Das Armenhaus von morgen?
Gedanken von Hans-Jochen Tschiche (Bündnis 90) zum zweiten Staatsvertrag und zur Verantwortung der Politiker
Die DDR befindet sich zwischen dem ersten und zweiten Staatsvertrag und damit, wie im Sommer 1989, in einer vorherbstlichen Situation von tiefgreifender politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Bedeutung. Wir haben zwar eine Währungsunion, aber die Wirtschaftsunion greift nicht, geschweige denn die Sozialunion. Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung aller politischen Kräfte in diesem Land, damit es nicht zu sozialen Unruhen und unabsehbaren politischen Folgen kommt. Die Angst in der Bevölkerung wächst, Beruhigungsreden helfen nicht.
In dem zweiten Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen unbedingt Finanzmittel ausgehandelt werden, um soziale Turbulenzen zu vermeiden und die Umstrukturierung der Gesellschaft voranzutreiben. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist hier im Wort und auch in der politischen Verantwortung. Wir betteln nicht um Almosen. Das erklärte Ziel dieser Regierung war, den Eintritt der DDR in den neuen deutschen Nationalstaat zu erträglichen Bedingungen für die Bürgerinnen dieses Landes zu gestalten. Die Hatz zur Einheit darf dieses Land nicht zum Armenhaus einer künftigen deutschen Bundesrepublik machen. Alle Schichten unserer Bevölkerung sind gleichermaßen bedroht. Aus politischen Gründen ist uns keine Zeit gelassen worden, über eine Wirtschaftsreform und einen Währungsverbund in einem sozial-politischen und auch emotional verträglichen Tempo in einem längeren Zeitraum die Angleichung zu vollziehen und schließlich einen gemeinsamen Staat der Deutschen auf dem Wege nach Europa zu bauen. Atemlos laufen wir den politischen Entscheidungen der westdeutschen Politiker hinterher. Kapitulation ist angesagt und nicht Partnerschaft. Bis vor kurzem fuhren die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland auf der Transitstecke der DDR ängstlich genau 100 Stundenkilometer! Heute sitzen sie lässig in ihrem Auto und fahren 150 Stundenkilometer, obwohl unser Recht noch gilt. Sie sind wie die weißen Herren, die ihre eigenen Gesetze mitbringen. Alle politischen Kräfte in unserem Lande sollten sich zusammenschließen, um in harten Verhandlungen zu erreichen, dass demütigende Bedingungen für unsere Bevölkerung vermieden werden.
Wir wollen einen Staat, in dem die gute Verfassung der Bundesrepublik Deutschland um wichtige Staatsziele - wie das Recht auf Arbeit oder der Schutz der Umwelt - erweitert wird. Wir wollen einen künftigen deutschen Nationalstaat, in dem die Stimmen aus der DDR nicht untergehen. Es wird Jahre dauern, ehe der Anpassungsprozess zu Ende gegangen ist. Beide Seiten werden sich verändern. Der 2. Dezember 1990 - der Tag der Wahlen - ist nicht schon der Zieleinlauf. Es beginnt eine neue politische und gesellschaftliche Geschichte.
40 Jahre haben wir in einem vormundschaftlichen Staat gelebt. 40 Jahre war die Mehrheit der Bevölkerung von den politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. 40 Jahre hat sich eine Machtelite rücksichtslos und gegen den Willen des Volkes durchgesetzt. Wir wollen endlich wie erwachsene Menschen behandelt werden. Wir wollen nicht, dass die reiche Bundesrepublik Deutschland die Würde der Menschen in unserem Lande durch politische, ökonomische und rechtliche Entscheidungen erneut verletzt. Wir kommen aus der gemeinsamen deutschen Geschichte. Wir sind als Volk der europäischen Zivilisation in einem Blutrausch entlaufen. Wir sind zu willkürlichen Dienern der jeweiligen feindlichen Mächte im kalten Krieg geworden. Wenn wir jetzt als ganzes Volk in die europäische Staatengemeinschaft zurückkehren, den gemeinsamen Weg mit ihnen nach Europa antreten, wird sich unsere politische Reife darin zeigen, ob wir vorher fähig sind, eine Einheit in Deutschland zu erzielen, die es den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern erlaubt, sich als Vollbringer zu fühlen.
Junge Welt, Sa. 21.07.1990