Basis kontra Fraktion
Bürgerbewegungen sollen auf allen Ebenen wirken
Bürgerbewegungen sind nicht nur ein neues Element im politischen Leben, sie sind das Element des politischen Lebens der Zukunft. Nur in den Bürgerbewegungen entsteht, was allein die dringend benötigte soziale und Ökologische Trendwende herbeiführen kann: die direkte Beteiligung des einzelnen an den öffentlichen Angelegenheiten.
Damit sie ihren Aufgaben gerecht werden, ist für diese Bewegungen dreierlei notwendig; erstens, dass sie sich nicht zersplittern, zweitens, dass sie auf allen Ebenen der Gesellschaft wirksam werden, drittens, dass sie sich nicht in eine Bürgerbewegungsideologie drängen lassen.
Klaus Wolframs Artikel (Podium-Seite vom 25. 7. 90) ist aber eine Aufforderung, in allem das Gegenteil zu tun. Obwohl ihm gut bekannt sein dürfte, dass die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegung in der DDR gemeinsam entstanden ist, sich in dem knappen Jahrzehnt vor der Wende untrennbar voneinander entwickelt hat und erst durch die Herbstereignisse - sehr zu Ihrem Nachteil - zeitweilig voneinander getrennt worden ist. plädiert Wolfram für eine Art "reines Forum", das "nicht die verwickeltsten Bündnisse eingehen" soll.
Wie man sich früher auf den Standpunkt der Arbeiterklasse stellen sollte, soll man sich heute auf den Standpunkt des "Neuen Forums" stellen. Wie früher die SED den Anspruch erhob, die Alleinvertreterin der Interessen der Arbeiterklasse und damit des ganzen Volkes zu sein, so ist laut Wolfram heute allein im "Forum" Platz für Zusammenarbeit an der Basis. Und im alten "dialektischen" Stil wird für die Basis noch ein Überbau - die Parlamentsfraktion - gefunden und flugs eine neue Grundfrage konstruiert. Die Frage der Selbständigkeit der Fraktion wird zur Grundfrage der Bürgerbewegungen erhoben, an der künftig alle Fragen entschieden und an der sich die Geister scheiden sollen.
Wir sind mit dem Anspruch angetreten, die Politik und die Macht zu verändern. Diese Veränderung können wir aber nur auf allen Ebenen zugleich erwirken: innerhalb und außerhalb der Parlamente, an der Basis und in den Institutionen der zukünftigen Länder und Gemeinden. Wir können auch nur erfolgreich sein, wenn wir alle miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Wenn es gelänge, die gute Basisarbeit des "Neuen Forum" und der anderen Bewegungen des Bürgerrechtsspektrums, zu denen ich auch die Grünen zähle, wirkungsvoll mit der Arbeit der gewählten Vertreter in Gemeinderäten, Stadt- und Kreisvertretungen sowie in der Volkskammer zu verknüpfen, würde sich unsere politische Kraft und damit unser Einfluss multiplizieren, und wir brauchten keine Fünf-Prozent-Hürde zu befürchten. Es trifft auch nicht zu, dass die Basis überwiegend aus Gruppen des "Neuen Forums" besteht. Es gibt in fast allen Kreisen unseres Landes Basisgruppen der Grünen, und es gibt Gruppen von "Demokratie Jetzt" und der IFM, die gerade von der Qualität ihrer Inhaltlichen Arbeit her nicht unterschätzt werden sollten (und auch die "Vereinigte Linke" gibt es übrigens - die Podium-Redaktion).
Im Wahlkampf zu den Volkskammerwahlen wurde eines deutlich: der Wunsch unserer Wähler, dass wir als Bündnis 90/Grüne zusammengehen mögen. Bei den Kommunalwahlen haben in Potsdam und Magdeburg Bündnis 90/Grüne deutlich mehr Stimmen bekommen, als anderswo die Addition der Anteile der einzeln angetretenen Gruppierungen ergeben hat. Die Bildung unserer Volkskammerfraktion sollte vor allem auch ein Zeichen sein, dass nun zusammengehen will, was zusammen gewachsen war und daher zusammengehört.
Vera Wollenberger
Grüne Partei
Volkskammerfraktion
Bündnis 90/Grüne
Podium - die Seite mit und für BürgerInnen-Bewegungen, Initiativen und Minderheiten in der Berliner Zeitung, Mi. 01.08.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 177