Wir sind erst auf dem Wege, Demokratie zu lernen
Gespräch mit der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley über das Jahr nach der "friedlichen Revolution"
Bärbel Bohley gründete mit politischen Freunden 1985 die Initiative Frieden und Menschenrechte. Vier Jahre später war sie Gründungsmitglied des Neuen Forum, wegen ihres Engagements für Demokratie sperrte das SED-Regime die Malerin mehrmals ein. 1988 musste sie das Land verlassen. Gegen den willen der Staatsmacht kam sie nach einem halben Jahr im Westen zurück nach Ostberlin, wo sie heute für das Bündnis 90 in der Stadtverordnetenversammlung sitzt. Erst letzte Woche zog sie ihre Kandidatur für den Bundestag zurück, weil eine Delegiertenversammlung der fünf am Bündnis 90 beteiligten Bürgergruppen die Plätze auf den Landeslisten neu verteilte. Sie hält das Verfahren für unvereinbar mit dem demokratischen Anspruch der Bürgerbewegung, denn bei der Abstimmung waren nur noch 25 Delegierte da. Statt dessen hätte nach ihrer Meinung eine Mitgliederversammlung die Plätze auf den Listen verteilen müssen. Jetzt will sie sich dafür einsetzen, dass die begonnene Demokratisierung der Gesellschaft in ganz Deutschland weitergeht.
BZ: Vor genau einem Jahr hatten Kunst- und Kultur- schallende zu der Großdemonstration in Berlin für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit aufgerufen. Sie markierte einen wichtigen Abschnitt der friedlichen Revolution. Haben Sie erreicht, was Sie damals wollten?
B. Bohley: Unsere politischen Forderungen sind zwar erfüllt. Die führende Rolle der SED ist weg, wir haben Meinungs- und Pressefreiheit. Aber wir sind erst auf dem Weg, Demokratie zu lernen. Die neuen Regierenden haben schnell gelernt, ihr Schäfchen ins trockene zu bringen, und die Deformierung in den Köpfen wirkt fort. Obwohl es soviel Unzufriedenheit in der Bevölkerung gibt, ist wenig Bereitschaft zum Widerstand da. Zum Beispiel haben in vielen Betrieben wieder die alten Funktionäre das Sagen. Die Mitarbeiter lassen sich von denen widerstandslos vor die Tür setzen. Ich hatte gedacht, dass die Menschen mehr Lust auf Selbständigkeit haben, nachdem sie 40 Jahre lang geschoben wurden. Aber die meisten entlassen sich wieder zu schnell aus der Verantwortung. Um dies zu verhindern und an den 4. November des vergangenen Jahres zu erinnern, ruft das Neue Forum an diesem Sonntag gemeinsam mit anderen wieder zur Demonstration auf dem Alexanderplatz auf.
BZ: Das mäßige Abschneiden der Bürgerbewegungen bei den Volkskammerwahlen im März begründeten Sie damit, dass die Leute erst mal große Autos, die D-Mark und Bananen wollen. Jetzt hatten viele Leute all das schon. Trotzdem haben nicht viel mehr die Bürgerbewegungen gewählt.
B. Bohley: Ich verstehe das. Wir haben kein Geld, keine Lobby, keine Pendant-Partei im Westen. Die Leute wählen pragmatisch. 30 Prozent haben überhaupt nicht gewählt.
BZ: Die Bürgerbewegungen verstehen sich selbst als eine Interessenvertretung. Offenbar wird das aber von vielen Menschen nicht akzeptiert.
B. Bohley: Ich sehe auch, dass diese Wahl eine Quittung für die Bürgerbewegungen ist. Wir haben uns zu viel mit Wahlkampf und Bündnisfragen beschäftigt statt mit praktischen Problemen. Es war ein großer Fehler, nicht in die Betriebe zu gehen. Man hat auch zu wenig an Programmen gearbeitet, die sich mit den Arbeitslosen und den sozialen Fragen beschäftigen.
BZ: Wenn Sie die Fehler jetzt so klar benennen waren sie nicht vermeidbar?
B. Bohley: Es war zu wenig Zeit. Die Bürgerbewegungen sind über Nacht entstanden. Bevor man sich selbst sein Feld abgesteckt hat sind drei Wahlen passiert. Wir konnten uns nie ausprobieren. Erst hatten wir 40 Jahre die Schweinerei hier, und dann kam der Westen, der alles besser wusste.
BZ: Haben die Bürgerbewegungen nicht auch zu wenig griffige, klare Konzepte?
B. Bohley: Uns ist jahrelang gesagt worden, was wir machen müssen, und damit halten wir uns eingerichtet. Jetzt müssen wir vieles selber entscheiden. Selbst wenn der Westen wirklich demokratisch wäre, könnte man Demokratie nicht importieren. Demokratie muss sich entwickeln, und das geht nur, wenn sich die Gesellschaft selber organisiert. Diese Selbstorganisation kann sich nur um konkrete Probleme herum entwickeln. Mir ist eine Initiative hier am Teutoburger Platz lieber, um Demokratie zu lernen, als irgendein Stadtgestaltungs-Verband, der aus dem Westen importiert wird.
BZ: Selbstorganisation ist ein langwieriger Prozess wenn er überhaupt funktioniert. Genau dieses langwierige Diskutieren, die komplizierten Entscheidungsprozesse werden dem Neuen Forum oft zum Vorwurf gemacht.
B. Bohley: Das Neue Forum ist die Widerspiegelung dessen, was überall in der Gesellschaft da ist. Da gibt es Leute, die wollen mit der CDU eine Koalition machen, und andere würden auch mit der PDS. So breit ist das Feld. und das ist gut. Dieser Strom, der jetzt durch die Gesellschaft geht, die Spannungen und Stimmungen sind schon eine Qualität für sich. Hier hatte immer die Spannung zur Zukunft gefehlt. Man hat sich eingerichtet, in seiner Ecke und am Küchentisch gemeckert, und jetzt ist es endlich zum Zerreißen gespannt. Bei aller Traurigkeit, die auch ich habe, weil so vieles ganz anders gekommen ist, empfinde ich diese Spannung als produktiv.
BZ: Aber die Leute hier wollen diese Spannung nicht aushalten. Je mehr sich die Krise verschärft, desto mehr suchen die Menschen Sicherheit und klare Verhältnisse.
B. Bohley: Das mag sein. Aber sie können davor nicht davonlaufen. Sie bewegen sich an einem langen Gummiband und werden immer wieder von der Situation zurückgeholt. Die Wirklichkeit entlässt niemanden aus dieser Spannung. Auch wenn hundertmal die CDU gewählt wird ist alles unsicher, und niemand kann sagen, was morgen ist. Die Parteien halten die Leute davon ab, sich der Wirklichkeit zu stellen. Kohl hat gesagt, dass es niemandem schlechter gehen wird und dass nicht der kleine Mann auf der Straße die Kosten der Einheit zahlen muss. Jetzt weiß hier jeder, dass das nicht stimmt.
Die Bürgerbewegungen behaupten nicht, dass sie den Weg aus dem Dilemma wissen.
BZ: Haben Sie die Leute mit Ihren Anliegen überfordert?
B. Bohley: Die Verhältnisse haben die Leute überfordert. Deshalb konnte die Idee der Bürgerbewegungen nicht greifen. Die Bevölkerung wurde entpolitisiert, weil sie sich um existentielle Fragen kümmern musste. Wir stehen alle in allen Fragen bei Null. Dadurch hat die Lust am Gestalten einen Dämpfer erlitten. Jetzt muss man den Leuten helfen, indem sie sehen, dass eins ins andere greift und sie mit ihren Problemen nicht alleine dastehen. Zum Beispiel die Aktion Kinder von Tschernobyl hat gezeigt, wie hilfsbereit die Leute sein können, wenn man die Probleme so konkret und erlebbar macht.
Es gibt viele unterschiedliche Ideen, die diskutiert werden. In unserer Situation, wo alles zusammengebrochen ist und sich jeder überfordert fühlt, meint man, es bleibe keine Zeit zum Diskutieren. Durch diese Eile verbauen wir uns die Chance, neue Wege zu gehen. Die ausgetretenen Wege des Westens greifen auf den alten Strukturen hier nicht. Die Menschen sind ja auch noch die alten. Deshalb müssen wir unsere Probleme von uns aus und von unten angehen, sonst wird das hier nichts mit der Demokratie.
BZ: Sie haben einmal gesagt, dass Sie kein kapitalistisches Deutschland wollen und natürlich auch kein stalinistisches. Wie sollte es aussehen?
B. Bohley: Soziale Marktwirtschaft hört sich gut an. Aber nicht die ganze Welt kann soziale Marktwirtschaft treiben, weil auch dieses System nur auf Kosten von anderen funktioniert. Im Inland geht es auf Kosten der Arbeitslosen und auf Kosten von Ausbeutung. Zum Beispiel, wenn eine Verkäuferin wie wild arbeiten muss und trotzdem nicht noch eine eingestellt wird. Dann geht dieses System natürlich noch auf die Kosten der Dritten Welt. Eine Wirtschaftsordnung für die ganze Welt muss anders aussehen, aber wie, das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich weiß nur, dass man die soziale Marktwirtschaft kritischer beleuchten muss. Man sollte sie nicht wie eine Sternschnuppe vor sich hertragen.
BZ: Bisher gibt es keine anderen praktikablen Gesellschaftsmodelle, hat es den Anschein. Haben Sie konkrete Vorstellungen?
B. Bohley: Die Wirtschaft der Zukunft kann nur dahin gehen, dass sie nicht zum Wegschmeißen produziert, sondern zum Vererben. Zum Beispiel hätte auch der Westen vom Sero-System profitiert.
Ein weiterer Punkt ist die Dezentralisierung. Menschen, die in die Probleme einbezogen werden, entwickeln mehr Verantwortungsbewusstsein.
Dezentralisierung heißt auch Macht verteilen, also auch Leuten Macht wegnehmen. Es ist doch absurd, wenn irgendwann Brüssel für den Spreewald verantwortlich ist. Die Leute vor Ort erkennen zuerst ihre Probleme.
BZ: Geht durch Dezentralisierung nicht auch der Blick für die Zusammenhänge verloren?
B. Bohley: Um die Zusammenhänge müssen sich die Bürgerbewegungen auch kümmern. Dazu müssen sie miteinander vernetzt werden. Wir versuchen das seit August mit dem Runden Tisch von unten. Da trifft sich alles, vom Mieterschutzverein bis zu den Bauern. Damit wollen wir verhindern, dass eine Initiative ihre Interessen auf Kosten anderer durchsetzt.
Unser größtes Problem ist die Arbeitslosigkeit. Wir sind so aufgewachsen, dass Arbeit den Wert des Menschen bestimmt. Auch wenn die Leute in den Betrieben nur rumgesessen haben, wollen sie Arbeit haben, um sich als vollwertiger Mensch zu fühlen. Wenn das fehlt, äußern sich die Konflikte an der völlig falschen Stelle, zum Beispiel in Ausländerfeindlichkeit.
Dem kann man nur was entgegensetzen, wenn man den Leuten wieder einen neuen Wert gibt, indem man ihnen anbietet, an den Problemen mitzuarbeiten. Wir brauchen bei der Altenbetreuung, im Gesundheitswesen, für die Rekonstruktion der Wohngebiete.
Man kann den Arbeitsmarkt nicht dem Zufall überlassen. Für die Jugendlichen, die keine Lehrstelle haben, muss es Ausbildungsstätten geben, damit sie nicht in drei Jahren, wenn es vielleicht mal bergauf geht, ohne Beruf dastehen.
BZ: Aber dafür ist doch kein Geld da.
B. Bohley: Das ist der größte Quatsch. Wir waren unter den sozialistischen Ländern mit an erster Stelle. Die Treuhand wirtschaftet die Betriebe auf Null, um sie billig zu verscherbeln. Aus den Kombinaten werden die besten Teile rausverkauft, und der Rest geht den Bach runter. Die Treuhand muss kontrolliert werden.
Außerdem werden die Leute, die hier was tun, viel zu wenig unterstützt und informiert. Viele kleine Handwerker, die sich gerade etablieren, müssen plötzlich Wahnsinns-Mieten zahlen und durch das neue Recht finden. Die Leute brauchen nicht jeden Tag ein Werbeblatt im Briefkasten, sondern gezielte Information. Rechtsberatungsstellen fehlen.
BZ: Wo stehen Sie im Konflikt zwischen Arbeitsplätzen und Umweltzerstörung. Soll Bitterfeld weiter die Menschen vergiften, damit die Jobs bleiben?
B. Bohley: In der ehemaligen DDR kann man es sich nicht leisten, die Ökologie an die erste Stelle zu setzen, auch wenn sie hier an die erste Stelle gehört. Man könnte natürlich sagen, dass die Industrie so kaputt ist, dass man über Nacht alles zumacht. Aber es ist unmenschlich, ein ganzes Volk von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe leben zu lassen. Im Moment sind Kräfte am Werk, die weder Ökologie noch die sozialen Probleme im Auge haben.
Wir übernehmen Sachen, die nicht zukunftweisend sind. Auch wenn klar ist, dass die Mieten etwas raufgesetzt werden müssen, brauchen wir keine Leute, die mit Wohnraum spekulieren. Ich sehe zum Beispiel auch nicht ein, warum wir den § 218 übernehmen sollten.
BZ: Hat sich Ihr Glaube an eine DDR-Identität durch die letzten Wahlergebnisse nicht endgültig als Illusion erwiesen?
B. Bohley: Nein, ich habe das Gefühl, dass es die gibt, ohne sie definieren zu können. Auch wenn es die bisher nicht gab, wird das bei der Bevölkerung noch mal richtig durchbrechen. Es heißt ja jetzt schon oft, dass dies oder das vorher besser war, und viele fragen, warum es dies oder jenes nicht mehr gibt. Die DDR hätte mit mehr Selbstbewusstsein und mehr Widerstand in die Vereinigung gehen können. Der Hauptgedanke war ja, dass wir erst einmal zu uns finden und sagen, was wir selbst wollen.
BZ: Aber der Druck der Straße war groß. De Maizière hatte doch zu Recht Angst, dass alle nach drüben laufen, wenn der Anschluss nicht schnell genug geht.
B. Bohley: Es wäre anders gewesen, wenn man den Leuten klar gesagt hätte, dass es drei Monate nach der Währungsunion so viele Arbeitslose geben wird. Außerdem hatten die Leute doch gar keine Gelegenheit, den Westen erst kennenzulernen.
BZ: Noch heute sind die meisten mit diesem Anschluss einverstanden.
B. Bohley: Ich habe an der DDR festgehalten, weil ich diesen Westen auch nicht will. Ich habe den Westen ein halbes Jahr lang kennengelernt. Dort haben schon viele das Gefühl, dass die Parteien mit ihrer Machtpolitik die anstehenden Probleme schlecht bewältigen werden. Das liegt daran, dass man nicht die Wahrheit sagen darf, wenn man die politische Macht erhalten will. Um gewählt zu werden, muss man alles ein bisschen schönfärben und so tun, als wüsste man den Weg aus dem Dilemma.
Das westliche System ist raffiniert. Man kann sich frei im Kreis bewegen. Aber auch dort hat sich existenzielle Unzufriedenheit breitgemacht. Die Spielregel, dass man nicht zugibt, wenn es einem beschissen geht, erhöht zwar den Marktwert des Menschen, aber verringert das Menschliche. Auf Dauer geht das nicht Die Leute werden sich eines Tages vielleicht verweigern - wenn auch anders als hier. Da drüben ist alles so zubetoniert und festgefahren.
BZ: Hier dröhnen inzwischen auch die Betonmischer, die Volkskammer und die Landtagswahlen haben die Weichen klar auf Kopie des Westens gestellt.
B. Bohley: Die Leute haben jetzt nur vorübergehend ihre Scheuklappen zugemacht. In dem Schlechten hier schlummerte auch immer die positive Möglichkeit. Es war gut, dass jedes Kind in einen Kindergarten gehen konnte. Nur was draus gemacht wurde, das war beschissen.
Meine Hoffnung ist, dass unsere Probleme die Lösungen des Westens in Frage stellen. Zwei Millionen Arbeitslose in der Ex-DDR werden die zwei Millionen Arbeitslosen im Westen wieder real werden lassen.
BZ: Wie stellen Sie sich hier die Aufarbeitung der letzten 40 Jahre vor?
B. Bohley: Ich bin dagegen, dass jetzt ein paar schwarze Schafe vom Westen vor Gericht gestellt werden. Verfassungsschutz und BND wussten doch, was hier los war. Also wussten auch die Politiker drüben Bescheid. Sie waren also beteiligt. Hier muss zur Sprache kommen, was die Leute gemacht haben, wer welchen Beitrag zum System geleistet hat. Ich suche selber noch nach Antworten bei diesem Thema.
BZ: Was haben Sie persönlich vor, da Sie nicht mehr für den Bundestag kandidieren?
B. Bohley: Ich weiß es noch nicht. Aber ich habe immer überlebt, ohne vorher zu wissen wovon. Zu tun gibt es genug. Ich will weiter in der Bürgerbewegung provozieren und nachhaken. Wir müssen uns endlich auch darüber klarwerden, was wir von der Arbeit in Parlamenten erwarten. Jetzt geht es darum, dass wir im Osten nicht zu Bürgern zweiter Klasse werden. Neben der Demokratisierung ist soziale Gleichheit für alle jetzt das wichtigste Anliegen.
Das Gespräch führte
Robert Fishman
Berliner Zeitung, Sa. 03.11.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 258