Wolfgang Thierse
lernte vor seinem Studium Schriftsetzer beim Thüringer Tageblatt. Ursprünglich wollte er Jura studieren oder Journalist werden. Wenn er im Westen gelebt hätte wäre er wahrscheinlich Rechtsanwalt wie sein Vater geworden, sagte er am 07.03.2018 in der ZDF-Sendung Markus Lanz.
Da sein Vater Rechtsanwalt war wurde er als Kind mit soziale Herkunft "Selbstständige Intelligenz" eingestuft.
Studiere dann aber Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Anschließend wissenschaftlicher Assistent im Bereich Kulturtheorie/Ästhetik. 1975 bis 1976 Mitarbeiter im Ministerium für Kultur.
Wolfgang Thierse verlor seine Stellung dort wegen seines Protestes gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976. Er sollte zu Künstlern gehen, um sie zu Unterschriften zur Zustimmung der Ausbürgerung zu bewegen. Was er ablehnte und sagte er erhalte die Maßnahme für falsch.
Von 1977 bis 1990 im Zentralinstitut für Literaturgeschichte der AdW tätig.
Nachdem er in den Freundschaftsrat seiner Schule gewählt worden war, wurde er dazu gedrängt Junger Pionier zu werden. Als Student wurde er zum FDJ-Gruppensekretär, später zum Stellvertreter gewählt. Er war zugleich aktives Mitglied in der Katholischen Studentengemeinde. Er machte die Jugendweihe nicht mit. Im gelang es durch eine Krankheitsgeschichte den Dienst bei der NVA zu umgehen.
Er wurde von der Stasi überwacht. Im Zuge ihrer Überwachung fragten die Spitzel der Stasi auch die Nachbarn über Wolfgang Thierse aus. Sie antworteten: "Der ist harmlos". Wissenschaftliche Reisen ins Nichtsozialistische Ausland wurden ihm verwehrt.
Wolfgang Thierse, stieß im Januar 1990 vom Neuen Forum kommend zur SDP. Kurze Zeit war er auch in der Arbeitsgruppe "Recht/Wahlen" von Demokratie Jetzt zu Gange. Der Grund für den Eintritt in eine Partei war für ihn die Wahrnehmung "einer sichtbar werdenden Ohnmacht der Bürgerbewegung". (1)
Er war nach den Wahlen am 18. März 1990 Abgeordneter in der Volkskammer. Er war Mitglied der Verhandlungsdelegation zur Bildung einer Regierungskoalition nach der Volkskammerwahl. "Ich bin in die Regierungsverhandlungen gegangen als entschiedener Gegner der Koalition mit der Allianz", sagte er auf dem Außerordentlichen SPD-Parteitag am 09.06.1990 in Halle. Als er aber gesehen habe, welche eigenen Vorstellungen durchsetzbar waren, habe er seine Meinung geändert.
Bei der Abstimmung am 07.08.1990 in der SPD-Volkskammerfraktion über die Fortsetzung der Koalition stimmte er für deren Beendigung.
Das in angetragene Amt des Kulturminister lehnte er ab. (2)
Auf dem Außerordentlichen SPD-Parteitag am 09.06.1990 in Halle wurde er mit 271 von 414 Stimmen zum Vorsitzender der SPD in der DDR gewählt. Er setzte sich gegen zwei Mitbewerber durch. Auf dem Vereinigungsparteitag der beiden SPDs im September 1990 wurde er Mitglied im Parteivorstand und stellvertretender Parteivorsitzender.
Im habe es gefallen, dass in der Nacht vom 02. zum 03.10.1990 Demonstranten an seiner Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg vorbeizogen und eine "Republik Utopia" ausriefen, sagte er während seiner Rede am 04.10.1990 im Deutschen Bundestag.
Von 1990 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages. Ab September 1991 Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission. 1992 Aufruf zu einem "Tribunal" zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Stellvertretendes Mitglied der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" für die SPD-Fraktion.
Am 27.11.1991 schrieb er: "Der Kaderleiter hatte Macht über Menschen ausgeübt, hat über die Zuteilung von Informationen, Reisen, über Westkontakte entschieden. Die sogenannten Kadergespräche waren Macht- und Unterdrückungsrituale. Wer kann, darf das vergessen! Welcher Kaderleiter dürfte deshalb Personalchef werden und bleiben? Keiner! Es war unerträglich." (3)
Stimmte 1993 für die Änderung des Asylrechtsparagrafen. Gründer des Arbeitskreises "Neue Bundesländer".
Im Herbst 2000 setze sich Wolfgang Thierse für das Bleiberecht von Khaled Bensaha, eines der Opfer der Hetzjagd in Guben (Brandenburg) bei dem Omar Ben Noui (Farid Guendoul) zu Tode kam, ein.
Er unterzeichnet im November 2001 einen globalisierungskritischen Text der "SPD-Linken". 2002 gratulierte er der "Bild-Zeitung" zum 50zigsten.
Im November 2002 nahm er in einer Kirche an einer Trauerfeier für den Atheisten Karl Rudolf Augstein teil.
Mehr deutsche und europäische Musik in den Musiksendern zu spielen, forderte er im Juni 2003 und im April 2004 als Mittel gegen den "amerikanischen Kulturimperialismus". Ebenfalls im April 2004 nannte er deutsche Unternehmer, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern "vaterlandslose Gesellen". Im Juli 2004 nannte er das Ultimatum von Daimler-Chrysler zur Lohnsenkung "abstoßend".
Im April 2005 unterschrieb er einen Aufruf gegen das Vorhaben des Berliner Senats einen Werteunterricht für alle gemeinsam einzuführen, ohne Abwahlmöglichkeit zu Gunsten eines Religionsunterrichtes. Im selben Monat nannte er den Freispruch eines Skinhead, der einen Rentner erstochen hat, der sich über das laute Abspielen des "Horst-Wessel-Liedes" beschwert hatte und ihn unbewaffnet angriff, skandalös. Das Nehmen von Geruchsproben oppositioneller durch die bundesdeutsche Polizei erinnere ihn an Stasi-Methoden, meinte er im Mai 2007. (4)
Im Dezember 2008 erinnerte ihn der Ethik-Unterricht an berliner Schulen an den Weltanschauungsunterricht in der DDR. Am 1. Mai 2010 beteiligte er sich an einer Blockade eines NPD-Aufmarsches in Berlin. Was zu "Thierse, blockierse"-Rufen der Mitstreiter führte. (5)
Er ist Mitglied im Sprecherkreis des Arbeitskreises "Christinnen und Christen in der SPD". Er warnte im Oktober 2010 vor Bestrebungen in der SPD einen Arbeitskreis von Laizisten einzurichten. "Das Programm der Laizisten ist das Programm eines kämpferischen Atheismus", meinte er. Und, "ich warne die SPD davor, zu einer atheistischen und antireligiösen Partei zu werden." (6)
Am 19.02.2011 beteiligte er sich an den Protesten gegen einen Neonaziaufmarsch in Dresden. Im Mai 2011 forderte er einen sofortigen Stopp der Abschiebung von Roma in den Kosovo. (7) Er stimmte im Juli 2011 im Bundestag für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik. Im Mai 2012 mahnte er den Beauftragten der Stasiunterlagenbehörde, Roland Jahn, ein Konzept für die Umstrukturierung der Behörde vorzulegen. (8) Im Oktober 2012 meinte er, die Beabsichtigte Verleihung des Lutherpreises an "Pussy Riot" sei nicht angemessen. (9)
Mit dem Jenaer Jugendpfarrer Lothar König, der nach Antinaziprotesten angeklagt wurde, solidarisierte er sich 2013. Die SPD leide immer noch an ihrem für das Land so wichtigen Opfergang, genannt Agenda 2010, meinte er im Juni 2013. Und, "das ideologisch-emotionale Lebenselixier der Linkspartei ist unüberhörbar der Hass und die Attacke auf die SPD". (10) Er beklagte, die deutsche Medienlandschaft sei "hektischer, hysterischer und boulevardesker" geworden, im Juli 2013. (11)
In einem Interview am 01.01.2013 sagte er zu einer möglichen Koalition Linke mit der SPD: "Aber ein Sozialdemokrat kann nicht Stellvertreter eines Ministerpräsidenten der Linkspartei werden, nicht in Thüringen und auch nicht anderswo. Das hat auch etwas mit dem Stolz einer großen alten Partei zu tun." (12) Im September 2014 nach der Landtagswahl in Thüringen: "25 Jahre nach dem Mauerfall sind Tabuisierungen längst passé". Und er empfiehlt Sondierungsgespräche. (13) Unterzeichnete im Januar 2015 den Aufruf "Gegen Ressentiment und Abschottung: Für die Werte von 1989!".
Im Juni 2016 sprach er sich zusammen mit Günter Nooke doch noch für den Bau des "Einheitsdenkmals" in Berlin aus. (14) Ebenfalls im Juni 2016 warf er der CDU vor, den Umbau der Stasiunterlagenbehörde zu verhindern. Die Expertenkommission hatte die Überführung der Akten bis 2021 ins Bundesarchiv empfohlen. Nach Angaben von Wolfgang Thierse hat die Union der SPD Ärger mit dem Integrationsgesetz angedroht, wenn sie Jahn die Zustimmung zur Wiederwahl verweigere. (15)
Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU, Bündnis 90/Grüne und FDP im November 2017 sprach er sich für eine Koalition aus CDU/CDU, Bündnis 90/Grüne und der SPD aus.
Am 15.01.2017 stellte er den Aufruf der Initiative für die Errichtung eines Denkmals für die polnischen Opfer der Nazibesatzung vor.
Er unterschrieb die Offene Erklärung vom 18.08.2019 "Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf", durch die AfD.
In einem Leserbrief an die in Berliner erscheinenden Zeitung "Der Tagesspiegel" vom 01.03.2020 schreibt Wolfgang Thierse über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe: "Hier haben 'furchtbare Juristen' in gerade triumphalistischer Manier die Selbsttötung zum Inbegriff der Autonomie des Menschen gemacht. Einschränkungen vorzunehmen würden vor dem gottgleichen Bundesverfassungsgericht scheitern."
Er unterschrieb Frieden schaffen: Waffenstillstand, Verhandlungen und gemeinsame Sicherheit vom 01.04.2023 der Friedensinitiative für Europa, für die Ukraine.
Im Januar 2024 sagte er Deutschlandfunk die Prüfung eines AfD-Verbots halte er für geboten . Das AfD-Mitglied Björn Höcke die Grundrechte nach Artikel 18 des Grundgesetzes zu entziehen unterstützte er. Das Instrument der Grundrechtsverwirkung sei in der Verfassung ausdrücklich für Demokratiefeinde vorgesehen.
Wolfgang Thierse war bis Oktober 2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Danach Vizepräsident. Er war stellvertretender Vorsitzender der SPD bis November 2005.
Mitglied der Vollversammlung im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken. Vorstandsvorsitzender und Vorsitzender des Kuratorium der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" bis Juni 2006. Er betreibt eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel "Thierse trifft...". Seit März 2010 Stiftungsratsmitglied in der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Schirmherr der Amadeu Antonio Stiftung. Mitglied im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft e.V. Mitherausgeber der "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte", herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Mitglied der Arbeiterwohlfahrt. Mitglied bei Hertha BSC.
Als junger Mensch spielte Wolfgang Thierse Fußball. Einen Bart trägt er seit 1967.
Zu seinem 75sten Geburtstag am 22.10.2018 fand in der Katholischen Akademie in Berlin eine Soiree statt.
Moses-Mendelssohn-Preis 1992, Bundesverdienstkreuz 1993. Im Januar 2001 erhielt er den Ignatz-Bubis-Preis und im Juli den Theodor-Heuss-Preis. Ehrendoktor der Uni Münster 2004. Im Januar 2013 erhielt er die Goldene Narrenschelle. Am 21.05.2014 wurde ihm die "Berliner Schlossmedaille in Gold" verliehen.
(1) Wolfgang Thierse in Freya Klier (Hg.): Wir sind ein Volk! Oder? Die Deutschen und die deutsche Einheit. Verlag Herder 2020, S. 140f
(2) Daniel Friedrich Sturm: Uneinig in der Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, 2006, S. 346
(3) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.11.1991
(4) Berliner Zeitung, 24.05.2007
(5) Spiegel, online, 02.05.2010
(6) Hamburger Abendblatt, 17.10.2010
(7) Der Tagesspiegel, 30.05.2011
(8) Berliner Zeitung, 07.05.2012
(9) in der ZDF-Sendung aspekte am 19.10.2012
(10) Berliner Zeitung, 22./23.06.2013
(11) Berliner Zeitung, 22.07.2013
(12) Der Tagesspiegel, online, 01.01.2013
(13) Der Tagesspiegel, online, 16.09.2014
(14) Berliner Zeitung, 16.06.2016
(15) Berliner Zeitung, 10.06.2016
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