Kolumne

DDR-Identität?

Von Prof. JENS REICH

Neulich fand auf dem Berliner Alexanderplatz eine Demonstration gegen die Wahlgesetzgebung statt. Alle oppositionellen Gruppen hatten aufgerufen, aber gefüllt war der große Platz hauptsächlich durch die Anhänger der PDS. Gregor Gysi eröffnete die Rednerliste, indem er die Versammelten begrüßte als Bürger und Bürgerinnen der Deutschen Demokratischen Republik. Prasselnder Beifall. Da ist die klare, ungebrochene DDR-Identität. Sie hält sich an Gysi und Modrow und würde gern den zweiten deutschen Staat wiederherstellen. "Demokratischer Sozialismus" ist das Zauberwort, das hier noch die Pulse schlagen lässt, und die Reihen schließen sich in der Abneigung gegen „den Kapitalismus", der uns jetzt übergeholfen wird. Ich bin immer wieder beeindruckt von der emotionalen Geschlossenheit und möchte meinen, dass sie im linken Politgefüge die letzten sind, die Politik über Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln imstande sind. Gerade dass sie im Begriff sind, als Underdogs ausgegrenzt zu werden, kittet ihre Gemeinschaft zusammen. Ob sie Zukunft haben, wird aber auch davon abhängen, ob sie neue Konzepte anbringen.

Die Mehrheit der Bevölkerung steht eindeutig dagegen. Sie wollen nichts wissen von der trotzig-störrischen Rotfrontbegeisterung; sie haben Modrow akzeptiert, solange Bonn ihn als Übergangsfigur estimierte, und wollen nichts mehr von der DDR wissen. Appelliert jemand an die alte Identität, dann gehen sie sofort auf die Gegenposition und rechnen ihm die Unerträglichkeiten des muffigen DDR-Gefühls vor, zeigen also ihre über Jahrzehnte gewachsene Nicht-Identität. Dabei ging es in den vier Jahrzehnten durchaus hegelsch-dialektisch zu mit diesem Begriffspaar Identität-Nichtidentität. Sporterfolge der DDR stärkten das kollektive In-Group-Gefühl, und der Neid auf die protzenden Neckermann-Wessis auf dem ungarischen Campingplatz hatte etwas von verklemmter, negativer, aber doch realer Identität.

Hier kommt nun ein völlig neuartiges Selbstgefühl dazu. Die DDR-Identität nach dem Tode der DDR. Eine Identität, die ihren Zusammenbruch bejaht, auch die deutsche Einigung bejaht, aber gegen unsere zweite Objektwerdung revoltiert. Das Merkwürdige an der Trotzidentität, die man dagegen entwickelt, ist, dass die Argumente und Vorwürfe anerkannt werden: Laienspielschar, unfähige Bürokratie und Misswirtschaft. Die DDR bricht auseinander wie ein aufs Riff gefahrenes Schiff, und wir sehen auch keinen an deren Ausweg, den man irgendwann seit dem 9. 11. hätte einschlagen können. Jeder Strukturwandel hätte den automatischen Widerstand der verrotteten Strukturen hervorgerufen, den man nur mit Gewalt hätte brechen können, und wir hatten ja gerade eine gewaltfreie Revolution (mit guten Gründen!) gewählt. Trotzdem: Der Umschlag von der gönnerhaften Achtung für die tolle Leistung, die Politbürokratie abgeschafft zu haben, in die Bevormundung, nun aber gefälligst das Steuer abzugeben, wo der eigentliche Könner an Bord gekommen ist, erzeugt in den meisten von uns ein Gefühl, das aus ohnmächtiger Resignation und störrischem Neinsagen gemischt ist. Es hat Ähnlichkeit mit dem bockigen Selbstbewusstsein der Iren gegen die Engländer. Und ist im Grunde ähnlich ziellos, rein negativ, verneinend, ohne festen Gegenwillen. Der Unterschied ist, dass die Iren ihr grünes Irland haben, während unsere DDR weg ist, weder ein geographischer Begriff noch eine geschichtliche Realität. Weder Landschaft noch Staat.

Unsere Identität klebt am Nicht-Existierenden. Ich bin auch überzeugt, dass das neu erstandene landsmannschaftliche Bewusstsein, das sich in grün-weißen Sachsenfahnen oder stolz geknödeltem Platt äußert, die Leerstelle nur zeitweise und teilweise ausfüllen kann. Identität, die sich aus etwas nicht mehr Existierendest nährt, dessen Dahinscheiden man noch dazu mitverursacht und begrüßt hat, ist eine sehr irrationale und wohl auch gefährliche Sache. Sie ist zugewiesen, ähnlich wie die blauen Briefe, die viele, wenn nicht die meisten unter uns erhalten werden. Seit Jahrzehnten wusstest du, dass es so wie im Betrieb nicht weitergehen kann, dass zu viele Nichtstuer da sind, dass die Bestimmenden unfähig sind und ihre Autorität nur über politische Macht erhalten. Jetzt ist es so weit, und es trifft ausgerechnet dich selbst. Du sollst bescheiden den Kopf senken und vor dem Arbeitsamt Schlange stehen. Oder demütige Bewerbungsschreiben verschicken. Du sollst warten, wie sie über deine Wohnung, dein Grundstück, dein Haus entscheiden. Und wann die Talsohle durchschritten ist und du wieder zugelassen wirst, vorausgesetzt, du bist unter 40 und möglichst ein Mann.

Wenn du mehr oder weniger energisch protestierst, dann halten sie dir vor, dass du nichts von Marktwirtschaft verstehst. Und dass du keinen Unternehmergeist aufbringst, sondern passiv als sozialistisches Schaf verharrst, bis du in die Sozialfürsorge absackst.

Das brüchig-zornige Ex-DDR-Abwehrbewusstsein, zu dem wir jetzt veranlasst werden, muss einmünden in eine Art gesamtdeutsches alternatives Bewusstsein. Die Einigung hat uns neue Verbündete gebracht - wir müssen uns allerdings kennenlernen und eine gemeinsame Sprache finden.

Des Autor, von Beruf Molekularbiologe, ist Mitbegründer des Neuen Forums und gehört der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne an

Neues Deutschland, Sa. 29.09.1990

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