Die Sturm- und Drangzeit ist vorbei

Jens Reich, Professor für Molekularbiologie und Gründungsmitglied des Neuen Forums, legte bei dessen Kongress den Rechenschaftsbericht vor

DOKUMENTATION

Liebe Delegierte!

Heute ist der 27. Januar. Das Neue Forum wird heute aus dem Kindheitsstadium entlassen. Die Gründungskonferenz ist so etwas Ähnliches wie Jugendweihe oder Konfirmation. Ab heute wird es ernst. Wir sind erwachsen.

Es begann mit dem Aufruf der dreißig Erstunterzeichner, unter dem Titel "Aufbruch 89 - Neues Forum" am 10. September 1989 verfasst und am darauf folgenden Tag veröffentlicht. Es war der Vorabend des großen Exodus aus Ungarn - wir erinnern uns, damals in grauer Vorzeit, vor vier Monaten.

Dann folgte am 19.9. die Anmeldung in allen Bezirken und für die ganze DDR. Am 21.9. kam über 'adn' die Reaktion des MdI: verfassungs- und staatsfeindliche Organisation mit illegaler Unterschriftensammlung. Am 26. wurden die Einreicher vorgeladen, die Annahme des Schreibens mit steinernen Pokergesichtern verweigert und die Gründung einer Vereinigung wegen fehlenden gesellschaftlichen Bedarfs untersagt.

Was dann folgte, war echte Selbstorganisation. Wie Kristalle in einer übersättigten Lösung bildeten sich überall in der DDR Gruppen, die das Anliegen des Erstaufrufs unterstützten. Die Erstunterzeichner wurden mit Briefen, Fragen und Anrufen bestürmt und konnten noch nichts anderes sagen als: Schließt euch zusammen wie auch wir, niemand hat das Rezept, wir alle sind das Volk, wir müssen aus dem Schlamm heraus. Zuerst aus dem Lügenbrei (das konnte man Glasnost nennen), und dann kommt die eigentlich harte Aufgabe (die Perestroika).

Erinnert sei an die erste Konferenz vom 14.10., noch unter konspirativen Bedingungen in der "Kirche von Unten". Dann folgte die zweite Konferenz, die turbulente, vom 11.11., elf Uhr, in Schönweide, wo der vorläufige Sprecherrat gewählt wurde, der heute abtritt. Er trat am 2.12. zusammen und bildete einen Arbeitsausschuss, der die alte Initiativgruppe ablöste. Seitdem trifft sich der Landessprecherrat wöchentlich und der Arbeitsausschuss mehrmals wöchentlich. Am 6.1. gab es die erste Landesdelegiertenkonferenz, die die heutige Gründung vorbereitete (...)

Die romantische Phase, die wilde, die Sturm- und Drangzeit unserer Revolution ist vorbei. Sie ist durch den begeisterten Aufbruch gekennzeichnet, durch die Leipziger Demonstrationen, durch "Wir sind das Volk!" und "Wir bleiben hier!", durch die wunderbar phantasievolle Demonstration vom 4. November in Berlin. Sie endet mit dem 9. November, dem Tag, an dem das Volk die Eierschale sprengte und gänzlich unvorbereitet ins Freie drängte. Nach dem ersten wahnsinnigen Karneval der entfesselten Freude kam der Alltag, und der herrscht bis heute. Wir hatten den runden Tisch, die Auflösung der Stasi, den Sturz des Politbüros und des ZK, die Privilegienaffären, den Gründungsparteitag der SED-PDS und manches andere.

Wir haben eine Bürgerbewegung spontan gebildet, die landesweit wirksam geworden ist. Wir haben dazu Strukturen geschaffen und wichtige inhaltliche Aussagen getroffen. Wir haben zu viel über Formalien (Parteigründung oder nicht) geredet und zu wenig über Inhalte. Die Vernetzung zwischen den Basisgruppen, den Regionalgruppen und den inhaltlich arbeitenden Gruppen ist ungenügend - das ist ein Informationsdefizit, das auch durch technische Beschränkungen mitbedingt ist, Büros, Telefon, Schreibmaschinen, Schreibkräfte, Organisation. (...)

Es muss mehr Information fließen, Kommunikation stattfinden, und das in organisierter Form. Im Improvisieren waren wir gut, wir hatten gute Einfälle, das soll auch so bleiben, wir waren gute Amateure, aber jetzt müssen wir Profis der Organisation werden, wir brauchen auch mehr Disziplin. Obwohl uns die Wörter "Disziplin" und "Organisation" zu Recht zuwider sind - es hilft nichts, es muss sein! (...)

Wir müssen in die Arena, in den Wahlkampf. Aber es muss ein Wahlkampf sein, in dem unsere Argumente die besseren sein müssen; es darf auch Action und Happening dabei sein, aber bitte nicht zu viel Firlefanz, Plakate, Maskottchen und Werbespots (...)

Wir halten es für wichtig, dass die neue Gesellschaft und die neue Öffentlichkeit von unten aufgebaut werden, nicht nur durch Verordnungen, Gesetze und Verfassungen von oben!

Wir wollen Menschen in der Politik haben, nicht Funktionsträger, auch wenn das manchmal zu Reibereien und Pannen führt.

Wir wollen direkte Politik, nicht komitee- und bürovermittelte Politik kommt von Polis, das betont den Wohnort und seine Autonomie.

Wir wollen Demokratie, durch den öffentlichen Meinungsaustausch vermittelt, daher Neues Forum. Forum heißt Marktplatz, direkte Öffentlichkeit. Da kann jeder Bürger die Toga anziehen und hingehen, nicht nur der Funktionär.

Wir wollen den Durchgriff der Bürgerbasis in die politische Entscheidung. Auch wenn es dabei zu Überraschungen kommt. Wir glauben an die Vernunft des Volkes. (...)

Wir wollen Autonomie der Minderheit. Sie soll leben können und soll eine Sperrmöglichkeit haben, wenn sie einiges Gewicht hat.

Wir wollen das politische Argument, keine vorgefertigten Stanzen. Nicht jede Frage muss sofort eine aus der Pistole geschossene Antwort haben, auch ein Politiker darf einmal Zweifel haben!

Wir wollen nicht das 20. Jahrhundert politisch nachholen, nicht die Landschaft der Bundesrepublik abmalen, sondern die politische Kultur des 21. Jahrhunderts entwickeln. Die Unterscheidung in rechts-links-grün ist nicht die einzige Möglichkeit, sich voneinander abzusetzen; sie trifft für unsere Gesellschaft nicht zu.

Wir wollen Politik ideologiefrei debattieren, nach all unseren üblen Erfahrungen mit alles ergreifenden Ideologien, wir brauchen nicht die ewigen Kratzfüße vor Sprechblasen wie demokratisch, sozial, marktwirtschaftlich, freiheitlich, stabil, ökologisch, effizient - und wie sie alle heißen. Gegenpositionen dazu sind nicht möglich: undemokratisch? asozial? gegen die Freiheit? instabil? naturfeindlich? ineffizient? Positionen ohne mögliche Gegenpositionen - das sind doch nur Selbstverständlichkeiten, keine politischen Bekenntnisse. (...)

Immer noch verlassen täglich Tausende das Land. Wir konnten es im September nicht ertragen und haben die Stimme erhoben. Wir sollten es auch jetzt nicht verdrängen. Unser Land gleicht einem Kranken, dessen Magengeschwür blutet. Er hat Blut erbrochen, es ist klar, dass die Blutung nicht steht. Noch geht er aufrecht, kann fragen und antworten, umherlaufen, noch kompensiert sein Kreislauf den Blutverlust und mobilisiert die Reserven. Wenn der Kollaps kommt, dann kommt er plötzlich, und dann ist der Patient im Schock, und es wird zur Rettung zu spät sein. Das Neue Forum hat seine Aufgabe noch nicht erfüllt: Wir müssen die neue Demokratie mit aufbauen, die Wirtschaft mit reformieren. Erst wenn das erreicht ist, und das kann sehr schwer werden, erst dann können wir es uns leisten, im Lehnstuhl die Zeit zu genießen.

(leicht gekürzt)

aus: taz Nr. 3019 vom 29.01.1990

Δ nach oben