Volkskammerabgeordneter Hans-Jochen Tschiche, vor genau einem Jahr Mitbegründer des Neuen Forums:

Die Leute ermutigen, den eigenen Kopf zu gebrauchen

Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, am 9. und 10. September, wurde auf dem Grundstück von Robert Havemann der Aufruf zur Gründung des Neuen Forum verfasst - unter den Autoren der Theologe Hans-Jochen Tschiche. Das Papier wirkte in der DDR wie ein Steppenbrand; täglich kamen zahlreiche Briefe von Menschen, deren Nerv getroffen war. Wir fragten ein Jahr danach den Volkskammerabgeordneten Tschiche von Bündnis 90:

Wenn es nun ins einig Vaterland geht – welche Hoffnungen vorn Herbst 1989 nehmen Sie mit hinüber?

Zunächst einmal: Dieser Herbst 1900 ist ein anderer als der vor einem Jahr. Wir befinden uns in einer neuen politischen Situation, in der die Industriestaaten westlicher Prägung den Sieg davongetragen haben. Damit transportieren sie ihre Probleme zu uns. Die Industriestaaten östlicher Prägung sind gescheitert. Die westlichen Staaten besitzen unbestritten eine lange demokratische Tradition, aber die eigentlichen Aufgaben haben diese Gesellschaften nicht gelöst, nämlich eine wirtschaftliche Gerechtigkeit und einen vernünftigen Umgang mit den begrenzten Ressourcen der Natur, auch nicht die bürgernahe Politik. Die Parteienlandschaft ist eine Politik von gestern.

Nach meinem Eindruck wird die künftige Politik viel mehr an Projekten orientiert sein als an Parteiinteressen, an Sprechblasen und Versprechungen, sie wird bürgernäher und ganz stark an der Bevölkerung orientiert sein. Das wird nicht heute und morgen machbar sein, aber es wird kommen. Die Bürgerbewegungen der DDR haben diese Idee der Bürgernähe und der radikalen Demokratisierung. Wir werden für Ihre Verwirklichung Verbündete in der Bundesrepublik und in Westeuropa suchen.

Die nächste Zeit wird wahrscheinlich schwierig sein. Wir müssen uns erst einmal zurechtfinden in dieser neuen Gesellschaft. Die DDR-Bevölkerung hat ja nicht nur die letzten 40 Jahre hinter sich, sondern die zwölf Jahre des Dritten Reichs auch. Sie hat praktisch 52 Jahre lang gelernt sich anzupassen und keine eigenen Initiativen zu entwickeln. Sie hat nicht verinnerlicht, was die Bundesbürger verinnerlicht haben - wer etwas erreichen will, muss sich zur Wehr setzen, muss laut Krach schlagen. Bei uns war die Methode, ganz leise zu sein, nicht aufzufallen. In der Bundesrepublik muss man ganz laut sein, muss man die Muskeln des Gehirns und des Körpers spielen lassen.

So schön der Gedanke der Bürgerbewegungen zur Basisdemokratie ist - sucht nicht der Mensch eine starke Kraft, an der er sich orientieren kann, zumal in Krisenzeiten?

Das ist immer die Versuchung in Krisensituationen. Ich denke aber, dass der Mensch fähig ist, den aufrechten Gang zu gehen. Mein Traum ist, die Entmündigung zu beenden, die Leute zu ermutigen, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen, sich zu solidarisieren und sich durchzusetzen.

Sie vertraten in einer Rede vor der Volkskammer die Ansicht, dass das Wertesystem, das für die Zukunft der Welt notwendig ist. noch nicht mehrheitsfähig ist. Spricht daraus Resignation, oder schöpfen Sie Hoffnung aus dieser Erkenntnis?

Es ist eine Ermutigung so einen Satz zu sagen, weit ich mir damit klarmache: Man sollte nicht zu viel erwarten, es wird eine lange Strecke, wahrscheinlich erreiche ich selbst das Ziel nicht mehr, aber solange ich lebe, möchte ich diese Gedanken weiter befördern. Denn es ist eine Überlebensfrage: Wenn wir uns als Gattung nicht verändern, dann kommt die Katastrophe. Die Hoffnung auf solche Veränderung ist schwer begründbar. Man kann das als religiös bezeichnen, aber gemeint ist eigentlich, dass Menschen in sich eine Hoffnung tragen, die sie nicht resignieren lässt, sondern Sie sie bereit macht, sich zu verändern und zu hoffen, dass Veränderungen möglich sind.

Für solche Ziele haben Sie sich über Jahrzehnte hinweg eingesetzt, in Opposition zu den Machthabern. Man hätte in der DDR auch wesentlich bequemer leben können. Wo liegen die Motive für Ihren Einsatz?

Es ist das Erlebnis des Kriegsendes. Ich war damals 15 Jahre alt. Mir war, als erwachte ich aus einem Traum. Ich war, wie die Mehrheit der deutschen Jungen, natürlich in der Hitlerjugend, und natürlich haben wir irgendwo an Hitler geglaubt. Und ich weiß noch wie heute, am 2. Mai hieß es, der Führer sei heldenhaft kämpfend an der Spitze seiner Truppen gefallen. Das ist für mich in der Erinnerung der Tag, an dem ich dachte, jetzt solle alles anders werden. Zum anderen hat mich geprägt, dass wir der Meinung waren, der Sozialismus sei eine Alternative gegenüber dieser Gesellschaft, die Europa und die Welt zweimal n den Krieg gestürzt hatte. Sehr früh habe ich dann aber gemerkt, dass die Verwirklichung der Idee, den Schwächeren eine Chance zu geben in der Gesellschaft, durch die Machtkonstruktion im real existieren den Sozialismus verstellt worden ist. Ich bin 1946 in die FDJ gegangen, aber 1948 vor dem Abitur schon wieder ausgetreten. Da ahnte ich schon, was kommen sollte.

In den kirchlichen Dienst bin ich geraten, weil ich Interesse an dem hatte, was da lief. Nicht so stark religiös motiviert. Auch danach noch hieß es von mir, ich sei ein Roter. Ich habe nur die Anpassung nicht mitgemacht. Und als die Remilitarisierung kam, erst in der BRD dann in der DDR, habe ich mich das erste mal eingemischt. Da gab es die ersten großen Konflikte, aber die entscheidenden kamen 1968. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei war der Traum eines alternativen Sozialismus zerstört worden.

1982, inzwischen war ich an der Evangelischen Akademie Magdeburg, wurden die Raketen stationiert. Ich wandte mich dagegen, und deshalb wurde die Kirche angehalten, mich zu entlassen. Letztlich bin da geblieben, aber in dieser Zeit haben mich die Sicherheitsorgane als gefährlichen Staatsfeind behandelt wie ich im Nachhinein erfahren habe. 1986/87 habe ich angefangen, laut darüber nachzudenken, nun mit unseren Gedanken aus den Treibhausbedingungen der Kirche herauszugehen und Freilandpflanzungen zu machen, also in die Gesellschaft zu gehen.

Damals irgendwann träumte ich, ich hätte eine Partei gegründet - die Grüne Sozialistische Union. Das spiegelte im Grunde das Spektrum der oppositionellen Kräfte in der DDR wieder. Die Opposition kommt aus dem linken alternativen Spektrum. Deswegen besteht unter den Linken heute soviel Spannung. Wer sich in der DDR Öffentlich zur Wehr gesetzt hat, das waren nicht die Konservativen. Die saßen in ihren Nischen und schwiegen. Zur Wehr gesetzt haben sich Leute aus der alternativen Szene oder Leute, die in der staatstragenden Partei Probleme hatten und sich deshalb dort abgeseilt haben. Anfang 1989 verdichtete sich das. Im Frühherbst entstand das Neue Forum und dann wurde die Sache unaufhaltsam.

Es war keine Revolution. Ein morsches System ist in sich zusammengebrochen, wie die Mauern von Jericho. Diese ganze Geschichte wäre aber ohne Gorbatschow in der Sowjetunion undenkbar gewesen.

Nun sitzt das Neue Forum, sitzen andere politische Kräfte in der Volkskammer. Ist der Zuwachs an Demokratie eingetreten, den Sie sich erhofft haben?

Ich glaube, viele Abgeordnete haben noch nicht begriffen, was Rechtsstaatlichkeit ist. Sie sind der Meinung, wenn wir die Mehrheit haben, haben wir auch recht. Und was wir als Mehrheit beschließen, ist das Recht. Klargeworden ist das bei dem Streit um die Verfassung. Eine Verfassung ist ja dazu da, gesellschaftliche Spielregeln aufzustellen, und zwar, um Minderheiten zu schützen und Mehrheiten die Zügel anzulegen, so dass sie morgen nicht einfach etwas anders machen können, als sie es gestern beschlossen haben.

Nehmen wir das Parteieigentum. Die DSU überlegt, wie man allen Parteien alles wegnehmen kann. Die FDP und die CDU überlegen, wie sie etwas retten können, die SPD denkt darüber nach, wie sie etwas abbekommen kann, und alle zusammen überlegen, wie sie der PDS alles wegnehmen können. Das Ist Machtkampf. Ich fürchte, dass wir noch einige Zeit brauchen, um wirkliche demokratische Kultur zu verinnerlichen Das heißt also, geduldig den Argumenten anderer zuzuhören und rechtsstaatlich zu denken.

Sie sind Christ. Es gibt Parteien, die das Wort christlich in ihrem Namen führen. Was halten Sie von deren Politik?

Ich meine, es gibt keine christliche Politik, sondern es gibt nur Christen, die Politik machen. Und jeder einzelne kommt auf Grund seiner Biographie und seines Verständnisses von Christentum zu unterschiedlichen politischen Entscheidungen. Es ist also vorstellbar, dass sowohl im absolut linken wie rechten Spektrum Christen zu finden sind. Ich will nur davor warnen, dass wir der Illusion verfallen, man könnte das Reich Gottes auf Erden schaffen. Wer das will, der schafft mit Sicherheit den Vorhof zur Hölle.

Das war im Grunde beim real existierenden Sozialismus so. Weil die Leute mit dem Anspruch angetreten sind, recht zu haben.

Wer meint, immer recht zu haben, dem ist jedes Mittel recht, sich durchzusetzen. Die Wahrheit zu finden ist aber ein Prozess, man hat sie nicht in der Tasche. Ich denke inzwischen, dass Wahrheit nicht nur die Aneinanderreihung von richtigen Sätzen ist, sondern dass Wahrheit die Fähigkeit ist, zu kooperieren und solidarisch zu leben. Das verlangt, glaube ich, einen Umdenkungsprozess in der europäischen Geistesgeschichte, denn die Christen haben im Grunde genau wie die Marxisten ihre Ansicht von der Wahrheit mit brutaler Gewalt durchgesetzt.

Sie haben von links und rechts gesprochen. Halten Sie diese Einteilung in der Politik noch für zutreffend?

Ich halte das für Begriffe des 19. Jahrhunderts. Damals hieß links, abgesehen von den ideologischen Anhängseln, im Verteilungskampf für die Schwachen Partei zu ergreifen. Heute wäre links eine kritische Befragung der modernen Industriegesellschaft. Wenn das ein Kriterium ist, dann bin ich ein Linker. Wer für eine relativ unkritische Übernahme der modernen westlichen Gesellschaft als beste aller möglichen Welten plädiert, der ist für mich ein Rechter, egal, zu welcher Partei er gehört.

Was diese gesellschaftliche Perspektive betrifft, bin ich mir noch nicht im klaren, wohin die Entwicklung geht. Ich hoffe, dass eine Gesellschaft entsteht, die viel stärker dezentralisiert ist. Zentralisierung bedeutet Anhäufung von Macht und Neigung zur Gewalttätigkeit. Was wir jetzt machen, diese Industriegesellschaft, ist der programmierte Selbstmord der Menschheit. Allerdings kann die Lösung nicht eine selbstauferlegte Daueraskese sein. Man müsste die Gesellschaft so aufbauen, dass jeder wenig Chancen hat, sich unmoralisch zu verhalten, dass wir menschenwürdig leben können.

Es war wohl ein Grundfehler des realen Sozialismus, die westliche Industriegesellschaft übernehmen zu wollen, ihr keine gesellschaftliche Alternative entgegenzusetzen, sondern statt dessen hinter jeder Schwierigkeit den Feind zu vermuten.

Ja, ich habe den Eindruck, die Kommunisten in der DDR und in Osteuropa haben immer gelebt wie Tote auf Urlaub. Sie fühlten sich in einer ständigen Bedrohung. Das hat offenbar zur sozialpsychologischen, Erkrankung der ganzen Führung beigetragen. Am rabiatesten sind sie ja mit den eigenen Leuten umgegangen. Das wissen wir auch aus unserer christlichen Tradition: Nur die Ketzer wurden verbrannt, denn die Heiden konnte man noch bekehren.

Ihre Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft reichen weit in die ferne Zukunft. Was wäre Ihrer Meinung nach jetzt ganz praktisch zu tun, um dieser Vision ein Stück näher zu kommen?

Die wichtigsten Entscheidungen werden wohl in den Ländern der ehemaligen DDR fallen. Es ist, am Rande bemerkt, merkwürdig, dass immer nur von der ehemaligen DDR die Rede ist und nicht auch von der ehemaligen Bundesrepublik. Aber zurück zur Frage. Ich vermute, dass wir, um zu dem Fernziel zu gelangen, durch die Industriegesellschaft durch müssen. Wir können keinen Sprung drüber hinweg machen und finden dafür auch keine Mehrheit.

Konkret ist folgendes zu tun: Die Wirtschaft muss saniert werden, es müssen nun wirklich Investitionen fließen. Ganz notwendig ist die Stärkung der Kommunen. Sie müssen finanziell und damit auch politisch handlungsfähig werden. So könnten die Menschen die Möglichkeit erhalten, sich zu identifizieren. Der Verfall unserer Städte hängt ja auch mit der mangelnden Identifikation zusammen. Wir brauchen mehr Lebensqualität, mehr Spaß am Leben. Damit hängt zusammen eine Art politische Bildung. Das klingt vielleicht etwas abseitig, aber wir brauchen einen Zeitraum, um die 40jährige DDR Geschichte aufzuarbeiten, um die neuen sozialen Verhaltensweisen zu trainieren. Damit die Menschen wieder Selbstbewusstsein erlangen, damit sie nicht nur abwarten, bis etwas über sie hereinbricht.

Sie werden vorübergehend - bis zum 2. Dezember - im Bundestag sitzen. Kann man daraus schließen, dass Sie auch bei der Bundestagswahl an diesem Tag kandidieren wollen?

Erst einmal sage ich, was ich nicht möchte: Ich möchte nicht wieder in der Kirche arbeiten. Das habe ich 30 Jahre lang getan, und nun will ich etwas ganz anderes machen. Das könnte sein Abgeordneter im Bundestag, da hätte ich schon Interesse. Zunächst bin ich für den Landtag Sachsen-Anhalt nominiert.

Aber meine Leidenschaft ist im Grunde die Bildungsarbeit mit Erwachsenen, weil ich dabei schöpferisch sein kann. Da kann ich mit den Leuten nachdenken und die Ergebnisse in Handlungen umsetzen. Das ist ein Trainingsfeld für gesellschaftliches Verhalten. Ich locke unheimlich gern aus den Menschen die Erkenntnis heraus, dass sie kompetent sind. Also wenn wir übel Architektur reden, sollen die Leute begreifen, dass sie als Wohnende in den Gebäuden eigentlich genauso kompetent sind wie die Architekten, die zu wissen glauben, was die Menschen brauchen. Aber sie selbst wissen wirklich, was sie brauchen. Solche Erlebnisse zu vermitteln, die Leute dazu bringen, sich selbst zu entdecken, war immer meine Leidenschaft.

Einmal vorausgesetzt, Sie bleiben in der Politik - schreckt Sie nicht ein wenig die Vorstellung, vielleicht wieder in der Opposition zu sitzen? Welches Verhältnis haben Sie zu der Möglichkeit, selbst Macht auszuüben?

Ich war einmal ganz kurze Zeit mehrheitsfähig mit meiner Meinung. Als hier in Berlin die Demonstration am 4. November stattfand, hatten wir in Magdeburg auch so eine Veranstaltung. Da habe ich geredet. Ich habe kaum einen Satz zu Ende bekommen. Immer wieder zustimmende Zwischenrufe und Dakapo. Da habe ich gespürt, dass ich genau die Stimmung der Mehrheit traf. Das war sehr schnell vorbei, aber für einen Moment war es so, und ich habe darüber nachgedacht: Passt du dich nun der veränderten Lage an, oder bleibst du bei dem, was du denkst? Und nachdem ich mich entschlossen hatte, bei dem zu bleiben, was ich denke, da ging es mir wieder gut. Und von daher macht mir die ständige Opposition im Grunde nichts aus.

Interview:
WOLFGANG HÜBNER
und UWE STEMMLER

Neues Deutschland, Mi. 10.09.1990

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