Hans-Jochen Tschiche
"Ich war ein normaler Hitlerjunge hatte allerdings Schwierigkeiten mit dem autoritären Gehabe", sagte er in einem Interview. (1)
Nach dem Krieg wollte er sich dafür einsetzen, dass die braune Pest in Deutschland nie wieder an Boden gewinnt und dass Deutschland nicht wieder militarisiert wird. (2)
Er war zwei Jahre (1946-48) in der FDJ. Ihn störte dort das autoritären Gehabe. "Man war auf dem Weg zu einer Republik der Besserwisser mit einer Partei an der Spitze, die immer alles wusste." (3)
Danach weigerte er sich in eine Massenorganisation einzutreten.
Studierte zunächst in Westberlin Evangelische Theologie. Er wollte Neulehrer u. a. für Russisch werden. Ausschluss aus politischen Gründen.
Danach studierte er weiter Theologie in West- und Ostberlin. Von 1956-58 Vikar in Hilmsen (Altmarkkreis Salzwedel). Pfarrer von 1960-75 Meßdorf, heute ein Ortsteil der Stadt Bismark (Altmark) im Landkreis Stendal in Sachsen-Anhalt.
Danach Studienleiter der Evangelischen Akademie in Sachsen-Anhalt. Ab 1978 Leiter der Akademie. Es wurde von staatlicher Seite Druck ausgeübt ihn zu versetzen.
Er beteiligte sich an einem befristeten Fasten in der Erlöserkirche in Berlin vom 06. bis 12.08.1983. Auch wurde ein Brief an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker geschrieben. Sie solidarisierten sich mit Menschen, die in verschiedenen westlichen Ländern, die 06.08.1983 mit einem unbefristeten Fasten für das Leben begannen.
Er gehörte zur innerkirchlichen Opposition. Nachdem wiederholt Dienstreisen von ihm abgelehnt wurden, schrieb er einen Offenen Brief an den damaligen Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi. Dienstlich durfte er 1987 nach Düsseldorf reisen und von dort machte er einen Abstecher in die Niederlande. Seine Reisegenehmigung führte er nach Studium der Akten des MfS auf die Drohung seines Einladers, während des Treffens zwischen Erich Honecker und Helmut Kohl in Düsseldorf eine Pressekonferenz abzuhalten, zurück. Für August 1989 erhielt er eine Reisegenehmigung in die Schweiz. Er führte die Genehmigung darauf zurück, er solle in der Zeit der Gründungsvorbereitung neuer Gruppen in der DDR nicht im Lande sein.
Die Stasi versuchte vergebens ihn anzuwerben. Um seine Bewegungsmöglichkeit einzuengen wurde danach getrachtet ihm seine Fahrerlaubnis zu entziehen. Was auch zeitweise gelang. Bei der Kirchenleitung und den kirchlichen Mitgliedern sollte er unglaubwürdig gemacht werden. Er wurde im Operativen Vorgang "Spitze" des MfS erfasst.
Seine Wohnung und sein Arbeitsplatz wurden konspirativ durchsucht und er wurde abgehört. Um ihm wurden IMs platziert.
Hans-Jochen Tschiche war eine harte Nuss für die Staatssicherheit. Selbst Erich Mielke befasste sich mit ihm.
Öffentliche Stellungnahme 1968 gegen den Einmarsch von Staaten des Warschauer Vertrages in die ČSSR. Am 21.09.1968 erklärte er in einem Vortrag: "Die Systeme im Westen und Osten sind nicht fähig, die anstehenden Probleme zu lösen und müssen deshalb gestürzt werden". (4)
In einer Eingabe an Erich Honecker protestierte er gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns.
Ab 1980 in der Friedensbewegung aktiv. Er vertrat die Idee der Blockfreiheit beider deutscher Staaten. Er setzte sich für einen sozialen Friedensdienst ein. Er unterzeichnete den "Berliner Appell" 1982.
Er hatte 1982 die Gründung des Netzwerkes "Frieden konkret" angeregt. Ab 1987 erzählte er von seinem Traum, der Gründung einer Grünen Partei.
1984 unterzeichnete er eine Solidaritätserklärung an die Bundesversammlung der Grünen in Hamburg. Er gehörte der "Kontaktgruppe Charta '77", die sich 1985 bildete, an. Er lud Hermann Axen (SED) und Karsten Voigt (SPD) im Juni 1986 zu einer Tagung der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalts über eine chemiefreie Zone in Europa ein. Unterschrieb im November 1986 das Memorandum "Das Helsinkiabkommen mit wirklichem Leben erfüllen".
Hans-Jochen Tschiche war Initiator von "Konkret für den Frieden". Er war auch Mitglied des Fortsetzungsausschusses. Auf dem Netzwerktreffen "Konkret für den Frieden VI", 26.-28.02.1988 in Cottbus forderte er in seinem Positionspapier "Teilnahme statt Ausgrenzung" eine Teilhabe am innergesellschaftlichen Veränderungsprozess. (5) Das Papier wurde aber mit knapper Mehrheit angelehnt. Manchen Anwesenden ging es zu weit.
Ein Jahr später, bei "Konkret für den Frieden VII", in Greifswald, schlug er vor, eine "Vereinigung zur Erneuerung der Gesellschaft" zu gründen. Auch dieser Vorschlag wurde mit Mehrheit abgelehnt. Seine Wiederwahl auf dem Treffen in Greifswald 1989 wurde durch "progressive Kräfte", so der Sprachgebrauch des MfS, verhindert. (6)
Das MfS schätzte ihn u.a. als fanatisch, von politischer Profilierungssucht getrieben und als unbelehrbarer Feind des Sozialismus ein. Der erste Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Gerd Gies (Mitglied der Blockpartei CDU) meinte dagegen 1991 in einer Landtagssitzung, Tschiche begebe sich langsam auf den Weg der SED Politbüromitglieder Kurt Hager oder Joachim Hermann. Außerdem warf er ihm vor, die Presse zu einem Terrororgan umfunktionieren zu wollen. (7)
Gründungsmitglied des Neuen Forums. Er stellte ein Raum und eine Wachsmatrizendruckmaschine zur Herstellung von Flugblättern zur Verfügung.
Vertreter des NF am Runden Tisch des Bezirkes Magdeburg. Abgeordneter in der Volkskammer und des Deutschen Bundestages 1990. Er kritisierte die Praxis in der Volkskammer, über Gesetze abzustimmen ohne die Möglichkeit erhalten zu haben sie vorher zu lesen. In der Volkskammer gehörte er dem Haushaltsausschuss an.
Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt 1990-98. Fraktionschef Bündnis 90/Die Grünen. Vorsitzender des Petitionsausschusses und war Mitglied im Finanzausschuss. Alterpräsident in Landtag von Sachsen-Anhalt 1994. Er gilt als einer der Architekten des "Magdeburger Modells" - Tolerierung der SPD-Bündnisgrünen-Minderheitsregierung durch die PDS. Hans-Jochen Tschiche war einer der ersten, die eine Koalition mit der PDS ins Gespräch brachte. Er wurde am 25.05.2014 in den Börde-Kreistag gewählt. Dort war er Fraktionsvorsitzender der Fraktion "Die Grünen/Piraten".
1991 unterstützte er die Montagsdemos in Magdeburg. Im Mai 1991 erstattete er Anzeige gegen vier Stasi-Generäle wegen Nötigung.
Er war Ehrenvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen-Anhalt.
Mitglied in der Verhandlungskommission die den Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen aushandelte. 1996 warf der mehrheitlich mit Westdeutschen besetzten Bundesparteispitze Ignoranz vor und sie vernachlässige die Sorgen der Ost-Partei. (8) Nach der verlorenen Landtagswahl für Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen-Anhalt 1998 rief er zur Bildung einer "vereinigten Linken" aus Grünen, PDS-Reformern und linken SPDlern auf. (9) 1999 sprach er sich gegen eine Amnestie für DDR-Funktionsträger aus. (10) Im Jahr 2000 unterschrieb er einen Brief, in den den Grünen ein mangelndes Engagement im Osten vorgeworfen wurde. (11)
Er fand das SED-Politbüromitglied Werner Eberlein "auf Anhieb sympathisch und beeindruckend". In seinen Erinnerungen meint er: "Meine These ist nun, dass die separaten Gründungen im Herbst 1989 zum großen Teil damit zu tun gehabt haben, dass die Protagonisten sich nicht riechen konnten. Einer meinte vom anderen, er sei ein Stinkstiefel. Andere waren der Überzeugung, sie hätten es mit hysterischen Ziegen zu tun. Einen Dritten hielten sie gemeinsam für einen eitlen Fatzken. Wenn man in diesen Berliner Streit nicht einbezogen war, hing es vom Zufall ab, bei welcher Gruppierung man landete. So wäre ich fast Mitglied des Demokratischen Aufbruchs geworden, wenn es nicht Missverständnisse wegen des Termins gegeben hätte. Allerdings eines stand für mich fest, in eine Partei wollte ich nicht, weil ich nicht um die Macht streiten, sondern sie nur kontrollieren wollte." (12)
In seinen Erinnerungen 1999 meinte er: "Die Wendehals-Kolonen waren clever. Während wir uns noch bei der DDR-Reform befanden und die Stasi in die Produktion schicken wollten, beschafften sie sich im Osten und in der westlichen Bundesrepublik gesicherte Arbeitsplätze." (13)
Nach der Nominierung von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten im Februar 2012 meinte er, "eine Würdigung, die er nicht verdient". Und, "er ist kein Vater der protestantischen Revolution, sondern er gehört zu denen, die sie beendet haben." (14)
Er trat gegen die Stimmungsmache gegen zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassen Sexualstraftäter im Ortsteil Insel der Kreisstadt Stendal auf.
Er war Vorsitzender des Vereins "Miteinander - Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V.".
Als Mitbegründer des Neuen Forum erhielt er den Nationalpreises der Deutschen Nationalstiftung. Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse.
Der am 10.11.1929 in Kossa bei Bitterfeld geborene Hans-Jochen Tschiche verstarb am 25.06.2015 in Magdeburg.
(1) Joachim Heise, Helmar Kreysig, Marianne Regensburger (Hrsg): Über Deutschland und die Deutschen, edition ost 2001, S. 124
(2) ebenda S. 124
(3) ebenda S. 124
(4) Hans-Jochen Tschiche: Boykottnest, mitteldeutscher verlag 2008, S. 56
(5) Thomas Klein: "Frieden und Gerechtigkeit!", Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Böhlau Verlag, 2007, S. 409
(6) Stolle, Uta: Der Aufstand der Bürger, Wie 1989 die Nachkriegszeit in Deutschland zu Ende ging, S. 68
(7) die tageszeitung, 23.03.1991
(8) die tageszeitung, 26.02.1996
(9) die tageszeitung, 16.07.1998
(10) die tageszeitung, 09.01.1999
(11) die tageszeitung, 11.04.2000
(12) Hans-Jochen Tschiche: Nun machen Sie man, Pastorche!
(13) Hans-Jochen Tschiche: Nun machen Sie man, Pastorche!
(14) Der Tagesspiegel, online, 22.02.2012
Links
zu Hans-Jochen Tschiches Internetseite
Gespräch mit Hans-Jochen Tschiche, 15.10.2014
Stimmen der Opposition - Hans-Jochen Tschiche