Steffen Reiche
war FDJ-Sekretär. Er verweigerte den Wehrdienst. Lernte Tischler und studierte evangelische Theologie im Sprachenkonvikt in Berlin. Pfarrer in Christinendorf (Brandenburg) 1988-1990. Seit August 2012 ist Steffen Reiche Pfarrer in Berlin-Nikolassee.
Auf seinen Westreisen verstärkte sich bei ihm die Meinung, in der DDR müsse sich etwas verändern. Bei einem Besuch in der BRD versuchte er im Januar 1989 Kontakt zur SPD aufzunehmen, um dort einen Ansprechpartner zu haben, es wurde ihm aber keiner genannt.
Im August 1989 verfasste er einen Aufsatz über die "Notwendigkeit und Möglichkeit sozialdemokratischer Politik in der DDR". Nach einem Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit bezeichnete er auf einer Veranstaltung am 15.09.1989 in Potsdam die Sozialdemokratie als die einzige Alternative für die weitere Entwicklung in der DDR. (1)
Mitglied in der Initiativgruppe zur Bildung einer Sozialdemokratischen Partei. Mitglied des Parteivorstandes und Pressesprecher der SDP. Eine Woche nach der Gründung der SDP sprach er während eines Verwandtenbesuchs mit verschiedenen SPD-Größen in der BRD. Neben dem "Du" von Hans-Jochen Vogel bot ihm eine Sekretärin auch noch zwei Anzüge ihres Mannes an. Er wollte auch beim damaligen Bundeskanzler Kohl (CDU) vorbeischauen, von dem aber seine SDP-Genossen abrieten. Damit stimmte sie wohl mit Helmut Kohl überein, dem eine Aufwertung der SPD nie in den Sinn gekommen wäre.
Er war Gast in der ARD beim "Internationalen Frühschoppen". Diskussionsteilnehmer in einem "Brennpunkt" der ARD anlässlich des Rücktritts Erich Honeckers am 18.10.1989. Während seines einwöchigen Westaufenthaltes wurde er auf der Sicherheitskonferenz in Frankfurt/M. einer DDR-Delegation, mit Oskar Fischer an der Spitze, als SDP-Vertreter vorgestellt.
Auf der Beratung des SPD-Parteivorstandes über die Kontakte zur SDP, sagte Norbert Gansel, Steffen Reiche habe zum Ausdruck gebracht, dass er eine Fortsetzung der Kontakte zwischen SPD und SED wünsche. Er bat besonders die Themen Menschenrechte und Polizeiübergriffe anzusprechen. Er habe den Wunsch geäußert, dass beide deutschen Staaten ein Verhältnis entwickeln könnten, in dem das Reden über eine Wiedervereinigung ausgeschlossen und Helsinki verwirklicht werde. (2)
Nachdem er von der Grenzöffnung am 09.11. hörte, fuhr er nach Berlin und passierte die Grenze in Richtung Berlin-Wedding. Am Abend des nächsten Tages war der Zuschauer der Kundgebung vor den Rathaus in Berlin-Schöneberg.
Pressesprecher ab Dezember 1989. Vertreter der SDP am Runden Tisch in Potsdam. Aus zeitlichen Gründen aber nur kurz.
Für den Wahlkampf zur Volkskammerwahl plante er für die Monate April und Mai acht Auftritte der Kölner Rockgruppe "BAB". (3) Was durch das Vorziehen der Volkskammerwahl auf den 18.03.1990 aber hinfällig wurde.
Abgeordneter in der Volkskammer. Mitglied im Ausschuss für Abrüstung und Verteidigung.
In einem Interview im Dezember 1989 plädiert er für konföderative Strukturen, einer Vertragsgemeinschaft mit einem Sozial- und gemeinsamen Produktionsraumes, zwischen den beiden deutschen Staaten. (4) Im Oktober 1990 nannte er die SDP-Gründung "die Axt an der Wurzel des Regimes" und behauptete erst in Schwante sei die "Bürgerbewegung mündig geworden". (5)
Am 26.05.1990 wurde er zum SPD-Landesvorsitzenden in Brandenburg gewählt. Dessen Amt er bis 2000 bekleidete. Er schlug Manfred Stolpe als Ministerpräsidentenkandidat für die Landtagswahl am 14.10.1990 vor.
Er versuchte vergeblich Lothar Bisky von der PDS für die SPD zu gewinnen.
In Brandenburg sollte er Minister für Bildung, Jugend und Sport werden. Wurde dann aber von 1990 bis 2000 SPD-Landesvorsitzender in Brandenburg. Zunächst Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur. Während dieser Zeit, 1993, wurde er Mitglied in der IG Bergbau und Energie. Heute Bergbau, Chemie, Energie.
Oktober 1999 bis Oktober 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg. Danach Europapolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. Als Landtagsabgeordneter war er Mitglied im Verfassungsausschuss, der eine Verfassung für das Land ausarbeitete.
Mitglied des Deutschen Bundestages Oktober 2005 bis September 2009. Durch den Verlust des Bundestagsmandates musste er auch den Platz als stellvertretendes Mitglied des Stiftungsrates der "Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung" räumen.
Mitglied der Projektgruppe "SPD 2000". In der Ost-SPD lerne die West-SPD ihre Zukunft kennen. Die Parteien verlieren ihre Bindung. Die West-SPD wird sich gegen ihren Willen vom Status einer Massenpartei verabschieden müssen. Die Ost-SPD ist schon jetzt eine Partei neuen Typs. (6)
Ein Jahr vor der Änderung des Asylrechtparagraf 16 Abs. 2 des Grundgesetzes meinte er, dies sei mit der SPD nicht zu machen. In der Debatte 1992 um die MfS-Kontakte von Ministerpräsidenten Stolpe stützte er seinen Chef. Sprach sich im Juni 1999 für die Einführung von "Kopfnoten" an Schulen aus. Ich musste früher weit nach links gucken, um Platzeck zu sehen. Heute muss ich weit nach rechts sehen, meinte er 2005. (7)
Im Dezember 2005 wurde er zum Vorsitzenden des Brandenburger Leichtathletikverbandes gewählt. Im Frühjahr 2010 machte er sich nochmals für eine Länderfusion von Berlin und Brandenburg stark. Ab Oktober 2010 vertretungsweise Pfarrer in Berlin-Köpenick. Pfarrer der Epiphaniengemeinde in Berlin-Charlottenburg und der evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Nikolassee.
Redner auf dem Potsdamer Ostermarsch April 2011.
In einem Interview sagte er am 26.03.2016: "Wer das Existenzrecht von Israel nicht anerkennt, der hat kein Existenzrecht hier in Deutschland. Wer die Gleichberechtigung von Frauen nicht anerkannt, der hat keine Zukunft hier in Deutschland. Wer die Rechte von Schwulen oder eben von Christen nicht anerkennt, der wird hier in Deutschland nicht auf Dauer leben können."
"Der Islam darf nicht diskriminiert werden, und Moslems haben die gleichen Rechte wie wir Christen. Aber das muss dann eben auch für die Christen in den Asylbewerberheimen gelten. Und deshalb - nicht Abgrenzung, sondern Klarheit im Recht und Klarheit bei unseren Werten."
"Und wir müssen gemeinsam durchsetzen, dass das, was die vielen Moslems aus der Türkei, aus dem Irak, aus Afghanistan hier erleben, auch in ihren Herkunftsländern gegenüber den Christen praktiziert wird. Es kann und darf nicht sein, dass Muslime hier Moscheen bauen, und dort, wo Christen 600 Jahre vor den Muslimen gewohnt haben, in den letzten tausend Jahren keine neuen Kirchen gebaut werden durften beziehungsweise bestehende zerstört werden." (8)
In der Zeitung "Die Welt" schrieb er am 27.02.2019: "Wie anders heute Bundespräsident Steinmeier. Er gratulierte zum Feiertag des Iran am 40. Jahrestag der Revolution den schiitischen Ajatollahs. Und das im Namen seiner Landsleute. Ich habe ihm sofort mitgeteilt, wie Ahmed Mansour und andere: 'Nicht in meinem Namen'." Und: "40 Jahre religiöse Diktatur – wie kann da ein reformierter Christ wie Steinmeier gratulieren?" Und: "Zum ersten Mal schäme ich mich für den ersten Mann meines Staates. Der Evangelische Kirchentag sollte ihn nicht einladen. Und wenn er kommt, sollten wir alle ihm Plakate entgegenhalten: Nicht in meinem Namen."
Er unterschrieb die Offene Erklärung vom 18.08.2019 "Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf", durch die AfD.
In einem Interview meinte er später, man hätte im Herbst 1989 leidenschaftlicher neue politische politische Positionen vertreten müssen. Dann hätte es vielleicht auch Möglichkeiten gegeben, dass die SPD damals die Regierungsbildung übernimmt. Mit einer SPD-Mehrheit in der Volkskammer hätte es einen anderen Einigungsvertrag gegeben. (9)
Steffen Reiche lotste sowohl Manfred Stolpe als auch Matthias Platzeck in die SPD.
Lothar Bisky und Michael Schumann von der PDS in Brandenburg bat er in die SPD einzutreten. Was beide aber ablehnten.
"Die Nichtexistenz der SPD war die Voraussetzung der DDR", meinte er später. (10)
Auf dem 33. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Sachsen 8. und 9. September 2022 sagte er: "Das Skurrile ist doch, dass sich 1990 diejenigen, die sich heute auf irgendeine ostdeutsche Identität berufen, klar dagegen entschieden haben, indem sie sagten, wir treten der Bundesrepublik nicht als Ostdeutschland bei – diese Chance gab es 1990 –, sondern als Brandenburger, Sachsen, Mecklenburger, Thüringer usw.
Das ist die Identität, für die man sich damals – ich referiere nur – entschieden hat. Es gehört zu dieser Zumutung rationalen Denkens, nicht immer den Bezugsrahmen nach Belieben zu ändern. Man hat sich damals so entschieden, ist heute Sachse oder Sächsin, Brandenburger_in, Thüringer_in. Für mich ist ostdeutsch auch so eine Schmuddelidentität mittlerweile – nicht nur wegen des Rechtsextremismus, sondern es hat auch immer so etwas Wehklagendes. Ich würde mich nie, an keinem Ort der Welt als Ostdeutscher vorstellen, weil das immer so eine Mitleidsattitüde hervorruft und auch provozieren will."
Für ihn ist die Reformation die wichtigste Revolution die es in Deutschland je gab. (11)
Er war Mitglied in zahlreichen Vereinen und Stiftungen. 2008 wurde er Präsident des Jugendherbergswerkes Berlin-Brandenburg.
Er nahm ein Hörbuch auf. Er inszenierte im März 1994 das Einpersonenstück "Tie-Break für Crazy Horse" am Stadttheater Brandenburg. Schon während der EOS inszenierte er Stück und gewann in einem Wettbewerb.
Trotz Verbots durch die Kirchenleitung trat er auf Jugendfeiern auf. Die Aberkennung der Rechte der Ordination für ihn stand deshalb im Raum.
Mitgründer der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Potsdam. Deren Vorsitzender er wurde.
In den "Brennpunktgesprächen" organisiert er eine Vortrags- und Diskussionsreihe zum christlich-muslimischen Dialog. Als Zeichen der Solidarität mit verfolgten Christen trägt er eine Button mit dem arabischen Buchstaben ن
(1) Ministerium für Staatssicherheit Bezirksverwaltung Potsdam Nr. 58/89
(2) Sitzung des SPD-Parteivorstandes am 30.10.1989
(3) Daniel Friedrich Sturm: Uneinig in der Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, 2006, S. 305
(4) Leipziger Volkszeitung 23./24.12.1989
(5) die tageszeitung 09.10.1990
(6) SDP 2000 - die tapfere Illusion
(7) Berliner Morgenpost 14.04.2005
(8) Deutschlandradio Kultur 26.03.2016
(9) Für unser Land, Eine Aufrufaktion im letzten Jahr der DDR
(10) Nichts muss bleiben wie es ist, Gedanken zur Gründung der Ost-SPD
(11) Berliner Zeitung, 30./31.10.2010