Reinhard Schult
Seine Mutter wollte mit ihm in den Westen. Der anvisierte Tag war der 13. August 1961. Der Flug nach Frankfurt/Main war schon gebucht. Reinhard Schult war strikt antikommunistisch eingestellt. Bombenabwürfe auf Vietnam durch die USA fand er in Ordnung. In den 60ziger und 70ziger Jahren änderte er dann seine Einstellung.
Er absolvierte eine Berufsausbildung zum Maurer mit Abitur im Wohnungsbaukombinat Berlin. Maurer im Schlachthof Berlin. Arbeitete als Heizer. Mitglied der Jungen Gemeinde. Er war zunächst nicht in der FDJ. Nahm nicht an der Jugendweihe teil, sondern wurde konfirmiert. Der Weg in die Erweiterte Oberschule war ihn damit verschlossen. Er trat dann in die FDJ ein und drei Schuljahre später wieder aus.
Studierte Theologie am Sprachenkonvikt Berlin. Von 1976-78 Bausoldat.
Reinhard Schult wurde vorgeworfen einen Arbeitskollegen, SED-Mitglied, Kampfgruppenchef, Abgeordneter im Bezirk Berlin-Prenzlauer Berg, bei Fluchtvorbereitung unterstützt zu haben. Außerdem öffentliche Herabwürdigung.
Am 13.08.1979 wird er auf dem Weg zur Arbeit festgenommen. In diesem Zusammenhang erhielt er 1979/80 acht Monate Haft wegen Verbreitung illegaler Literatur. Reinhard Schult war in der DDR ein fleißiger Verbreiter von so genannter illegaler Literatur.
"Es liefen immer bei irgend welchen Anlässen ein paar Leute hinter mir her. Wenn man morgens um 6 Uhr das Fenster aufmachte, guckte man auf die Straße, ob irgend wo ein Auto stand, das nicht mehr wegfuhr". (...) Ich bin vom 6. bis 8. Oktober [1989] rund um die Uhr überwacht worden mit vier Autos", erzählte er später. (1)
Ab 1978 in Friedenskreisen und andere oppositionelle Gruppen tätig. Er gab den "Friedrichsfelder Feuermelder" heraus. Mitglied einer Gruppe, die sich 1980 während der Ereignisse in Polen gegründet hatte und sich u. a. zur Aufgabe machte, Verbindungen zur Solidarność herzustellen, sich selber als revolutionär verstand und aufklärerisch wirken wollte.
Mitunterzeichner der "Initiative für Blockfreiheit in Europa" 1985. Im Juni 1985 unterzeichnete er die "Antwort auf den Prager Appell". Mitverfasser von acht Thesen zur Politikfähigkeit der Friedensbewegung Ende 1985. Mitglied in der Gruppe Gegenstimmen. Mitinitiator des Radiosenders "Schwarzer Kanal" 1986. "Grüner Neokolonialismus" warf er den BRD-Grünen in der Zusammenarbeit mit der Unabhängigen Friedensbewegung der DDR 1986 vor.
Unter der Überschrift "Gewogen und zu leicht befunden - Versuch einer Einschätzung der Januarereignisse - Aufruf zur Diskussion", bezeichnete die nach der Verhaftungswelle 1988 in den Westen Ausgereisten als "schwache Revolutionäre" und ihre Ausreise als "eine politische und moralische Bankrotterklärung". Sie sind als politische Personen in den Knast gegangen und haben ihn als Privatpersonen verlassen, so sein Vorwurf. Was ihm viel Kritik einbrachte. Die Veröffentlichung erfolgte ohne Kenntnis der Redaktion des "Friedrichsfelder Feuermelder".
Das Thema der Blues-Messe am 02.07.1982 lautete: "Gewogen und für leicht befunden".
Gemeinsamkeiten in der politischen Zielsetzung mit "Ausreisern" verneinte er. Mitglied einer Koordinierungsgruppe, die sich nach den Verhaftungen anlässlich der Luxemburg-Liebknecht-Demo 1988 in Berlin bildete.
Veröffentlichte mit Wolfgang Rüddenklau das Vorgehen der Staatsmacht gegen kritische Schüler an der Carl von Ossietzky-Oberschule in Berlin-Pankow 1988. Delegierter der Basisgruppen bei der "Europäischen Versammlung zum konziliaren Prozess" im Mai 1989 in Basel.
Gründungsmitglied des Neuen Forum (NF). Er wurde im Operativen Vorgang "Pazifist" des MfS erfasst.
In einem Interview in der SFB-Sendung "Kontraste" am 12.09.1989 ausgestrahlt, sagte er auf die Frage: "Wenn die Partei- und Staatsführung konzeptionslos ist, was ist den dann mit der Opposition?
Bei der Opposition sieht es bisher nicht viel besser aus."
Mitglied im Arbeitsausschuss und von 1992 bis 1994 im Bundeskoordinationsrats des NF. Auf dem Treffen der Initiativgruppe des Neuen Forum am 03.12.1989 schlug er zusammen mit Klaus Wolfram vor einen Aufruf zur Selbstverwaltung der Betriebe und der Errichtung von Belegschaftsräten zu verfassen.
Mitglied in der Fraktion Aufbruch '89, die sich nach dem Gründungskongress des NF gebildet hat. Sprecher der "linken" Fraktion des NF.
Er wird auf dem 5. Delegiertentreffen des Neuen Forum vom 06.7.-08.07.1990 zu einem, der die Beratungen mit den bundesdeutschen Grünen führt bestimmt.
Mit anderen zusammen besetzte er am 04.09.1990 die Stasi-Zentrale in Berlin um u. a. das damals beabsichtigte "verschwinden lassen" der Akten ins Bundesarchiv zu verhindern. Arbeitete bei der Auflösung der Stasi mit.
Auf dem Treffen der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen in Kassel vom 09.11.-10.11.1990 bezeichnete er die ehemalige DDR-Justizministerin, Hilde Benjamin, als "Freisler der DDR-Justiz". (2)
1991 lehnte er die Gründung von Bündnis 90 ab. Mitglied im Redaktionsbeirat der Zeitung "Die Andere".
Er erklärte sich 1992 bereit, eine Woche Gefängnis anstelle Klaus Wolfram abzusitzen, der wegen der Veröffentlichung der "Stasigehaltsliste" in der Zeitung "die andere" als presserechtlicher Verantwortlicher zu 200 000 DM, ersatzweise 1 000 Tage Gefängnis verurteilt wurde.
Saß im Berliner Abgeordnetenhaus von 1991-1995. Mitglied im Rechtsausschuss. Das Abgeordnetenhaus in Berlin erinnere ihn an einen VEB, meinte er 1995. Im Juni 1991 forderte er u. a. in einem offenen Brief die Selbstauflösung der PDS. Im Interesse der Emanzipation hätte 1989/90 die PDS aufgelöst oder verboten werden sollen, meinte er 1998. 1991 unterstützte er die Bestrebungen nach einem unabhängigen Rundfunksender in Berlin.
Er unterschrieb eine Erklärung zum "Stolpe-Untersuchungsausschuss" in Brandenburg. In ihm heißt es: "Dabei ist für uns jetzt durch die vorliegenden Akten klar: Manfred Stolpe stand nicht auf der Seite der Opposition und in Bedrängnis geratener Menschen, sondern auf der Seite der SED und ihrer Staatssicherheit!"
Und: "Wir fordern einen unabhängigen Ausschuss, der die anstelle einer Aussage vorgelegten Erklärungen und ihrer inhaltlichen Forderungen gerecht wird."
Unterschrieb einen Offener Brief von Mitgliedern des Neuen Forums an Gregor Gysi, indem das "Komitees für Gerechtigkeit" kritisiert und eine Mitarbeit darin abgelehnt wird.
Er kritisierte das Treffen von Bürgerrechtlern mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Das Bürgerbüro, bei dem Helmut Kohl Geburtshelfer war, nannte er ein "Staatsrats-Eingabebüro". Im Streit um die Veröffentlichung der Stasi-Akten von Helmut Kohl wandte er sich dagegen Teile der Akten zu sperren.
Im Dezember 2001 unterzeichnete er einen Aufruf von ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern, in der die Politik der rot-grünen Bundesregierung kritisiert wird. Er unterstützte im März 2000 die Forderung, ein Teil der Danziger Straße (frühere Dimitroffstraße), nach Marinus van der Lubbe zu benennen.
Im März 2020 wurde er von der PDS-Fraktion als Sachverständiger für die Bundestagsanhörung zur Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes nominiert.
Unterschrieb im Mai 2005 die Erklärung "In den trüben Fluten der Ostalgie", in der eine Erklärung des Willy-Brandt-Kreises kritisiert wird.
Er stellte einen Antrag auf Akteneinsicht bei der CIA und NSA nach dem "Freedom of Information Act" und dem "Privacy Act" über ihn gespeicherte Berichte.
Einen Offenen Brief an Sportlerinnen, Sportler, Verbände und Sponsoren zur Teilnahme an den Olympischen Spielen in China unterschrieb er im April 2008. In im heißt es: "Auch weil sich bereits zwei deutsche Diktaturen mit den Leistungen von Sportlern schmückten, ist die öffentliche Debatte zu diesem Thema notwendig und die Teilnahme an den Spielen in Peking eine Gewissensfrage".
Im Dezember 2014 unterschrieb er den Aufruf "Pegida - Nie wieda!".
Er unterzeichnete die Erklärung "Christen brauchen keine Garnisonkirche!".
Er war stellvertretender Bürgermeister in Fredersdorf (Brandenburg). Dort betrieb er auch eine Kneipe. Er lebt jetzt in der Nähe von Bernau.
Im Mai 2000 "Nationalpreis" der Deutschen Nationalstiftung. Am 06.10.2014 erhielt er das Verdienstkreuz am Bande aus den Händen von Joachim Gauck.
Reinhard Schult war Mitglied im Bundesvorstand und im Länderrat des Neuen Forum. Kaum ein anderer hielt dem Neuen Forum so lange die Treue wie Reinhard Schult.
In einem Interview im November 1990 sagte er: "Die Entwicklung hat uns, wie alle anderen, einfach überrannt. Es konnte sich zu diesem Zeitpunkt [Gründung Neues Forum] ja niemand vorstellen, wie hohl dieser Staat tatsächlich war. Wir hatten die Situation total falsch eingeschätzt. Wir waren davon ausgegangen, dass die Partei die Karre in den Dreck gefahren hat und nun gefälligst ihren Beitrag dazu leisten sollte, sie wieder herauszuholen. Uns war aber nicht richtig klar, dass bei der Verflechtung zwischen Partei und Staat, mit der Partei auch der Staat zerfällt und dass in diesem Vakuum die Partei- und Staatsbürokratie nur noch ihr eigenes Schäfchen ins Trockene zu bringen versucht."
Wir haben uns zu sehr um die Diskussion mit der Partei bemüht, anstatt selbst zu handeln. (3)
Der am 23.09.1951 in Berlin geborene Reinhard Schult verstarb am 26.09.2021.
In der Berliner Zionskirche wurde am 29.10.2021 eine Trauerfeier für ihn abgehalten.
(1) Reinhard Schult in Martin Gutzeit, Helge Heidemayer, Bettina Tüffers, (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen politischen Gruppen 1989/90, Berlin 2011, S. 72
(2) die andere, Nr. 48, 28.11.1990
(3) die andere, Nr. 43, 14.11.1990, Beilage