Neues Forum im politischen Alltag

BZ-Gespräch zu den Zielen der Vereinigung

Um Auskunft über jüngste Entwicklung und Ober Zielstellungen des Neuen Forum bat BZ die vorläufige Sprecherin des Neuen Forum Berlin, Ingrid Köppe.

BZ: Das Neue Forum spielt mittlerweile im politischen Alltag unseres Landes eine nicht zu übersehende auch Rolle, wenn auch vor gar nicht allzu langer Zeit das Innenministerium zu einer ganz anderen Einschätzung angehalten war.

I. Köppe: Zunächst war der Antrag des Neuen Forum auf Zulassung des Mdl mit dem Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit abgelehnt worden. Wir stehen aber nach wie vor auf dem Boden der Verfassung. Anfang November registrierte dann das Mdl die Anmeldung des Neuen Forum als Vereinigung. Nun haben wir drei Monate Zeit, um alle Gründungsunterlagen - dazu gehören Programm und Statut - auszuarbeiten und einzureichen. Nach ihrer Prüfung erwarten wir die Zulassung des Neuen Forum als Vereinigung.

Wir stecken jetzt mitten in der Arbeit, denn ein Programm und ein Statut haben wir noch nicht. Die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs legten im September ganz bewusst kein fertiges Konzept vor. Sie wollten möglichst alle ansprechen, die nicht einverstanden waren mit dem Zustand unseres Landes. Sie wollten eine politische Plattform für einen breiten demokratischen Dialog anbieten. Ein solcher öffentlicher Dialog war ja damals innerhalb der überkommenen Strukturen noch völlig undenkbar.

Programm und Statut werden jetzt erarbeitet

BZ: Wie geht's derzeit beim Neuen Forum weiter?

I. Köppe: Seit der Registrierung des Neuen Forum am 8. November haben sich über 200 000 Menschen mit ihrer Unterschrift zu unserer Bewegung bekannt. In territorialen und thematischen Gruppen finden sich interessierte Leute zusammen, diskutieren zum Beispiel solche Problemkreise wie Wirtschaft, Ökologie, Volksbildung, Kultur, Rechtsstaatlichkeit und Medienpolitik. Inzwischen gibt es einen offenen Problemkatalog zu solchen Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Zwei Kommissionen erarbeiten die Entwürfe eines Programms und eines Statuts. Beide Kommissionen, das sind gewählte Vertreter aus allen Bezirken der DDR, stützen sich auf die Vorschläge, die in den Basisgruppen, also "von unten", erarbeitet wurden und werden. Die Resultate stehen ab Mitte Dezember in den Basisgruppen zur Diskussion. Anfang Januar werden die Ergebnisse der Aussprache erneut ausgewertet und in die Entwürfe eingearbeitet. Nach einer zweiten Diskussionsrunde in den Basisgruppen sollen beide Dokumente voraussichtlich am 27. Januar auf der Gründungskonferenz des Neuen Forum beschlossen werden.

Basisdemokratie braucht Zeit und Geduld

BZ: Basisdemokratie hat unsere Gesellschaft nicht gelernt. Der Begriff verbindet sich bei vielen mit "Chaos" oder "Debattierklub".

I. Köppe: Natürlich wissen wir, dass Basisdemokratie viel mehr Zeit und Geduld erfordert als administrative Maßnahmen. Aber Demokratie kann doch nicht von oben verordnet werden. Sie muss sich von unten entwickeln, eben von der Basis her. Und deren Einfluss auf alle prinzipiellen Entscheidungen muss Vorrang haben. Das sind Elemente der direkten Demokratie, wie sie vom Neuen Forum vertreten wird als Alternative zu jenen bestehenden Strukturen, die die derzeitige Krise verursacht haben. Dadurch nämlich, dass Politik von zentralen Behörden gemacht wurde und nicht vom Volk.

BZ: Also kommt es jetzt darauf an, dass sich möglichst jeder Bürger zum vielzitierten mündigen Bürger qualifiziert?

I. Köppe: Ja, Voraussetzung für Basisdemokratie ist, sich selbst zuständig zu fühlen und nicht nur nach kompetenten Leuten zu rufen, die aus der Krise herausführen und denen man sich dann letztendlich wieder fügt. Die Zuständigkeit für dieses Land wollen wir uns nicht mehr absprechen lassen. Wir wollen sie auch keiner Partei, keinem Gremium mehr in Verwaltung geben.

BZ: Zuständigkeit und Verantwortung sich nicht mehr absprechen zu lassen ist die eine Seite. Die andere ist aber die Bereitschaft, sich beidem zu stellen.

I. Köppe: Das Neue Forum ist prinzipiell bereit, politische Verantwortung zu übernehmen, auch in entsprechenden Gremien. Wie das konkret aussehen kann, ist jedoch abhängig von der zukünftigen Entwicklung. Zum Beispiel davon, ob es uns ein neues Wahlgesetz, zu dem wir auch unsere Vorschläge einbringen, gestattet, eigene Kandidaten aufzustellen.

Ebenso prinzipiell sind wir bereit, mit allen oppositionellen Parteien und Bewegungen unseres Landes gemeinsam für die demokratische Erneuerung zu wirken, gegebenenfalls in einem Wahlbündnis.

Mit den etablierten Parteien, Organisationen und Institutionen sehen wir nur die Möglichkeit punktueller Zusammenarbeit. Sie sind nach unserer Meinung nicht durch freie Wahlen legitimiert. Wir wollen weder Schulterschluss noch Bruderkuss.

Jede Regierung braucht Widerspruch

BZ: Das Neue Forum versteht sich als Opposition. Ein Begriff, der bei uns negativ belastet war und es für einige sicher noch ist. Darum die Frage: Was ist Opposition?

I. Köppe: Opposition ist ein Negativwort geworden. Das liegt daran, dass es in den vergangenen Jahren in der DDR den Zwang zur Einheitsmeinung gab. Widerspruch wurde nicht gehört oder kriminalisiert. Aber jede Regierung braucht Widerspruch, Korrektur, Kontrolle. In diesem Sinne betrachten wir uns als Opposition, unterbreiten wir Vorschläge und Gegenvorschläge, wollen wir Macht kontrollieren. Unser Anliegen ist.es, die Basis so zu aktivieren, dass jeder sich verantwortlich fühlt dafür, was in unserem Lande geschieht. Jeder soll selbst Alternativen entwickeln und sein Mitspracherecht einklagen.

BZ: Sein Mitspracherecht könnte das Neue Forum erstmals "offiziell" wahrnehmen, wenn es den Vorschlag des SED-Politbüros zu Rundtischgesprächen über innenpolitische Probleme positiv beantwortet.

I. Köppe: Bisher hat es kein konkretes Angebot zu diesen Gesprächen am Runden Tisch an das Neue Forum gegeben. Wenn uns ein solches Angebot gemacht werden sollte, werden wir die Bedingungen für diese Gespräche Themen und Zusammensetzung der Teilnehmer - prüfen, bevor wir uns entscheiden.

BZ: In seiner Regierungserklärung hat Modrow ganz konkrete Schritte zu Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft angekündigt, die aus meiner Sicht durchaus Forderungen des Neuen Forum nahekommen oder entsprechen. Haben sich damit nicht einige Positionen überlebt?

I. Köppe: In der Regierungserklärung sehen wir nur das Versprechen von Reformen. Versprechen hatten wir schon viele. Notwendig sind Sofortmaßnahmen.

Als Wichtigstes betrachten wir die Offenlegung der wirtschaftlichen Situation. Eine Sonderkommission müsste eine detaillierte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung von 1970 bis 1988 aufmachen, die Quellen und Einsatz des Nationaleinkommens ebenso aufschlüsselt wie die Devisenlage und -verwendung. Eine sachlich richtige Analyse des wirtschaftlichen Zustandes unseres Landes ist Voraussetzung für konkrete Vorschlage. Auch unsererseits.

Zu wichtigen Sofortmaßnahmen zählen wir den Schutz vor einem Ausverkauf der DDR u.a. durch stärkere Zollkontrollen.

BZ: Ihre Besorgnis über einen Ausverkauf der DDR haben, wie viele andere gesellschaftliche Kräfte, Vertreter des Neuen Forum unlängst in einer Erklärung geäußert, sehr berechtigt ...

I. Köppe: Der Schaden, den Grenzgängertum, Schwarzhandel und Devisenschmuggel anrichten kann, ist kaum auszudenken. Es gibt noch einen anderen Aspekt. Bei aller Freude über die durchlässige Grenze, die Kontaktmöglichkeiten für Verwandte, Bekannte und Freunde, wollen wir uns nicht ruhigstellen lassen. Forderungen nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft bleiben trotzdem aktuell.

BZ: In letzter Zeit ist das Interesse der DDR-Medien am Neuen Forum zwar mit Verspätung, jedoch spürbar gestiegen. Wünsche bleiben trotzdem offen?

I. Köppe: In der DDR wurde erst sehr, sehr spät über das Neue Forum berichtet. Und viele Wünsche sind immer noch offen. Wir bedauern, dass das Interesse westlicher Zeitungen und Sender größer war und ist, als das der unseren. Schließlich müssen wir erst einmal mit uns selber klarkommen und hier im Lande wirksam werden. Darum erwarten wir, dass unsere Anliegen tatsächlich unvoreingenommen dargestellt werden und das Neue Forum Möglichkeiten erhält, eine eigene Zeitung herauszugeben.

Das Gespräch führte
Bettina Urbanski

Dem Neuen Forum gehören Menschen aller Altersgruppen an. Sie finden sich hier zusammen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft - vom Arzt bis zum Arbeiter, vom Handwerker bis zum Ingenieur, vom Künstler bis zum Wissenschaftler.

Das Neue Forum bekennt sich dazu, offen zu sein für alle, für Mitglieder von Parteien, für Parteilose, für Freidenker und Christen. Es bietet sich als Zusammenschluss der Demokraten aller politischen Lager an. In seinem Gründungsaufruf heißt es, allen Bestrebungen, denen das Neue Forum Ausdruck und Stimme verleihen möchte, liege der Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Diese Bestrebungen können höchst unterschiedlich sein. Das kommt beispielsweise in den verschiedensten Vorstellungen über den Umbau unserer Gesellschaft zum Ausdruck, die von einer Entwicklung in Richtung sozialer Marktwirtschaft mit gemischten Eigentumsformen bis hin zum Festhalten am Volkseigentum und an Prinzipien der Planwirtschaft reichen.

aus: Berliner Zeitung, Jahrgang 45, Ausgabe 278, 25.11.1989. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.

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