Trotz Jubel die eigene Geschichte nicht leugnen

Er gilt als der sportlichste Minister der DDR. Er gilt aber auch als der umstrittenste: Innenminister Peter-Michael Diestel. Mit ihm sprachen die JW-Redakteure Hendrik Thalheim und Oliver Schirg.

In der Nacht zum 23. August beschloss die Volkskammer, dass die DDR am 3. Oktober der Bundesrepublik beitritt. Viele Abgeordnete jubelten. Anderen blieb das Lachen im Halse stecken. Was ging in Ihnen vor?

Mir kam das Jubeln nicht so leicht über die Lippen. Sicher, ich freue mich sehr auf Deutschland. Aber, ich empfinde den Abschied von der DDR wie eine Scheidung. Ich weiß, die Scheidung tut gut, eine schönere Zeit bricht nun an. Einer Grund allerdings. Dreck über die vergangenen Jahrzehnte auszukippen, alles zu verleugnen, was war, den sehe ich nicht.

Trotzdem bedarf diese Vergangenheit der Aufarbeitung ...

... natürlich! ...

Ihr Konzept geht davon aus, niemanden auszugrenzen, solange er solide arbeitet und sich Ihnen gegenüber loyal verhält. Ist dieses Konzept nicht blauäugig?

Haben Sie ein anderes? Hätte ich alle Dienstränge ab Hauptmann abgesetzt, so wären uns Mord und Totschlag nicht erspart geblieben. Das garantiere ich Ihnen.

Nur, Ihr Konzept setzt einen Partner voraus, der ebenfalls bereit ist, die Geschichte aufzuarbeiten. Da bleiben bei dem Beamtenapparat, der früher ohne Wenn und Aber zur Stange hielt, doch gewisse Zweifel.

Ich habe festgestellt, dass dieser Apparat fast 100prozentig bereit ist, Geschichte aufzuarbeiten. Gerade im Innenministerium unterstützen mich dabei sehr viele Leute. Ich selber lernte keinen Menschen kennen, der mich hinderte oder der mich überzeugen wollte, irgend etwas zu verdrängen. Es gibt natürlich in Deutschland auch Kreise, die Interesse daran haben, die alte Elite auszugrenzen. Wie oft höre ich aus der Bundesrepublik: "Wir können auf den gesamten Beamtenapparat dar DDR durchaus verzichten."

Nach eigenem Selbstverständnis gehört die Bundesrepublik zu den demokratischsten Staaten der Erde.

Das leugne ich ja auch nicht. Und wir haben eine Menge zu lernen. Aber es gibt in Bonn und München Leute aus allen Parteien die selbstherrlich unsere Verhältnisse bewerten. Die jetzt moralisieren: wie unmoralisch doch der ganze Sozialismus gewesen sei. Und wie unmoralisch wir erst gewesen seien, weil wir nicht in den Stacheldraht gelaufen sind, weil wir uns nicht haben abschießen lassen wie die Hasen.

Auch hierzulande gibt es nicht wenige, die Ihrem Aufarbeitungskonzept nicht so recht folgen mögen.

Das wollen wir mal sehen: Noch meiner Meinung haben einige Gegner meines Konzepts ein gestörtes Verhältnis zur Geschichte. Diejenigen, die heute am lautesten rufen, haben damals am tiefsten geschwiegen.

Meinen Sie damit die Führung der DSU?

Kein anständiger Demokrat kann sich jetzt mehr mit dieser Partei identifizieren. Schauen Sie sich doch bloß einmal die Spitze an! Ein Geschichtslehrer. Ich würde gern einmal wissen, was er vor der Wende den Kindern erzählt hat. Die Geschichte des Sozialismus? - Oder der Herr Professor. Wer als Parteiloser im sozialistischen Bildungssystem Professor geworden ist, der musste dreimal "Hurra" gerufen haben.

Ich mache hier niemandem seine Vergangenheit zum Vorwurf. Nein, ich mache ihnen zum Vorwurf, dass sie mit ihrer persönlichen Geschichte nicht im reinen sind. Sie verdrängen einfach.

In den letzten Tagen war oft die Rede von "SED-Seilschafen" in Ihrem Ministerium, die sich gegenseitig die Posten zuschieben. Bestätigt das nicht Ihre Kritiker?

Ich weise diese Vorwürfe zurück! Solche Seilschaften gibt es nicht. Natürlich waren von den 150 000 Polizisten 98 oder 99 Prozent in der SED. Aber darum geht es bei diesen Vorwürfen doch nicht. Hier sollen wahllos Mitarbeiter des Mdl an den Pranger gestellt werden. Das ist Brunnenvergiftung im wahrsten Sinne des Wortes.


"Ich persönlich habe stellvertretende Minister entlassen, ich habe abgesetzt, verändert. Ich habe aber keine Theologen, keine Bäcker und Friseure zu Staatssekretären gemacht."


Die alten Kader kleben aber noch immer an ihren Sesseln.

Das stimmt doch nicht. Ich persönlich habe stellvertretende Minister entlassen, ich habe abgesetzt, verändert. Ich habe aber keine Theologen, keine Bäcker oder Friseure zu Staatssekretären gemacht...

... was ja auch niemand fordert ...

... ich habe ausschließlich Leute eingesetzt, die in der Lage sind, ein zentrales Kriminalamt zu führen, Grenztruppen aufzubauen, den Strafvollzug zu organisieren. Den Erfolg dieser Bemühungen akzeptiert man ja. Kritisiert wird doch nur, dass Herr Diestel diesen Erfolg mit Leuten erreichte, die er dafür geeignet hielt. Und das waren eben die alten. Zudem: Die Sicherheit und den Frieden in diesem Land zu organisieren, Blutvergießen zu vermeiden - dieses Ziel haben wir fast erreicht.

Das ist sicher nicht zu leugnen. Aber es heißt, ältere Vorgesetzte versuchen, über Kameradschaftsgerichte, jüngere kritische Geister zu vertreiben.

Das kommt aus Berliner Quellen. Und das wird Gegenstand von Überprüfungen sein. Aus jetziger Sicht gibt es für diese Vorwürfe nicht die geringsten Anhaltspunkte. Diejenigen, die das behaupten, haben keine Namen genannt. Das können sie auch nicht.

Andere Vorwürfe gegen Mitarbeiter Ihres Ministeriums besagen, Sie, würden sich Objekte des Mdl, die derzeit aufgelöst werden, unter den Nagel reißen und damit Ihre Zukunft sichern.

Ich bemühe mich, mit der Aufgliederung von Grundmitteln des MdI soviel wie möglich Arbeitsplätze zu erhalten. Das holte ich für legitim, und es geschieht in Übereinstimmung mit der Treuhandanstalt und dem Finanzministerium.

Arbeitsplatzsicherung ist gut. Könnte es aber nicht sein, dass dies als Zweckargument verwendet wird? Eigenen Interessen zuliebe?

Wissen Sie, es gibt Zeitungen, die haben sich früher sehr unmündig hervorgetan, indem sie die SED oder besser das ND noch links überholten. Einige Journalisten meinen heute, sich mit Zetergeschrei hervortun zu müssen.

Das beantwortet unsere Frage nicht.

Worum geht es denn jetzt? Wir stehen vor dem Chaos, vor dem Zusammenbruch eines Systems. Und wir haben jetzt ein neues, schöneres aufzubauen. Da unterstütze ich jeden, der Eigeninitiative ergreift, vernünftige Konzepte bringt, etwas für die Menschen hierzulande organisiert.

Zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte gehören auch die unzähligen Stasi-Akten. Wie kann verhindert werden, dass diese Akten noch der Vereinigung vom Bundesnachrichtendienst oder vom Verfassungsschutz missbraucht werden?

Es gibt für gesamtdeutsche Behörden eine Berechtigung, sich für ihre Bürger einzusetzen. Deswegen kann ich diesen Behörden ein Mitspracherecht, was mit diesen Akten geschieht, nicht verwehren.

Nun birgt dieses Material eine Unmenge an Explosivität in sich.

Deswegen halte ich ja die Regelung im Einigungsvertrag für ausgewogen. Hier werden bundesdeutsche Interessen - immerhin wurden auch über zwei Millionen Bundesbürger bespitzelt - und solche der DDR in ausreichendem Maße berücksichtigt. Die Akten lagern in der ehemaligen DDR, und als Verantwortlicher wird ein DDR-Bürger eingesetzt. Hinzu kommen beschränkte Rückgriffrechte auf das Material.

Das kommt ja Ihre, ursprünglichen Absicht entgegen.

Ich bin für eine Frist, innerhalb derer Menschen Ansprüche anmelden können, innerhalb derer eine Rehabilitierung Unschuldiger gewährleistet wird. Nach Ablauf einer solchen Frist bedarf es einer sicheren Blockade der Akten oder ihrer Vernichtung.

Gerade die Idee der Vernichtung lässt viele in diesem Land wütend werden. Was spricht für diese Idee?

Viele Akten entsprechen nicht der objektiven Wahrheit. Oftmals wurden sie willkürlich zusammengesetzt. Wir können bei Volkskammerabgeordneten nachweisen, dass deren Akten einfach konstruiert wurden. Die Informanten rechneten Informationen ab, die es gar nicht gab.

Eine Aktenvernichtung würde aber die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit arg erschweren.

Es gibt Gruppierungen, die ohne Wenn und Aber alles am besten sofort auf den Tisch legen wollen. Eine Explosion wäre hierzulande die Folge. Und darum kann es nicht gehen.

Diese Gruppierungen sind durchaus legitimiert Vertreter von Ihnen sitzen in der Volkskammer.

Ja, aber dort haben sie nicht die Mehrheit, Und sie müssen sich einfach damit abfinden, dass in der Demokratie eben die Mehrheit bestimmt. Mir als Innenminister gefallen auch nicht alle Punkte des Einigungsvertrages. Aber ich habe die Pflicht, auch das, was mir nicht gefällt trotzdem umzusetzen.

Eine Demokratie lebt davon, dass man für andere Positionen Verständnis aufbringt, sie toleriert.

IKein Widerspruch. Aber wenn ich an der, vergangenen Dienstag denke: Die Besetzung der Stasi-Gebäude war schlichtweg Hausfriedensbruch. Man kann sich nicht als Minderheit einfach durch Rechtsbruch durchsetzen, wenn man sich mit der Mehrheit nicht abfinden will.

Bürgerkomitees beklagen, Sie setzten bei der Stasi-Aufarbeitung mehr auf ehemalige Stasi-Mitarbeiter als auf sie.

Das ist falsch. Ich habe mehrere Mitglieder von Bürgerkomitees in die Regierungskommission geholt. Ich möchte an Herrn Dr. Kummer erinnern, der eine hervorragende Arbeit macht. Ich stimme nur mit denen nicht überein, die meinen, jetzt in die Rathäuser gehen zu müssen, um dort Listen auszuhängen, auf denen Namen von informellen Mitarbeitern zu lesen sind.

Stimmen die Vorwürfe gegenüber Mitgliedern von Bürgerkomitees, sie hätten unerlaubt Informationen weitergegeben?

Ja, es gibt schwerwiegende Vorwürfe gegen einen engen Mitarbeiter von Herrn B(...) und gegen einen gewissen Herrn S(...), der eine Kontaktperson des Verbrechers Carlos gewesen sein soll. Ich weiß, dass viele Leute eine aufopferungsvolle Arbeit leisteten. Ich weiß aber auch und kann es beweisen, dass nicht wenige Geheimnisverrat begehen und an die Presse Dossiers verkaufen. Das ist verbrecherisch.

Ab 3. Oktober gilt auch hier das Grundgesetz, mithin die Notstandsgesetzgebung. Wären diese Gesetze günstige Mittel, einen heißen Herbst zu bewältigen?

Erstens: Uns steht kein heißer Herbst bevor. Zweitens: Die Mehrheit wollte die Einheit, also müssen wir auch mit den unangenehmen Seiten des Grundgesetzes leben. Nicht zuletzt erhielten die Notstandsgesetze damals in den 70er Jahren Zustimmung der etablierten Parteien.

Aber eben von Parteien der Bundesrepublik.

Ich selber bin gegen Notstand. Aber wenn ein Notfall eintritt, dann muss eine rechtliche Regelung vorhanden sein. Ich spreche mich dafür aus, dass eine Regelung da sein muss, die bei einer substantiellen Gefährdung der öffentlichen Ordnung hält. Und das können Notstandsgesetze sein.

Bleibt zu fragen, ob gerade bundesdeutsche Politiker Befindlichkeiten der hier Lebenden verstehen?

Sicher, dieses Feeling fehlt ihnen. Deswegen wird es Leute geben müssen, zu denen vielleicht auch ich gehöre, die dieses DDR-Typische mit einbringen. Wenn wir darauf verzichten, würden unsere Befindlichkeit missachtet.

Junge Welt, Nr. 210, Sonnabend/Sonntag 8./9. September 1990

Δ nach oben