Leben in der ostelbischen Restrepublik

Buchschmerzen mit dem Staatsvertrag / Prof. Jens Reich: "Kohl hat uns an der Leine, ohne Verantwortung zu haben"

Prof. Jens Reich begründete in der ersten Lesung die Ablehnung des Staatsvertrages durch die Fraktion Bündnis 90/Grüne. Die Redakteure Oliver Schirg und Hendrik Thalheim sprachen mit dem Promi der Opposition über deren aktuelle Positionen zum ersten formalen Schritt der deutschen Einigung.

Heute wird in der Volkskammer über den Staatsvertrag zwischen der BRD und der DDR entschieden. Welche Änderungen gab es am Vertragstest seit der ersten Lesung?

Ich habe nicht den Eindruck, dass sich am Wortlaut irgendetwas geändert hat. Und wenn, dann kommen vielleicht ein paar andere Formulierungen in irgendwelche Anhänge oder Zusatzbriefe.

Worin liegen denn die prinzipiellen Einwände?

Das ist kein Vertrag zwischen gleichen Partnern, das ist ein Vertrag, der praktisch unsere Verfassungshoheit aufhebt. Lesen Sie sich den Text durch! Da steht immer: Die DDR übernimmt dies, verpflichtet sich zu dem, führt das ein, setzt jenes außer Kraft. Und die Bundesrepublik? Die gibt Geld. Nicht wenig, aber in genau abgemessenem Umfang. Ihre Hoheit jedoch bleibt unangetastet.

Mithin ist die DDR ab 1. Juli ein Staats-Torso?

Wir sind nur noch eingeschränkt handlungsfähig. Es ist ja nicht auszuschließen, dass sich die internationale Absicherung des Einigungsprozesses verzögert. Und dann stehen wir da, ohne hinreichende Souveränität, mit der halben Mark, die wir nicht drucken, wo wir nicht mal in den Zentralbankrat rein dürfen. Kein DDR-Vertreter in Bundesrat, Bundesregierung, Parlament der BRD. Dort wird aber entschieden, welche Kredite wir aufnehmen, inwieweit wir das Volksvermögen zum Sanieren oder zum Schuldenbezahlen einsetzen dürfen.

Welche Alternativen zum Staatsvertrag würden Sie denn sehen?

Dafür ist es zu spät. Mit diesem halbkolonialen Vertrag hat uns Kohl an der Leine, aber er ist nicht verantwortlich für das, was uns nun hier bevorsteht. Wir sind für einen sinnvollen Vereinigungsprozess ohne Verzögerung. Die Alternative wäre ein Sanierungskonzept gewesen, das die DDR-Wirtschaft befähigt, sich aus Ihren eigenen Reserven und mit Krediten wieder in Gang zu setzen. Doch im Vertrag wird an einer einzigen Stelle nur gesagt, dass die Struktursanierung vom Volkseigentum finanziert werden soll. Und nichts von Unterstützung. Ich habe Sorge, dass das Geld, was da ist, ausgegeben werden muss, um überall die krachenden Dämme zu stopfen und die sozialen Folgen abzufangen, und nicht, um hier Strukturveränderungen einzuleiten.

Lässt sich die von Kohl in Gang gesetzte Vereinigungsmaschinerie anhalten?

Die Meinung ist verbreitet, dass das zum Chaos führen könnte. Sie überwiegt auch bei der SPD, in Ost und West. Ich halte das für hasenherzig. Die Äußerungen von Lafontaine waren unter diesem Aspekt richtig, und ich bedaure, dass sich die SPD-West nicht aufraffen konnte, das wirklich im harten Poker durchzusetzen.

Und die SPD-Ost?

Ich sie hätten zum Beispiel in der Frage des Volkseigentums, des Grund und Bodens einfach den Stock ins Rad stecken müssen. Unser Vermögen ist Billionen wert. Des kann man nicht einfach so in einer Nebenklausel weggeben.

Ein Kollege Ihrer Fraktion sagte mal, angesichts des Zeltdrucks und der starren Mehrheiten könnte er eigentlich bis November Urlaub machen. Wie sehen Sie die Opposition in der Volkskammer?

Die Opposition ist quantitativ klein. Nur ein Viertel ist nicht in der Regierung. Und mit der PDS verbindet uns kein Block, nichts. Gelegentlich mal das gleiche Abstimmungsverhalten.

Welche Rolle kann dann die Opposition überhaupt spielen?

Im Augenblick nur die, dass sie vor den Folgen gewarnt und sich dagegengestemmt hat. Ich weiß nicht genau, wie viel Arbeitslose es geben wird, wie schlecht die Rentner da stehen werden oder wie die Preise kommen. Vielleicht sind die Folgen auch abzumindern. Aber wenn man nicht weiß, wie die Zukunft wird, muss man nicht unbedingt seine Handlungsfähigkeit abgeben.

Die Gefahr, nur auf den eigenen, deutschen Bauchnabel zu schauen, liegt nahe in diesen Zeiten . . .

Wenn ich 50 Jahre weiterdenke, interessiert mich die Umtauschrate oder irgend etwas anderes von dem, was uns jetzt beschäftigt, nicht mehr so sehr. Dann muss ich sagen, dass diese Form der Industriegesellschaft mit der Ausgrenzung von drei Vierteln der Menschheit, mit der Missachtung der ökologischen Gefahren eine Schlittenpartie ist, die letzten Endes an einem Felsen landet.

Wie sieht Ihr Gegenmodell aus?

Ich antworte mal in Stichworten: eine freie Gesellschaft; also nicht der Parteienstaat des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern eine größere Freiheit der politischen Beweglichkeit des einzelnen; Durchsichtigkeit in politischen Entscheidungen, in der Besetzung von Stellen; eine wohldefinierte Liberalität der Ordnungsmacht; Schutz und Rechte von Minderheiten.

Hat dieses Modell eine Chance?

Ja, es wird eine breite Minderheit in der Bevölkerung geben, die diese Zukunftsaufgaben der Menschheit als Hauptaufgaben auch für Deutschland begreift.

Unter diesem Aspekt können Sie auch mit dem Gedanken und der Tatsache leben, dass Sie wieder zur Minderheit gehören?

Wir werden vielleicht an gesamtdeutschen Wahlen gar nicht teilnehmen. Ich sehe keinen Sinn darin, bei dieser Parteiendemokratie mitzumachen, wenn man keine Partei ist und sich diesem ganzen Fraktionskonzept verweigert. Neue Konzepte müssen aus Minderheiten hervorgehen. Es sind immer nur ein paar, die eine gute Idee haben und das Vorgeschlagene beharrlich durchsetzen.

Im Parlament aber können Sie die Finger auf die Wunden legen, über die die anderen einfach schnell hinweggehen wollen.

Ja, das ist schon wichtig. Aber auch außerparlamentarisch lässt sich einiges erreichen. Nur statt 50 Studenten müssten eben 5 000 Mahnwache halten. Aber da sollte es nicht nur ums Geld gehen, sondern mehr darum, den alten Muff auszukehren. Neue Ideen, neuen Schwung in die Universitäten zu bringen. Was wir brauchen, ist nicht das Klagelied des untergehenden Wolfes, sondern sich zusammenreißen und wirklich mit hineingehen in die sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Man braucht also fighting power.

Wie sollen die DDR-Bürger eine solche Kraft entwickeln in der täglichen Jagd nach der D-Mark?

Ich könnte mir vorstellen, dass unsere Bevölkerung nicht mitmacht, wenn Gesundheitswesen oder Sozialhilfe geopfert werden sollen. Ich denke, wir bekommen vielleicht gerade durch den Staatsvertrag so etwas wie ein Gefühl der Gemeinsamkeit. Dass wir sozusagen als Ostelbische Restrepublik hier zusammengehören - die Sardinier und Sizilianer halten ja auch zusammen.

Solch Engagement setzt individuelle Selbsterkenntnis voraus. Steht dem nicht entgegen, dass sich doch recht viele Menschen hier ihrer Geschichte schnell entledigen wollen?

Wir sind nicht nach schwarz und weiß, noch Schafen und Böcken gesondert. Es gibt alle Grauschattierungen, auch bei uns. Die, die wirklich knallhart dagegen waren, sind eliminiert worden, in den Knast gekommen. Alle anderen haben sich arrangiert, sich adaptiert. Sicher, in unterschiedlichem Maße. Je weiter oben, desto höher auch die Verantwortung. Man versucht doch jetzt, wie es in der Bibel steht, dass der Bock in die Wüste getrieben wird und alle Sünden mit sich nimmt. Und alle anderen sind sauber. So kann man sich von seiner Vergangenheit nicht befreien. Jeder, auch ich, muss viel ernster darüber nach denken.

Angesichts dieser Situation, was sollte in die entstehende Republik Deutschland von der DDR eingebracht werden?

Unsere Selbstbestimmung Die Erfahrung, dass es möglich gewesen ist, mit friedlichen Mitteln, einfach durch Willensanstrengungen eines überwiegenden Teils der Bevölkerung, ein verrottetes Kommandosystem abzuschütteln. Wir wissen, wie es ist, wenn man unten sitzt, dreckige Luft atmet. Das gibt uns die Verpflichtung auf, nicht zu vergessen, sondern zu wissen, dass es noch sehr viele Menschen in genau derselben Lage gibt.

Diese Menschen wohnen zum Teil in Osteuropa . . .

Wir verstehen uns mit den Tschechen, Polen, Ungarn, Russen bis in jede Andeutung, vielleicht nicht ohne Dolmetscher. Wir wissen, was Schule ist, was Geheimdienst ist, was Duckmäusertum ist. Ich kann mich mit einem Russen besser verständigen als mit einem Westdeutschen, weil dieser d a s nicht erlebt hat. Dies dürfen wir nicht vergessen und die Mauer nun ostwärts schieben.

Wie soll Deutschland in Europa aussehen?

Es soll unbewaffnet sein, es soll aufhören, anderen dreinzureden, es soll gastfreundlich und friedliebend sein, und es soll sich nicht abschotten in seinem Reichtum.

Junge Welt, Do. 21.06.1990

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