Marianne Birthler
lernte Verkäuferin der Fachrichtung "Foto, Optik, Uhren, Schmuck". Sie wollte Germanistik oder Mathematik studieren. Von 1967-71 Exportbearbeiterin bei der Deutschen Kamera- und ORWO-Film Export GmbH. Gleichzeitig Fernstudium an der Fachschule für Außenhandel. Abschluss Außenhandelswirtschaftler. 1976-81 Ausbildung zur Katechetin und Gemeindehelferin in Schwedt. 1983-87 Katechetin in Berlin. 1987-90 Jugendreferentin im Stadtjugendpfarramt in Berlin.
Sie durfte vom Elternhaus aus zunächst nicht zu den Jungen Pionieren. Worunter sie litt, da sie wie die anderen Kinder seinen wollte. Durfte dann zu den Jungen Pionieren. Mit 16 trat sie aus der FDJ aus und sechs Jahre später wieder ein, da sie die Einzige war, die auf ihrer Arbeitsstelle nach der Gründung eines Jugendkollektivs nicht in der FDJ war. Ein Jahr nach der Jugendweihe wurde sie Konfirmiert. War Mitglied der Jungen Gemeinde. Das MfS eröffnete gegen sie 1977 eine Operative Personenkontrolle (OPK) mit dem Namen "Küsterin". 1989 eine weitere OPK mit dem Namen "Solidarität". Im Mai 1980 nahm sie an einem ökumenischen Seminar in den Niederlanden teil.
1986 Gründungsmitglied des Arbeitskreises "Solidarische Kirche". Ab 1987 Kontakte zur IFM. Mitarbeit seit 1988. Als Teilnehmerin an der Mahnwache, die sich nach dem Stasiüberfall auf die Umweltbibliothek am 25.11.1987 bildete, wurde sie festgenommen. Mitinitiatorin des Berliner Kontakttelefons an der Gethsemanekirche. Sie beantragte die Einrichtung eines Kontakttelefons bei der Gethsemanekirchengemeinde in Berlin, welche ab Februar 1989 erreichbar war.
Eine Erklärung vom 15.04.1989 unterschrieb sie, in der begründet wird, warum sie an der Kommunalwahl am 07.05.1989 nicht teilnehmen werde. Von geheimer und freier Wahlen kann nicht die Rede sein. Eigene Kandidaten konnten nicht aufgestellt werden, wird neben anderem als Begründung angeführt.
Sie nahm am 06.12.1989 am Empfang des Dalai Lama in Berlin teil.
Vertreterin der IFM am Zentralen Runden Tisch und des Berliner Runden Tisches. In ihrem Büro wurde der Gründungsaufruf der SDP vervielfältigt, so dass alle vier Unterzeichner ein Exemplar hatten. Mitglied in der Koordinierungsgruppe. Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Grüne in der Volkskammer. Nach der Volkskammerwahl sagte sie: "Jetzt ist Kohl unser Chef". (1)
Sie war im Ausschuss für Jugend und Soziales in der Volkskammer und Fraktionssprecherin. Sie kritisierte, dass durch die Übernahme des BRD-Familienrechts das "Kranzgeld" in der DDR wieder eingeführt wurde. (2) Sie stimmte am 23.08.1990 gegen den Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Die Zeit in der Volkskammer nannte sie später eine erfüllter und glücklicher Lebensabschnitt. (3)
Erstunterzeichnerin beim "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder", Juni 1990.
Abgeordnete im Deutschen Bundestag 1990 nach dem Ende der DDR bis zu den gesamtdeutschen Wahlen im Dezember. 1990 erwog sie auf der SPD-Liste zum gesamtdeutschen Parlament zu kandidieren weil sie so gesichert sah, dass Bündnis90-Mitglieder in den Bundestag einziehen. Gregor Gysi von der PDS bot ihr einen aussichtsreichen Listenplatz an.
Ab 1991 Mitglied in der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Ab Oktober 1990 Abgeordnete im Brandenburger Landtag für Bündnis 90. Legte ihr Landtagsmandat erst im Sommer 1992 nieder, obwohl sie schon Ende 1990 Ministerin geworden war. Ministerin für Bildung, Jugend und Sport. Rücktritt im Oktober 1992 wegen der Stasi-Kontakte des Ministerpräsidenten Stolpe. Auf Drängen von Stolpe hatte sie ihm als Kabinettsmitglied zuvor zugesagt, ihn nicht mehr öffentlich zu kritisieren. Woran sie sich aber nicht mehr halten mochte. Damals meinte sie die Kirche habe in der DDR dazu beigetragen "Ruhe im Land" zu halten. (4)
Mitglied in der Verhandlungskommission die den Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen aushandelte. Mai 1993 bis Dezember 1994 Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen. Spitzenkandidatin der Brandenburger Bündnisgrünen für die Bundestagswahl 1994. Ab Januar 1995 Leitung des Berliner Büros der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mitunterzeichnerin eines Offenen Briefes am 18.12.1996 an Vera Lengsfeld nach dessen Übertritt zur CDU, worin diese gefragt wird, "Hast Du alles vergessen, Vera?". (5)
Kandidatin für die Wahl des Berliner Abgeordnetenhaus 1995. Im Sommer 1998 verpasste sie die Wahl in den Deutschen Bundestag. Ab Sommer 1999 Referentin für Personalentwicklung und Weiterbildung in der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Zuvor hatte sie eine Weiterbildung zur Organisationsberaterin absolviert.
2003 brachte sie gegenüber dem Berliner Senat eine Ehrenbürgerschaft für Wolf Biermann ins Gespräch. Vor der Wahl zum Deutschen Bundestag im September 2005 meinte sie, mit der Wahl der Linkspartei werde wieder eine nennenswerte Zahl von MfS-Mitarbeitern in den Bundestag einziehen. (6) Im Mai 2007 kritisierte sie das Nehmen von Geruchsproben oppositioneller durch die bundesdeutsche Polizei. (7)
Von Oktober 2000 bis März 2011 Bundesbeauftragte für die Aufarbeitung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik. Damals kurz Birthler-Behörde genannt. Den Namen sie selber nicht mag. Zunächst lehnte sie den Posten ab. Ließ sich dann aber überreden sich zur Wahl zu stellen. Seit dieser Zeit ruht ihre Mitgliedschaft bei Bündnis 90/Die Grünen.
Zu Beginn ihrer ersten Amtszeit wurden ihr untersagt, Stasiunterlagen über Helmut Kohl herauszugeben. Zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit 2006 kündigte sie an, dass alle intakten Akten bis zu ihrer Verabschiedung 2011 zugänglich seinen. Ein Versprechen, dass nicht eingehalten wurde.
Nach Rücksprache mit dem Bundesinnenministerium, sperrte ihre Behörde im November 2000, Akten, die über die NS-Vergangenheit früherer Westdeutscher Geheimdienstmitarbeiter und Polizeibeamte Auskunft geben sollten. Im Mai 2007 untersagte sie auf öffentlichen Druck hin einem Mitarbeiter ihrer Behörde ein Referat auf einer wissenschaftlichen Tagung zur Hauptverwaltung Aufklärung der Stasi zu halten.
2007 gab sie Stasi-Opferakten von Redakteuren des "telegraf" heraus, mit deren Hilfe das BKA ein Personenprofil erstellte. Im Juni 2008 warf sie Gregor Gysi vor, wissentlich und willentlich an die Stasi berichtet zu haben.
Sie war während ihrer Zeit als Behördenleiterin von verschieden Seiten Kritik ausgesetzt. Manch Zeitgenosse vermutete als Motiv, manch Historiker wolle von dem 100 Millionen Etat der Behörde ein Stück abbekommen.
Es entstehe der Eindruck die ganze Behörde sei heute "Stasi versetzt", meinte sie im Juni 2011 zu den Bemühungen ihres Nachfolgers Roland Jahn ehemalige Stasimitarbeiter aus der Behörde zu entfernen. (8)
Einen Offenen Brief an Sportlerinnen, Sportler, Verbände und Sponsoren zur Teilnahme an den Olympischen Spielen in China unterschrieb sie im April 2008. In im heißt es: "Auch weil sich bereits zwei deutsche Diktaturen mit den Leistungen von Sportlern schmückten, ist die öffentliche Debatte zu diesem Thema notwendig und die Teilnahme an den Spielen in Peking eine Gewissensfrage". Im Februar 2014 unterschrieb sie einen Offenen Brief der Ermutigung von Wolf Biermann an Vitali Klitschko.
Von der CDU wurde sie im November 2016 für die Wahl als Bundespräsidentin im Februar 2017 ins Auge gefasst. Sie sagte aber ab. Sie unterschrieb den Aufruf, "Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!", für eine Kundgebung am 07.12.2016 vor der russischen Botschaft in Berlin.
Sie war an der Gestaltung des deutschen Pavillon für die Architekturbiennale in Venedig, 26.05.-25.11.2018, beteiligt.
Sie unterschrieb einen Offenen Brief vom 28.06.2019, indem gegen den geplanten Auftritt von Gregor Gysi am 09.10.2019 in der Peterskirche in Leipzig protestiert wird.
Erstunterzeichnerin der Offene Erklärung vom 18.08.2019 "Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf", durch die AfD.
Eine Grußadresse an die Demonstranten in Belarus unterschrieb sie im September 2020.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 unterschrieb sie die Erklärung "Hisst die ukrainische Flagge überall!"
Anfang Mai 2022 unterschrieb sie einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz "Die Sache der Ukraine ist auch unsere Sache!".
Sie unterschrieb einen offen Brief vom 03.06.2022, indem die Evangelischen Kirche aufgefordert wird zu prüft, wie die Mitgliedschaft der Russisch Orthodoxen Kirche im ÖRK ausgesetzt werden kann. Der Stimme der Leidenden in der Ukraine soll klaren Vorrang einräumen werden.
Im August 2024 unterschrieb sie einen Brief, worin Sahra Wagenknecht und der von ihr geführten Partei, die Verbreitung von Unwahrheiten über den Ukrainekrieg und Lügen vorgeworfen wird. "Demokratische Parteien – wir denken hier insbesondere an die CDU – sollten sich genau überlegen, ob sie nach den Landtagswahlen [September 2024] mit derartigen Lügnerinnen und Lügnern koalieren oder sich von ihnen tolerieren lassen", heißt es in dem Brief.
Die Maueröffnung am 09.11.1989 hielt sie zunächst für eine "Bosheit der DDR-Führung", um von den Pogromen am 09.11.1938 abzulenken. (9) In ihrer Erinnerung meinte sie: "Wir sahen in der Bibel ein politisches Buch mit einer Vision von einer gerechteren Welt, die den Namen Sozialismus wirklich verdient". (10)
In ihren Erinnerungen meinte sie: "Viele aus den Oppositionsgruppen hatten gegenüber den sogenannten Ausreisern Vorbehalte: Die Erfahrung der letzten Monate hatte gezeigt, dass denen, die sich öffentlich an politischen Aktionen beteiligten, oft binnen weniger Tage die Ausreise erlaubt wurde. Oder sie wurden verhaftet und nach kurzer Zeit in den Westen abgeschoben. Kein Wunder, dass sich bald viele Ausreisewillige an Mahnwachen und Veranstaltungen der Opposition beteiligten und dort irgendwie aufzufallen versuchten. Dies stand natürlich im Gegensatz zum Anliegen der Bürgerbewegung, deren Akteure in der DDR bleiben und sich für die Veränderung der Verhältnisse engagieren wollten. Es kam zwangsläufig zu großen Spannungen. Wir, die Oppositionsgruppen, waren wütend darüber, dass unsere Aktionen für andere Zwecke benutzt wurden." (11)
"Meine große Enttäuschung im Land der Meinungsfreiheit war, wie viel Duckmäuser ich auch im Westen entdeckt habe", sagte sie in einem Gespräch. (12)
Als Mitglied einer Bürgerinitiative setzte sie sich für die Kenntlichmachung eines früheren NKWD-Lagers in Berlin-Prenzlauer Berg ein.
Seit dem 29.01.2019 Mitglied in der Findungskommission für den Chefposten der Stasiopfer-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen.
Leiterin der Jury zur Verleihung des Karl-Wilhelm-Fricke-Preises.
Ein Lieblingssatz von ihr lautet: "Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden".
Sie gehörte zur DDR-Zeit dem Berliner Redaktionskreis der Berlin-Brandenburgischen Wochenzeitung "Die Kirche" an. Sitzt im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages, im Stiftungsrat und im Förderbeirat der Stiftung Mitarbeit der Grünen Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung. Deren Gründungsmitglied sie war. Mitglied des Deutschen UNICEF-Komitees. Stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der Friede-Springer-Stiftung. Mitglied im Stiftungsrat der Körber-Stiftung. Vorsitzende des Beirats der Evangelischen Akademie zu Berlin. Beiratsmitglied des Zentrum Liberale Moderne.
In ihrer Zeit als Buchhändlerin wurde sie vom Volksbuchhandel für vorbildliche gesellschaftliche Tätigkeit bei der Literaturverbreitung ausgezeichnet. Bundesverdienstkreuz 9. Oktober 1995. Großes Verdienstkreuz mit Stern März 2011. Verdienstorden des Landes Berlin Oktober 2011.
(1) die tageszeitung, 19.03.1990
(2) Ruth Fuchs: Gott schütze unser deutsches Vaterland, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 38
(3) Marianne Birthler: Halbes Land, Ganzes Land, Ganzes Leben, Erinnerungen, Hanser Verlag Berlin 2014, S. 207
(4) Poppe/Eckert/Kowalczuk: Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Ch. Links-Verlag 1995, S. 394
(5) Marcus Böick, Anja Hertel, Franziska Kuschel (Hrsg.): Aus einem Land vor unserer Zeit, Eine Lesereise durch die DDR-Geschichte, Metropol-Verlag 2012, S. 236f
(6) Süddeutsche Zeitung, 10./11.09.2005
(7) Berliner Zeitung, 24.05.2007
(8) Berliner Zeitung, 04./05.06.2011
(9) Der Tagesspiegel, 10.11.1994
(10) Marianne Birthler in Der Arbeitskreis Solidarische Kirche in der DDR, Herausgegeben von Joachim Goertz, zitiert in Geisel, Christof: Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren, Ch. Links Verlag 2005, S. 61
(11) Marianne Birthler, Erinnerungen a.a.O. S. 132
(12) Der Tagesspiegel, 14.05.2023