonders klemmt. Wir bemühen uns, aus diesen Verträgen herauszukommen. Doch das geht nicht ad hoc. Wir appellieren an die Solidarität mit den Ausländern, so wie wir ja auch Solidarität von anderen erwarten.

• Glauben Sie, dass eine soziale Absicherung der DDR-Bürger angesichts des desolaten Zustandes der Wirtschaft real ist? Hinzu kommt ja noch die sinkende Bereitschaft in der BRD, für die Brüder und Schwestern hier in die Tasche zu greifen.

Wir haben bei unserem Besuch bei Herrn Blüm und seinen Mitarbeitern große Solidarität erlebt. Als Sozialpolitiker sehen sie ihre Verantwortung darin, uns zu helfen. Es müssen originelle Konzepte entwickelt werden. Von direkter finanzieller Hilfe war nicht die Rede, aber von vielfältiger Unterstützung, mit der bei uns Strukturen aufgebaut werden können, die greifen. So haben wir uns geeinigt, dass Spezialisten aus der BRD uns beim Aufbau qualifizierter Arbeitsämter helfen.

• Was meinen Sie mit originellen Lösungen?

Eben nicht den normalen Ablauf, wie er jetzt in den Ämtern vonstatten geht. Wir brauchen ein anderes Herangehen an die Dinge. Gleich im Arbeitsamt muss ein Angebot kommen. Wie in der BRD zum Beispiel, wo bestimmte Tätigkeiten für den Umweltschutz vom Arbeitsamt bezahlt werden.

• In der Regierungserklärung heißt es, dass der Wohltäter FDGB nicht mehr gebraucht wird. Wie ist das zu verstehen?

Es war doch immer so: Der FDGB macht die Sozialversicherung und die Renten. Woraus was finanziert wird und wo es hinfließt, das wusste keiner mehr. Das ist tödlich. Wir brauchen durchsichtige Verhältnisse und keinen Wohltäter. Wir machen jetzt ein normales Versicherungssystem, das beitragsfinanziert ist. Die Krankenversicherung muss sich selbst tragen.

• Warum haben Sie sich gegen das Gewerkschaftsgesetz ausgesprochen?

Meine Konzeption ist die, dass wir ein Betriebsverfassungsgesetz brauchen und Betriebsrate. Dafür wollen wir auch die gesetzlichen Grundlagen schaffen. Die Gewerkschaften sind eine Interessenvertretung der Arbeiter, die wir unbedingt als starken Partner in Tarifverhandlungen brauchen, aber nicht als Verwalter von Ferienplätzen. In der BRD gibt es auch kein Gewerkschaftsgesetz. Wir brauchen in den Betrieben Vertretungen der Mitarbeiter, in denen natürlich auch die Gewerkschaften mitmachen können.

• Können Sie denen Hoffnung geben, die jetzt arbeitslos sind oder es bald werden?

Erstens müssen die gesetzlichen Grundlagen eingehalten werden, die wir noch haben. Wir müssen auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit bleiben. Für die, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, habe ich die Perspektive breitgefächerter Umschulungsprogramme.

Schütz/Fischer

Tribüne, Mo. 23.04.1990

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