Schnelle Vernichtung wäre sauberste Lösung
Von Innenminister Dr. Peter-Michael Diestel
Bei der weiteren Auflösung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit sind wir mit einer schwerwiegenden, aber auch zugleich äußerst sensiblen Problematik konfrontiert, die die Gemüter vieler Menschen erhitzt und nicht selten zu äußerst kontroversen Standpunkten führt.
Eine der entscheidenden Fragen lautet: Wie ist mit den durch das Ministerium für Staatssicherheit auf rechtswidrige Weise über sechs Millionen Bürger gesammelten personenbezogenen Daten zu verfahren?
Das ist ein spezifisches DDR-Problem und muss durch die gegenwärtige Regierung in aller Verantwortung einer Lösung zugeführt werden, und zwar so, dass auch der Prozess der Herstellung der deutschen Einheit nicht belastet wird und darüber hinaus auch solche Lösungen gefunden werden, die dann durch ein zu bildendes gemeinsames Kabinett akzeptiert und getragen werden können.
Der weitere Umgang mit diesen Daten kann daher nur nach konsequent rechtsstaatlichen Grundsätzen erfolgen, die in einem gesonderten Gesetz auch exakt fixiert werden.
Wovon ist grundsätzlich auszugehen?
Die schnellstmögliche Vernichtung dieser personenbezogenen Akten wäre sicher die sauberste, einfachste und am wenigsten aufwendige Lösung. Um die Arbeitsweise und Methoden der Arbeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit historisch aufzuarbeiten und der Nachwelt zu dokumentieren, ist es nicht notwendig, Daten und Akten über einen so großen Personenkreis so kostenaufwendig zu lagern und zu verwalten.
Gefahr des Missbrauchs gilt es auszuschließen
Das bisher gesicherte und ausgewertete Material erlaubt schon sehr genaue Kenntnis der Struktur und Arbeitsweise dieses Ministeriums.
Es besteht die Gefahr, wenn die DDR nicht mehr die Rechtshoheit hat, dieses Problem selber zu bearbeiten, dann könnte ein gesamtdeutsches Parlament auf die Idee kommen, wir müssen mal sehen, was wir für 16,5 Millionen Menschen mitaufgenommen haben. Wenn sich jemand künftig um ein Abgeordnetenmandat oder um eine Professur bemüht, dann könnten übereifrige Leute darauf kommen, einfach zu gucken, was derjenige für eine Vergangenheit hat. Wenn man das auch für 60 Millionen Bundesbürger so machen könnte, akzeptiert. Da das aber nicht so ist und wir Chancengleichheit haben wollen, sollte man das verbrecherische Material vernichten. Es dürfen nicht ein zweites Mal durch diese Akten Nachteile entstehen.
Trotzdem verbietet sich die Vernichtung dieses Materials gegenwärtig von selbst. Warum?
Zugriff ist nötig für Rehabilitierungen
Sehr viele Menschen unseres Landes waren durch die Praktiken dieses Ministeriums direkt oder indirekt betroffen, hatten Leid zu ertragen, waren Repressalien unterworfen. Es gibt eine Pflicht der Regierung, diesen betroffenen Menschen moralische und materielle Wiedergutmachung zuteil werden zu lassen, Rehabilitierungen vorzunehmen und die Verantwortlichen, die sich nachweisbar schuldig gemacht haben, zur Verantwortung zu ziehen. Gerade diese notwendigen Rehabilitierungen erfordern, über einen noch sehr langen Zeitraum den sachgerechten und verantwortungsbewussten Umgang mit diesen Akten. Aber es ist zugleich auch eine andere Überlegung anzustellen. Diese vom ehemaligen MfS gesammelten und gespeicherten Daten bergen unkontrollierte Gefahren in sich. Sie sind geeignet, menschliche Tragödien heraufzubeschwören und in politische Kräftekonstellationen einzugreifen. Dazu gerade wurden sie ja in der Vergangenheit regelmäßig missbraucht. Ein rechtlich gesicherter Umgang mit diesen personenbezogenen Daten ist mehr als ein Gebot der Stunde. Gerade in dieser Richtung äußern sich auch mehrheitlich betroffene Bürger in Schreiben an das Parlament und die Regierung. Notwendig ist aus diesem Grunde ein Gesetz, das es ermöglicht, die Persönlichkeitsrechte der Bürger beim Umgang mit personenbezogenen Daten nicht zu beeinträchtigen, den Zugriff auf diese Daten für Rehabilitierungen zu erlauben, Beweismittel für erforderliche Strafverfahren zu sichern sowie die parlamentarische Kontrolle bei der Sicherung und Nutzung personenbezogener Daten zu gewährleisten.
Ebenso wie der Umgang mit den vom ehemaligen MfS gesammelten und gespeicherten personenbezogenen Daten einer gesonderten gesetzlichen Regelung bedarf und nicht von allgemein geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen abgedeckt werden kann, ist auch eine von bisherigen Archivverwaltungsorganen unabhängige Behörde erforderlich, die dem durch den Ministerrat vorgeschlagenen und durch die Volkskammer gewählten Sonderbeauftragten zur Erfüllung seiner Aufgaben zur Verfügung gestellt wird,
Geheimdiensten müssen Daten vorenthalten bleiben
Nur eine solche Herangehensweise ermöglicht es, das Problem des weiteren Umgangs mit personenbezogenen Daten nach konsequent rechtsstaatlichen Grundsätzen zu bewältigen. Wegen der Spezifik und der Tragweite des mit einem solchen Gesetz geregelten Gegenstandes ist die Aufnahme entsprechender Grundsätze in den Einigungsvertrag erforderlich.
Nach Maßgabe dieser Grundsatze ist zu gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten im Sinne dieses Gesetzes auch nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands vor einem geheimdienstlichen Zugriff oder einer unbefugten Offenbarung geschützt bleiben.
Berliner Zeitung, Mo. 06.08.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 181